Für ein Leben in Würde

Wie medica mondiale Überlebende sexualisierter Gewalt in Kriegs- und Nachkriegsgebieten unterstützt.

    "Frauen und Mädchen leben in einer Welt ohne Gewalt, sie leben in Würde und Gerechtigkeit." - So lautet die Vision der Kölner Frauenrechts- und Hilfsorganisation medica mondiale.

    Das Thema Menschenwürde spielt also eine zentrale Rolle für unsere Arbeit. Eine Arbeit, bei der es um die Wiederherstellung von Würde für Frauen und Mädchen geht, die sexualisierte Kriegsgewalt überlebt haben. Dabei meint Wiederherstellung nicht, dass die Überlebenden zu irgendeinem Zeitpunkt ihre Würde verloren hätten. Wiederherstellung bezieht sich vielmehr darauf, dass die erlittene Verletzung mit Hilfe unserer Arbeit und unserer Hilfsangebote vielleicht geheilt wird – wenn sie auch nicht rückgängig oder wieder gut gemacht werden kann. Oftmals empfinden es allerdings auch die Frauen selbst so, als hätten sie durch das überlebte Verbrechen ihre Würde verloren; nicht zuletzt deshalb, weil ihre nächsten Angehörigen und die Gesellschaft ihnen dies suggerieren.

    Mit der Gründung eines Frauentherapiezentrums in Zenica, Bosnien, begann im April 1993 unsere Arbeit als Reaktion auf die Massenvergewaltigungen an bosnischen Frauen. Auch heute, 21 Jahre später, werden unsere Kolleginnen in den Projektländern und wir immer noch mit denselben schrecklichen Verbrechen gegen Frauen und Mädchen konfrontiert, wie damals in Bosnien. Aus Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda oder Liberia erreichen uns täglich Nachrichten von brutalen Vergewaltigungen und anderen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen.

    Ein konkretes Beispiel: In ihrer Rede anlässlich des internationalen Frauentags am 8. März 2014 nennt die liberianische Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf für die Jahre 2012 und 2013 2493 Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen. 58 Prozent davon sind Vergewaltigungen, von denen wiederum 92 Prozent an Kindern im Alter von drei Monaten bis zu 17 Jahren begangen wurden. Alleine in den ersten sechs Monaten des Jahres 2013 haben vier Krankenhäuser in der Hauptstadt Monrovia 814 Vergewaltigungsfälle behandelt, von denen 95 Prozent Kinder waren.

    Zwar sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen, weil die Dunkelziffer der nicht angezeigten Vergewaltigungen, insbesondere denen an erwachsenen Frauen, enorm hoch ist.

    Aber die Zahlen zeigen trotzdem eines: Dass wir es mit einem weit verbreiteten Verbrechen zu tun haben. Einem Verbrechen, das nicht nur an Frauen und Mädchen, sondern auch an Männern und Jungen begangen wird.

    Was hat Menschenwürde mit unserer Arbeit zu tun?

    Vergewaltigungen sind Kapitalverbrechen, die unabhängig davon, ob sie in Krieg oder Frieden begangen wurden, mit hohen Strafen belegt sind. Und das aus gutem Grund: In besonderem Maße verletzen sie die Würde des Opfers. Dabei findet die Würdeverletzung zunächst einmal dadurch statt, dass das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, die sexualisierte Gewalt überlebt haben, verletzt wird. Durch die Vergewaltigung wird der Frau das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper und die Freiheit, sich gegen die Bemächtigung ihres Körpers durch den Mann zu entscheiden, geraubt.

    Aber das ist nicht alles. Die Konsequenzen, die sich aus der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts und dem Verlust der Entscheidungsfreiheit ergeben, stellen wiederum Würdeverletzungen dar. Überdies leiden die Frauen, die wir mit unserer Arbeit unterstützen, meist unter starken körperlichen Schmerzen und seelischen Verletzungen, die sie durch die sexualisierte Gewalt davon tragen. Verletzungen, die manchmal jahrelang, manchmal ein Leben lang nicht heilen.

    Zu dem durch die Vergewaltigung erlittenen Unrecht kommt in den meisten Fällen noch ein weiteres hinzu. Brechen die Frauen das Schweigen über das, was ihnen angetan wurde, werden sie oftmals von ihren Familien und Ehemännern verstoßen und aus ihrer Gemeinschaft ausgegrenzt. Sie werden also mit ihrem Leid alleine gelassen und für das Unrecht, dass sie erlebt haben, auch noch bestraft. Einmal aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen, stehen sie meist ohne ein Einkommen, ohne ein Dach über dem Kopf und oftmals – als Folge der Vergewaltigungen – mit kleinen Kindern da und sind völlig auf sich alleine gestellt.

    Neben körperliches und seelisches Leid tritt dann auch noch die reale Bedrohung ihrer Existenz.

    Gefangen in einer unlösbaren Situation

    Die Frauen befinden sich also in einem Dilemma: Schweigen sie, vergeben sie die Chance, dass ihnen geholfen wird und die Täter bestraft werden. Brechen sie das Schweigen, drohen ihnen die benannten Konsequenzen. Sie tragen also auch die Bürde, in einer unauflösbaren Situation gefangen zu sein, alleine.

