Bild: Dutzende trauernde Menschen auf dem Place de la République am 15. November 2015 (geschossen von: Mstyslav Chernov)

Der Terror von Paris – und warum Krieg die falsche Antwort ist

Die Anschläge von Paris verlangen eine sicherheitspolitische Neubesinnung. Wer dabei aber eindimensional auf den Krieg setzt, spielt das Spiel des Terrors mit und stärkt letztendlich den Terrorismus mehr, als er ihn schwächt.

    Zusammenfassung: Die Anschläge von Paris verlangen eine sicherheitspolitische Neubesinnung. Wer dabei aber eindimensional auf den Krieg setzt, spielt das Spiel des Terrors mit und stärkt letztendlich den Terrorismus mehr, als er ihn schwächt. Eine wahrhaftige Sicherheitspolitik muss stattdessen den Blick nach innen richten: auf die Tragfähigkeit der eigenen Wertegrundlagen und den Zusammenhalt der Gesellschaft.

    Die ewige Wiederkehr des Gleichen: Krieg als Reaktion auf Terror Die schrecklichen Pariser Terrorakte vom 13. November 2015, denen nahezu 130 wahllos erschossene, über­wiegend junge und durchweg unschuldige Menschen zum Opfer fielen, gelten bereits jetzt als Zäsur für die fran­zösische und europäische Sicherheitspolitik – zurecht. Aber nur dann, wenn aus ihnen die richtigen sicherheitspoli­tischen Schlüsse gezogen werden. Das Reaktionsmuster, das sich in den ersten Tagen nach den Anschlägen her­ausbildet, weist indes nicht in eine solche Richtung – sondern wiederholt ein Schema, das bereits von den Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA bekannt ist: Es wird der Krieg gegen den Terror ausgerufen. Nicht nur betonen der französische Präsident François Hollande und sein Premierminister Manuel Valls: „Ja, wir sind im Krieg“, auch der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck spricht von einer „neuen Art von Krieg“; der französische Oppositionsführer und Ex-Präsident Nicolas Sarkozy fordert gar einen „Krieg, der total sein muss“.

    Wer dem „IS“ den Krieg erklärt, stärkt seine Macht Gleich aus mehreren Gründen, von denen kein einziger pazifistisch motiviert ist, erscheint diese Reaktion verfehlt. Der erste Grund ist, dass die Rede vom Krieg im Kontext von Terror auf einem Kategorienfehler beruht, der mit ge­fährlichen, ja geradezu kontra-intentionalen Folgen verbunden ist: Denn die Kategorie des Krieges lässt sich sinnvoll nur anwenden auf eine Auseinandersetzung von gleichberechtigten Gegnern, die sich auf Augenhöhe begegnen[1]. Mit Bezug auf den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) bedeutet dies aber, dass man dem Gegner paradoxer­weise gerade dadurch, dass man ihn als Kriegsgegner anspricht und ihm auf diese Weise eine grundsätzliche „Kriegsfähigkeit“ zuspricht, eine Anerkennung wirklich zukommen lässt, die er bis dato nur virtuell aus dem eige­nen Anspruch heraus proklamieren konnte. Wer als Staat dem „IS“ den Krieg erklärt, erweist ihm also einen sehn­lich erwünschten Dienst: Er erkennt von außen de facto eine Staatlichkeit an, die er selbst von innen mangels jegli­cher Legitimation, auf die sich eine echte Staatsgründung stützen müsste, de jure niemals hätte erlangen können. Mehr noch: Wer dem sogenannten „Islamischen Staat“ den Status eines Kriegsgegners zuweist, bestätigt seine Stellung als (nunmehr sogar vom Gegner anerkannter) Gegeninstanz zum westlichen Lebens- und Gesellschafts­modell. Gerade darin, in dieser bislang nur selbstüberheblichen Inszenierung des „IS“ als eines nicht nur losen oder ideellen, sondern institutionalisierten und realen Gegenpols zum verhassten Westen besteht aber seine ei­gentliche Attraktivität und Machtbasis[2] – auch gegenüber dem konkurrierenden Terrornetzwerk Al-Qaida, das ge­nau diesen Status einer quasi-staatlichen Institution nie erringen konnte und nicht zuletzt deshalb seine Führungs­rolle an den „IS“ abgeben musste. Wer dem „IS“ den Krieg erklärt, stärkt also seine eigentliche Machtbasis, die wie jede wirkliche Macht nicht primär militärischer, sondern politischer Natur ist und im Kern auf innerer und äuße­rer Anerkennung beruht[3]. Umgekehrt gilt dann: Wer den „IS“ bekämpfen will, muss ihn entzaubern – und das bedeu­tet, die Mechanismen seiner falschen Anerkennung anzugreifen. Statt ihn als vermeintlichen Kriegsgegner zu erhöhen, sollte er als das behandelt werden, was er ist: als eine aus den Trümmern des Irak künstlich konstru­ierte, hochkriminelle Organisation, die weder islamisch noch staatlich ist, sondern sowohl die Religion als auch die politischen Verhältnisse vor Ort schamlos zu eigenen Zwecken instrumentalisiert.  

