Gutes Leben & selbstbestimmte Wahl

    Anhand welcher Merkmale lässt sich bestimmen, ob wir ein gutes Leben führen? Bei vielen philosophischen Fragestellungen stehen sich als Antwort auf diese Frage Ansichten gegenüber, die mit dem Etikett „subjektivistisch“ oder „objektivistisch“ belegt werden; so auch in der Debatte um das gute Leben.

    Subjektivisten weisen Wünschen, Begierden und anderen Wollenszuständen die entscheidende Rolle bei der Bestimmung des guten Lebens zu: Wir führen dann ein gutes Leben, einfach wenn wir tun dürfen, was wir tun wollen. Für den Objektivisten stehen dagegen alle möglichen Arten von „Gütern“ im Vordergrund: Wir führen dann ein gutes Leben, wenn wir gesund bleiben, unsere Freundschaften pflegen, einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen, uns moralisch anständig verhalten und so fort.

    Das Standard-Argument gegen Wollens-Theorien verweist darauf, dass bestimmte Dinge, sie mögen auch noch so sehr gewollt werden, ihrem Empfänger kein gutes Leben verschaffen können: Der sich mit Alkohol bewusst zugrunde richtende Edel-Clochard scheint ein eher trauriges Leben zu führen. Das Standard-Argument gegen Güter-Theorien stört sich an deren quasi-autoritativen Charakter: Darf ich nicht selbst entscheiden, was mein Leben gut macht? Und gibt es nicht unübersichtlich viele Weisen, ein gutes Leben zu führen, so dass bereits die Vorstellung absurd ist, hierzu ließen sich für alle verbindliche Festlegungen treffen?

    Nun begegnet die jeweilige Gegenseite derlei Argumenten in der Regel einfach dadurch, dass sie Stärken der Mitbewerber in ihre Ansicht mit aufnimmt: Wollens-Theorien statten ihr Wollen mit mehr Verbindlichkeit aus und versichern, dass nicht irgendwelche Wünsche den Ausschlag geben, sondern nur aufgeklärte und authentische, mithin wahrhaft frei gewählte. Umgekehrt legen sich Güter-Theorien ein weniger streng wirkendes Gesicht zu, indem sie ihre Güterbasis vergrößern – besteht am Ende nicht auch für unseren Edel-Clochard noch Hoffnung? – und gleichzeitig variabler gestalten: Nicht die Summe aller, sondern nur einige Güter müssen jeweils erworben werden, um ein gutes Leben zu führen; welche und wie viele – das darf jeder selbst wählen. Für beide Kandidaten gilt kurzum: Die selbstbestimmte Entscheidung macht’s.

    Sind jetzt aber beide Positionen nicht quasi ununterscheidbar miteinander verwoben? Wer hätte denn auch bestreiten wollen, dass unsere freie Entscheidung mit über Wohl oder Wehe unseres Lebens entscheidet? Entlarvt sich die zuvor so groß entworfene Konfrontation zwischen „Subjektivismus“ und „Objektivismus“ also mit ein wenig Nachdenken bereits als Sturm im Wasserglas?

    Nicht ganz. Denn die Rolle der freien Entscheidung fällt bei näherem Hinsehen doch deutlich verschieden aus. Wollens-Theorien setzen bei aller Authentizität, Auf- und Abgeklärtheit des Wünschenden auf die Güte schaffende Kraft seiner Entscheidung: Ohne Wunsch kein legitimes Gut. Güter-Theorien sehen in eben derselben Entscheidung lediglich das aktive Freilegen vorhandener Lebenspfade, deren Geeignetheit zum Beschreiten bereits vorab feststeht: Ohne Gut kein legitimer Wunsch.

    Dieser Unterschied setzt freilich voraus, dass sich auf Seiten der Wollens-Freunde eine aufgeklärte Entscheidung nicht als diejenige herausstellt, die auf ein unabhängig davon bestehendes Lebens-Gut ausgerichtet ist; und dass die Güter-Verteidiger ihre Basis an werthaltigen Lebensalternativen nicht so weit verbreitern, dass im Grunde jedwede Kombination an Lebenszielen gestattet wird und nur noch auf die erlösende Freigabe durch einen Entscheider harrt. Gegeben dieser Begrenzung im Theoriebau: Welche Ansicht hat die besseren Aussichten, unser Streben nach einem guten Leben korrekt wiederzugeben?