    Doch selbst, wenn die Frauen den Mut aufbringen und das gesellschaftliche Tabu brechen, und selbst, wenn sie dabei Hilfe erfahren, können sie nur in den seltensten Fällen damit rechnen, dass die Täter vor einem Gericht angeklagt und auch bestraft werden. In den Nachkriegsländern, in denen medica mondiale tätig ist, gibt es keine funktionierenden Polizei- und Gerichtsstrukturen. PolizistInnen und RichterInnen sind oftmals korrupt und lassen sich vom Täter und seinen Verwandten gegen ein Bestechungsgeld gerne davon überzeugen, dass der Täter unschuldig ist und keine Strafe verdient hat. Das fällt den meist männlichen Polizisten und Richtern nicht einmal besonders schwer. Denn als Kinder ihrer Gesellschaft teilen sie nicht selten die Vorstellung der Täter, dass Vergewaltigungen keine Verbrechen, sondern lediglich Kavaliersdelikte sind. Auch die in den meisten unserer Projektländern vorhandenen Gesetze, die Vergewaltigungen als Verbrechen normieren, helfen dann dem mangelnden Unrechtsbewusstsein nicht auf die Sprünge.

    Nicht selten sind es sogar diese Autoritätspersonen, die ihre Machtstellung und das Vertrauen der Frauen und ihre Hoffnung auf Unterstützung ausnutzen und sie erneut vergewaltigen und demütigen, wenn sie die Tat zur Anzeige bringen.

    Die Würde dieser Frauen und Mädchen wird also nicht nur durch die Tat verletzt, sondern auch dadurch, dass das vom Täter begangene Unrecht auf sie übergeht und die Gesellschaft ihnen die Anerkennung ihres Leids verweigert. Viel schlimmer noch: Sie werden erneut zum Opfer gemacht.

    Überlebende ganzheitlich unterstützen

    Aufgrund dieser für die Frauen unerträglichen Situation wurde uns eines sehr schnell klar: Es würde nicht reichen, die meist schwer traumatisierten Frauen und Mädchen angemessen medizinisch zu versorgen, um eine Verbesserung ihrer Lebenssituation zu erreichen und das erlittene Unrecht zumindest ansatzweise wieder gut zu machen.

    Daher entwickelte medica mondiale bereits in den Anfängen ihrer Arbeit in Bosnien einen ganzheitlichen Unterstützungsansatz. Das bedeutet, dass die Frauen einerseits direkte Hilfsangebote, wie gynäkologische Behandlung, psychosoziale Hilfe, Rechtsberatungsowie Kleingewerbeförderungenin Anspruch nehmen können. Andererseits setzten sich die Mitarbeiterinnen dafür ein, dass durch politische Lobbyarbeit und gesellschaftliche Aufklärung Frauen-diskriminierende Strukturen abgebaut und sexualisierte Gewalt nachhaltig bekämpft wird.

    Die präventive Arbeit ist dabei umso wichtiger, als Vergewaltigungen weder ein Kriegs- noch ein neuzeitliches Phänomen, sondern ein Jahrtausende altes Verbrechen sind. Ein Verbrechen, das durch strukturell verankerte Gewalt gegen Frauen in Vorkriegsgesellschaften begangen wird und in Kriegszeiten seinen brutalen Höhepunkt erreicht. Bleiben die Verbrechen ungesühnt und das Problem weiterhin ein Tabu, wird die geschlechtsspezifische Gewalt in den Nachkriegsgesellschaften fortgeführt. Die Gewaltspirale dreht sich also weiter und droht irgendwann wieder zu eskalieren, die Traumata werden in die nächsten Generationen weiter gegeben.

    Zurück nach Liberia. Dort unterstützen geschulte Beraterinnen Überlebende dabei, ihre traumatischen Kriegserlebnisse zu verarbeiten und so neue Lebensperspektiven zu entwickeln. Außerdem können sich die Frauen in einem Handwerk ausbilden lassen und so ihren Lebensunterhalt verdienen. Neben dieser direkten Unterstützung betreibt das von medica mondiale aufgebaute Frauenprojekt medica mondiale Liberia Präventionsarbeit und gesellschaftliche Aufklärung in den Gemeinden. Die Mitarbeiterinnen bauen SOS-Schutzgruppen in den Dörfern auf, um Frauen sofort zu helfen, wenn sie vergewaltigt wurden oder andere Formen von Gewalt erlebt haben.

    Um Frauen-diskriminierende Strukturen langfristig abzubauen, engagiert sich medica mondiale Liberia politisch und kooperiert mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, um Einfluss auf die Gesetzgebung der liberianischen Regierung auszuüben.

    Mit Hilfe dokumentierter Fallgeschichten und Hintergrundanalysen setzt medica mondiale sich auch gegenüber der deutschen Politik dafür ein, dass die Bundesregierung ihre entwicklungs- und außenpolitischen Leitlinien dahingehend ausrichtet, dass Frauen und Mädchen in Liberia und anderen Projektländern geholfen wird.

    Das von uns entwickelte ganzheitliche Prinzip stellt also nicht nur einen praxisorientierten Arbeitsansatz dar, sondern definiert auch unser Verständnis von Menschenwürde: Damit Frauen und Mädchen in Würde leben können, reicht es nicht aus, dass sie frei von Gewalt leben. Nein, damit sie in Würde leben können, braucht es die grundsätzliche Anerkennung ihrer Menschenrechte und die gesellschaftliche Anerkennung des ihnen angetanen Unrechts.