    Die List des Terrors: Warum Terroristen auf die Hilfe ihrer Opfer angewiesen sind Die unbesonnene Rede vom Krieg gegen den Terror leistet dem gegenüber das Gegenteil: Sie verwirklicht am Ende die Intentionen derjenigen, die für den Anschlag verantwortlich sind, und bringt damit die Logik des Terrors überhaupt erst zur Entfaltung. Denn die Logik des Terrorismus baut ja systematisch auf die tätige Mithilfe seiner Opfer: Wer zum Mittel des Terrors greift, tut dies deshalb, weil er eben nicht in der Lage ist, seinen Gegner flächendeckend und im Ganzen anzugreifen; der Terror – der genau aus diesem Grund vom Be­griff des Krieges ab­gegrenzt werden muss – kann immer nur einzelne punktuell treffen. Sein Prinzip – und damit sein Erfolg oder Misserfolg – beruht darauf, dass die solcherart Angegriffenen aufgrund ihrer eigenen Reaktion die nur punktuellen direkten Effekte des Terrors allererst zu einer flächendeckenden Wirkung vervielfältigen. Der Terror nutzt mangels eigener Möglichkeiten seine eigenen Opfer als Multiplikatoren, er macht sie zynischerweise unter der Hand gleich­sam zu Vollzugsorganen des terroristischen Werks – und lässt es sie im perfidesten Fall noch nicht einmal merken. So etwa im Falle des Terror­anschlags von 9/11, der aktuell oftmals als Vergleichsgröße für die Geschehnisse von Paris herangezogen wird: Der eigentliche terroristische Effekt und sein trauriger Erfolg bestanden entgegen land­läufiger Überzeugung nicht in den Flugzeuganschlägen auf das World-Trade-Center und das Pentagon-Gebäude selbst – so unbestritten grau­enhaft und verabscheuungswürdig diese auch schon als isoliert betrachtete Einzelta­ten sind: Diese direkten An­schlagsaktionen waren wie bei allen originär terroristischen Akten vielmehr nur die Initiierung einer terroristischen Folgenkette, die von den Angegriffenen selbst in Gang gesetzt wurde und das Gift des Terrors erst im Nachgang zu einer Flächenkontamination verbreitet hat – mit der Folge, dass im Ergebnis nicht weniger, sondern mehr Terro­rismus in die Welt gekommen ist und nunmehr auf den Westen zurückschlägt. Die List des Terrors – in perfider Analogie zu Hegels List der Vernunft – besteht darin, dass der provozierte Krieg gegen den Terror in Wirklichkeit das heimliche Vehikel ist, aus dem der Terror seine Wirkmacht schöpft.

    Die militärische Bekämpfung des „IS“ ist begründet – aber nicht als Vergeltung Bedeutet dies, dass es grundsätzlich falsch ist, den „IS“ militärisch anzugreifen? Keineswegs. Tatsächlich gibt es aus ethischer Sicht einen guten Grund, ja vielleicht sogar eine moralische Verpflichtung, einer Organisation, die die Verge­waltigung, Ermordung und systematische Ausrottung von Menschen nach ethnischen, religiösen oder weltan­schaulichen Kriterien zu einem unmittelbar intendierten Ziel ihres Handelns erhebt, auch mit Gewaltmitteln Einhalt zu gebieten. Nicht der Waffeneinsatz an sich ist hier das Problem – problematisch ist nur, wenn er aus den falschen Gründen geschieht: So sind die zwei Tage nach den Pariser Anschlägen erfolgten Angriffe französischer Kampfflugzeuge auf Ziele in der „IS“-Hochburg Rakka deshalb fragwürdig, weil sie auch medienwirksam zu Vergel­tungsakten für die Pariser Attentate stilisiert wur­den. Damit – als Vergeltungsakte, die Gleiches mit Gleichem heimzahlen und dem Terror auf Augenhöhe begegnen – reihen sie sich aber genau in die Logik der Terroristen ein: In diesem Begründungskontext bewirken sie bei geringfügiger militärischer Schwächung eine ungleich höhere politische Stärkung des „IS“ – sie nehmen das perfide Spiel des Terrors auf, statt es in die Leere laufen zu lassen.