    Nach erfolgter Abwehr und Verstärkung ihrer Ansichten kommt es für beide Seiten nun darauf an, Lücken in der frisch installierten Verteidigung auszumachen. Güter-Theorien schicken noch einmal den Edel-Clochard ins Feld. Nehmen wir an, sagen sie, der Clochard ist sich im Klaren darüber, was sein Alkoholkonsum, so er einmal damit begonnen hat, mit ihm anrichten wird. Nehmen wir weiter an, dass seine vorherige Lebenssituation – Job, Frau und Kind verlor er durch Schicksalsschläge – ihm diesen Schritt als nur folgerichtig erscheinen lässt, als, sagen wir, letzte Anklage gegen das Wüten der Welt. Wollen wir wirklich sagen, so der Einwand, dass er ein gutes Leben führt?

    Wollens-Theorien antworten darauf mit dem Modell „Zahnloser Tiger“: Eine wirkliche Entscheidungsgewalt wollte die Güter-Seite implementieren, um der Monstrosität eines von außen aufgezwungenen, in engen Bahnen gesteckten Lebens zu entweichen, das in heutiger Zeit vieles genannt zu werden verdiente, aber bestimmt nicht „gut“. Aber siehe da: In der präsentierten Form habe der Auswahlmechanismus mehr Ähnlichkeit mit einem Würfelwurf denn mit einer von Überlegung getragenen Wahl: Wenn sich der Lebensentwurf des Einzelnen nur auf unterschiedslos Gutes richten könne, welchen besonderen Nutzen habe dann noch seine Entscheidung, und auf welcher Grundlage solle er sie noch treffen können? Die weitere Debatte ist umfangreich und komplex. Jedoch scheint mir die Frage nach dem guten Leben in der Tat eine höchstpersönliche Sache zu sein: Zum einen, weil wir, wenn wir vom „guten Leben“ sprechen, immer das gute Leben bestimmter Individuen meinen; zum zweiten, weil sich in ihr zumindest drei philosophische „Großfragen“ verschränkt finden, denen sich niemand entziehen kann: nach dem glücklichen Leben, nach dem moralisch richtigen Leben, nicht zuletzt auch nach dem sinnvollen Leben.

    Während bei allen drei Fragen die persönliche Entscheidung der Person eine wichtige Rolle spielt, werden korrekte Antworten darauf nicht alleine vom Individuum festgelegt: Was moralisch richtig ist, kann kein Gegenstand freier Wahl sein; ein sinnvolles Leben verlangt eines oder mehrere Ziele, wofür es sich tatsächlich anzustrengen lohnt; und selbst dasjenige, was uns glücklich macht, ist nicht einfach das, was sich gut anfühlt: Ein zu ausreichenden Teilen in wohligem Alkoholdunst eingelulltes Leben würden wir nicht als glücklich erachten. Also nicht auf’s Gefühl kommt’s an, und das Richtige & Lohnende – selbst wertbepackte Begriffe –bilden die Hintergrundfolie jeder gelungenen Entscheidung in ihrem Bereich. Das heißt nun freilich nicht, und hier kommen wir zum Einwand der Wollens-Fraktion, dass die individuelle Entscheidung entwertet wird. Was lohnend ist, was richtig und was glückswert, erreicht uns nicht als einheitliches Paket, was uns gestatten würde, der korrekten Antwort quasi kalkulatorisch zu Leibe zu rücken. Lohnenswerte Ziele können sich etwa dadurch auszeichnen, dass sie für andere nützlich sind; oder schöne Dinge hervorbringen; oder die Welt menschenfreundlicher gestalten. Und das moralisch Richtige zu tun meint nicht einfach, gerecht zu sein, sondern kann sich auch auf das Aufrichtigsein richten, ebenso wie auf die Großzügigkeit. Kurzum: Ein wahrer Schwarm an weiteren Werten bevölkert jeden Teilbereich des guten Lebens, und klare Hierarchien sucht man zwischen ihnen ebenso vergebens wie zwischen ihren „Eltern“ Sinn, Moral & Glück. Annehmen lässt sich lediglich, dass ein Leben, welches eine der drei Grundkategorien völlig außen vor lässt oder gar die ihnen entgegengesetzten Unwerte befördert – also das moralisch Falsche erstrebt, sinnlos oder unglücklich verläuft – nicht gut genannt werden kann. Deren genaues Verhältnis jedoch, und in welcher Weise dem Leben Sinn, Glück und moralisches Handeln abgewonnen werden – das bleibt jedem Einzelnen in weiten Teilen selbst überlassen. Seine Entscheidung muss sich dabei nicht im unterschiedslos Gleichen verlieren und dadurch selbst gleichgültig werden; vielmehr ergibt sich aus der realisierten Eigenheit der in den einzelnen Werten angebotenen Ziele eine je individuelle Mischung. Diese wird durch die innere Ausgestaltung des eigenen Willens etwa über charakterliche Eigenheiten, persönliche Wünsche, erworbene Fähigkeiten und von außen herangetragene Gelegenheiten noch weiter ergänzt.