    Die unverantwortliche Rede vom „totalen Krieg“: Wie man die Freiheit zu Tode verteidigt Noch mehr erliegt der List des Terrorismus, wer die schlichtweg verantwortungslose Rede vom „totalen Krieg“ (Sarkozy), der „unbarm­herzig“ bzw. „gnadenlos“ (Hollande) geführt werden müsse, im Munde führt: Selbst wenn man den besonderen Klang, den dieser Begriff in der geschichtssensibilisierten deutschen Wahrnehmung erzeugt, außer Rechnung stellt, steht unzweifel­haft fest, dass der „totale Krieg“ niemals Instrument einer freiheitlich-humanistischen Welt sein kann – er bedeutet vielmehr ihre Preisgabe. Ein Krieg, der im Namen der Freiheit und Menschlichkeit geführt wird, kann – soweit er überhaupt möglich ist – in keinem Fall ein totaler, sondern allenfalls ein relativer sein. Der totale Krieg setzt den to­talen, den absoluten Feind voraus – eine Konstruktion, die abgesehen von ihrer Unverträglichkeit mit völkerrechtli­chen Bestimmungen in einem diametralen Gegensatz zu einer freiheitli­chen Werteordnung steht. Die offene, freie und darin humanistische Gesellschaft agiert gerade nicht aus dem Geist des Totalen, jenes Geschwisters des Totalitären.

    Menschenwürde: Warum auch die, die Bestialisches tun, nicht als Bestien zu behandeln sind Die wahrhaft freie Welt kennt überhaupt nur ein einziges Prinzip, dem sie tatsächlich eine „totale“, unbedingte Geltung zuweist, das über jegliche Relativierung erhaben ist: Das ist das Prinzip der unverrechenbaren Menschen­würde[4], die jeder einzelnen Person zukommt – auch dem Terroristen. Dieses Prinzip, das aus guten Gründen auch der Charta der Vereinten Nationen zugrunde liegt, schließt die Idee des totalen Feindes ebenso aus wie die Hal­tung absoluter Gnadenlosigkeit: Es gebietet vielmehr, auch denjenigen, der anderen Bestia­lisches angetan hat, selbst niemals als Bestie, als entmenschlichtes Wesen, sondern immer noch als würdige Per­son zu behandeln. Das Prinzip der Menschenwürde ist damit kein Schönwetterprinzip, das sich für moralisch beseelte Sonntagsreden eignet: Gerade in Fällen abscheulicher Verbrechen, wie sie die Pariser Anschläge ohne jeden Zweifel darstellen, kann seine Beachtung eine emotionale Zumutung bedeuten, die gerade aus der Opfer­perspektive unerträglich scheinen mag – und doch ist seine Aufrechterhaltung unabdingbar. Diese Spannung aushalten zu können und auch im Angesicht des Schreckens unbeirrt am Grundprinzip aller Humanität festzuhalten, ist der Gradmesser für eine wirklich freie und menschliche Gesellschaft. Wer an diesem Prinzip rüttelt, bekämpft jedenfalls nicht die Feinde der offenen und humanen Gesellschaft – sondern stellt sich diesen zur Seite. Die größte Erfüllung aller terroristischen Träume ist genau dies: Die unmenschliche Gnadenlosigkeit des eigenen Tuns zur Handlungsgrundlage derjenigen zu machen, die vorgeben, sie zu bekämpfen.

    Freiheit oder Sicherheit? Eine falsch gestellte Alternative Welche Folgen sind aber hieraus zu ziehen? Bleibt damit nur übrig, dass der Westen als zahnloser Tiger vor den Terroristen sicherheitspolitisch kapituliert? Müssen wir akzeptieren, dass wir unser Ideal von Freiheit, Offenheit und Humanität nur beibehalten können, wenn wir die Sicherheit preisgeben und uns der Terrorgefahr ergeben? Keineswegs. Die in diesen Tagen viel beschworene Unverträglichkeit von Freiheit und Sicherheit verdankt sich vielmehr einem frag­würdigen, aber kaum je hinterfragten Vorverständnis dessen, was denn eigentlich Sicherheit sei und wie diese er­reicht werden könne. So wird in der ganzen Debatte durchgehend ein Sicherheitsbegriff vertre­ten, der nur auf eine äußerliche, durch polizeiliche, militärische und geheimdienstliche Aktivität erreichbare Sicher­heit abzielt. Selbst das, was gemeinhin unter „innerer“ Sicherheit (als Gegenstand der Innenpolitik) verstanden wird, bewegt sich doch immer nur im Denkschema einer solchen „äußeren“ Sicherheit. Dabei läge der Schlüssel zu einer effektiven, nachhaltigen und ins Zentrum vorstoßenden Lösung des terrorbedingten Sicherheitsproblems – und es gibt ja in der Tat ein solches –, gerade in einer wahrhaft verstandenen „inneren“ Sicherheit: einer Sicher­heit, die auf der Ebene von Werthaltungen und gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnissen angesiedelt ist. Wer Sicherheit will, muss demnach gegen die ideelle Verunsicherung vorgehen, die Menschen in die Fänge terroristi­scher Organisati­onen treibt: Denn Terror und die Bereitschaft, sich zum Werkzeug desselben zu machen, gründen in innerer Heimatlosigkeit und Entwurzelung, in einem Gefühl verweigerter Anerkennung, das sich dann in radika­len, einfa­chen und gerade deswegen inneren Halt versprechenden Ersatzideologien Kompensation verschafft.

    Sicherheitspolitik als Bildungspolitik: Unerlässlichkeit eines gesellschaftlichen Wertediskurses Das bedeutet zweierlei: Zum einen muss in den westlichen Gesellschaften ein Wertediskurs stattfinden, der ge­eignet ist, die Grundlagen des freiheitlichen Werteverständnisses, die Chancen und Risiken einer offenen Gesell­schaft bewusst zu machen, aber gegebenenfalls auch in Frage zu stellen. Die Zukunftsfähigkeit des freiheitlichen Lebensmodells hängt jedenfalls nicht an der Frage seiner äußerlichen militärischen Stärke, sondern an der Frage seiner in­neren Überzeugungskraft und des Orientierungsangebots, das es seinen Anhängern macht. Die schlei­chende, viel zu lange vernachlässigte Erosion die­ser Überzeugungs- und Orientierungskraft ist die vielleicht größte Quelle von Unsicherheit, die die westlichen Gesellschaften derzeit bedroht – eine Einbruchstelle, die hochintelli­gente und zudem medial hochprofessionelle extremistische Organisationen erkannt haben und an der sie gezielt angreifen. Ein solcher kritischer und selbstkritischer Wertediskurs, der alles andere als eine „softe“ Angelegenheit ist, setzt allerdings Bildung voraus – eine Bildung als Ori­entierungs- und Reflexionskompetenz, die entgegen dem aktuellen Bildungsverständnis über eine bloße Ausbil­dung hinausgehen muss. Wahre Sicherheitspolitik ist daher zum ersten wahre Bildungspolitik.

    Integrationspolitik als Sicherheitspolitik: Die Wurzel der europäischen Bedrohung liegt nicht in Syrien, sondern in den europäischen Vorstädten Das Gefühl der Heimatlosigkeit, das gerade junge Menschen in die Fänge des Extremismus treibt, hat zugleich eine gesellschaftliche Dimension: Eine rich­tig verstandene Sicherheitspolitik muss sich daher gegen gesellschaftli­che Abkoppelungseffekte richten und sich um Integration diejenigen bemühen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Die Pariser Anschläge vom 13. November ha­ben diesen Zusammenhang von Desintegration und Extre­mismus erneut gezeigt: Die Attentäter waren junge Franzosen und Belgier, alle entstammen sozialen Brennpunk­ten wie dem Brüsseler Migrantenbezirk Molenbeek. Hier legt sich der Schluss nahe, dass die Ideologie des „IS“, in deren Namen die Anschläge verübt wurden, nicht die Ursache für ihr Abgleiten in den Terror war, sondern nur das geeignete, im Prinzip aber austauschbare Instrument, das sozial abgekoppelten Menschen das Gefühl einer ver­meintlichen (Selbst‑)Wertigkeit und Zugehö­rigkeit vermittelt hat. Sicherheit – auch gegen Terrorismus – herzustel­len bedeutet daher, die Desintegration der Gesellschaft zu bekämpfen, d. h. entkoppelte Gruppen wieder in gesell­schaftliche Anerkennungsverhältnisse ein­zubeziehen. Gelingt dies nicht, wird die Quelle der Bedrohung nicht be­seitigt, selbst wenn ein militärischer Sieg über den „IS“ gelingen sollte: Denn dann wird ein neues Vehikel die fort­dauernd bestehende Verunsicherung auf­nehmen und am Ende erneut gewaltsam gegen die Gesellschaft richten. Das in der Terrorismusdrohung liegende ernst­hafte Sicherheitsproblem Frankreichs und Europas liegt daher weni­ger im syrischen Rakka oder irakischen Mossul, sondern es ist viel näher: Es wurzelt in den Banlieues[5] und Vorstädten der europäischen Metropolen. Wahre Sicherheitspolitik ist daher zum zweiten integrative Gesell­schaftspolitik.[6] Die jetzt fällige Zäsur in der Sicherheitspolitik sollte aus einer Erweiterung der Sicherheitsperspektive auf diese Be­reiche der Bildung und der Gesellschaftspolitik bestehen – mit der Blickrichtung nach innen, in den Kernbestand der eigenen Gesellschaft und Kultur. Eine solche Wendung der Perspektive ­macht eine herkömmliche, auf äußeren Schutz zie­lende Sicherheitspolitik keineswegs obsolet, weist ihr aber den richtigen Platz an: als äußere (wenngleich notwendige und unerlässliche) Flankierung jener wahrhaft inneren Sicherheit, die zugleich die Grundlage jeder stabilen Gesellschaft ist. Die Fokussierung und Verengung auf den Krieg, die sich angesichts der Drohung und der Realität des Terrors derzeit vollzieht, ist dem gegenüber zu verstehen als Versuch, die Problemperspektive in mög­lichst weite Ferne zu verweisen: Das Sicherheitsrisiko, das in einer solchen Verschiebung liegt, besteht darin, den Blick vor den inneren Verwerfungen der eigenen Gesellschaft zu verschließen. Sie ist zugleich die bequemere Al­ternative, die die An­strengung der kritischen Selbstreflexion vermeidet – der einfache Weg, der mit verschlosse­nen Augen gangbar ist. Aber direkt vor diesen verschlossenen Augen wächst vielleicht ein Unheil, das eines Tages erneut und erstarkt aus dem Schoße der eigenen Gesellschaft hervorbrechen wird. Besser, wir besinnen uns und schauen ihm ins Gesicht. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt hierfür gekommen.  

    [1] Dies ergibt sich bereits aus Clausewitz‘ Bestimmung des Krieges als eines „erweiterten Zweikampfes“ nach dem Muster zweier Ringer: Der Krieg setzt zwar nicht notwendig eine Gleichheit der Stärke zwischen den Kombattanten voraus, wohl aber einen gleichartigen Status und gemeinsamen Boden, auf dem sich beide bewegen; vgl. Carl v. Clausewitz, Vom Kriege. Berlin 1832.

    [2] Schon Carl Schmitt sieht gerade hierin – in der entschiedenen Freud-Feind-Bestimmung – ein konstitutives und lebensnotwendi­ges Element jeder politischen Institution. Die Profilierung des „IS“ als expliziten Feindes des Westens ist für diesen daher von elementarer Bedeutung – er bezieht seine eigentliche politische Identität aus dieser Feindbestimmung, die er daher um jeden Preis erhalten und herausstellen muss. Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen.

    [3] Vgl. Hannah Arendt, Macht und Gewalt. München 1970.

    [4] Das Prinzip der Menschenwürde, wie es von Immanuel Kant begründet wurde, baut gerade auf dem Gedanken auf, dass Menschen nur in ihrer Eigenschaft als Freiheitswesen – in ihrer Fähigkeit, selbstzweck­haft in der Welt in Erscheinung treten zu können – eine besondere, innere Würdigkeit zukommt. Das Prinzip der Menschenwürde daher ausgerechnet im Namen der Verteidigung der Freiheit einschränken oder aufgeben zu wollen, ist geradezu absurd: Freiheit und Menschenwürde sind innerlich zusammengehörig.

    [5] Von dieser gesellschaftspolitischen Perspektive aus lässt sich auch eine Antwort geben auf die in den letzten Tagen viel disku­tierte Frage, weshalb ausgerechnet Frankreich wiederholtes Ziel terroristischer Angriffe geworden sei: Die Antwort mag darin lie­gen, dass die französische Gesellschaft auch im Vergleich zur deutschen in besonders starker Weise klassifiziert ist, mit geringer Durchlässigkeit und Durchmischung zwischen den gesellschaftlichen Schichten und einer besonders hohen, generationen­übergreifenden Beständigkeit von Abkoppelungseffekten.

    [6] Hier – und nur hier – liegt der tatsächliche Verbindungspunkt zwischen den terroristischen Anschlägen von Paris und der De­batte um die Flüchtlingsströme in Europa: Wenn es nämlich nicht gelingt, die neu ankommenden Menschen in die europäischen Gesellschaften zu integrieren, besteht die Gefahr, dass aus den Reihen dieser Menschen tatsächlich einmal ein Sicherheits­problem erwächst – aber nicht, weil sie als Terroristen aus ihren Heimatländern eingewandert sind, sondern weil sie es als aus­gegrenzte Menschen in ihren Ankunftsländern erst geworden sind.