Verantwortung in der Familie am Ende des Lebens

Der eigene Tod ist für uns Lebende kein Bestandteil des Alltags, sondern vielmehr das Gegenteil des Alltags, nämlich das Ende unserer Tage.

    Wenn er dann kommt, ist der Alltag zu Ende. Was aber im Alltag vorkommt, ist der Gedanke an den Tod, sowohl an den eigenen und den Tod anderer Menschen. Solche Gedanken sind tatsächlich bei vielen Menschen da und sie sind den meisten von uns vertraut. Es kann die Furcht vor dem Sterben sein, die Hoffnung, dass dieser Tod noch weit weg sei. Es kann die Angst sein, dass wir jäh getroffen werden vom Tod eines geliebten Menschen. Es kann der Wunsch sein, dass das Sterben für uns leicht sein wird, und vieles mehr. Wir fragen uns vielleicht, ob wir unter bestimmten Umständen sogar lieber sterben wollten als noch weitere medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, die uns zwar noch etwas Zeit verschaffen könnte aber auf Kosten der Lebensqualität. Wir stellen uns vor, unter welchen Umständen die gewonnene Zeit als lebenswert erscheint. Und wir denken vielleicht auch über unsere Haltung zu den ethischen Fragen der Sterbehilfe nach.

    Wenn man, wie es in den Debatten zur Sterbehilfe oft geschieht, von der Autonomie und Selbstbestimmung aus denkt, werden die Angehörigen oft übersehen. Aber wenn man Menschen selbst fragt, deren Leben zu Ende geht, sind für sie gerade ihre Angehörigen oft sehr wichtig. Sie sind wichtig für die Selbstbestimmung der Menschen, die ans eigene Sterben denken, nicht weil sie ihre Autonomie einengen, sondern weil ihnen ihr Wohl und ihre Verletzlichkeit selbst ein Anliegen ist. Eines der Motive, die sich in Sterbewünschen von terminal kranken Krebspatienten äußert, ist der Wunsch, Angehörigen nicht zu stark zur Last zu fallen. Dies war eine häufige Beobachtung, die wir im Rahmen einer qualitativen Interviewstudie mit Patientinnen und Patienten zum Thema Sterbewünsche am Lebensende in der Schweiz gemacht haben. Oder sie erzählten davon, dass andere Menschen sie jetzt nicht gehen lassen können. In den Interviews erzählten die Menschen sehr reichhaltig von ihren ethischen Überlegungen, die sie in ihren Wünschen im Bezug auf das eigene Sterben leiteten. Auch die Angehörigen, die einen geliebten Menschen verlieren werden, stellen sich ethische Überlegungen an.

    Wenn die Ethik der Entscheidungen am Lebensende nicht nur aus der Perspektive der Gesetzgebung oder aus der Perspektive der Ärzte, sondern durch den Blickwinkel der Betroffenen geführt wird, kommen die Angehörigen automatisch in den Fokus und werden zum Thema des philosophischen Nachdenkens. Die Sterbethematik verliert dann etwas von ihrem Charakter der Außeralltäglichkeit.

    Stellen Sie sich folgende Situation vor: Frau C. hat eine längere Geschichte mit Darmkrebs. Sie hat schon zwei Operationen hinter sich, jeweils gefolgt von Bestrahlung und Chemotherapie. Nun ist eine weitere Operation fällig. Sie möchte diese Operation nicht mehr. Sie findet, dass sie genug Geduld aufgebracht hat und nun auch genug gelitten hat. Denn die Chemotherapien waren für sie extrem belastend. Eine Aussicht, den Krebs für lange Zeit zurückzudrängen, besteht nicht. Die Ärzte erscheinen ihr aber sehr optimistisch und sprechen von einem Jahr oder mehr. Frau C. empfindet eine Verantwortung für ihre 19 und 21 Jahre alten Kinder, die nicht bereit sind, ihre Mutter gehen zu lassen. Selbst denkt sie, dass das Leben ihrer Kinder noch nicht in sicheren Bahnen verläuft und sie ihre Unterstützung brauchen. Für sich wäre sie aber bereit zu sterben. Sie hofft, die Therapie nicht auf sich nehmen zu müssen, überlegt sich aber, ob sie sich aus Rücksicht auf ihre Kinder und auf ihren Partner, mit dem sie in einer harmonischen Beziehung lebt, doch behandeln lassen soll. Die Entscheidung ist ihre eigene, das weiß sie. Aber sie kann sich und auch ihre Entscheidung nicht als getrennt von ihrer Familie sehen. Auch der Partner und die Kinder wissen das.

    Im wirklichen Leben wäre die Situation natürlich viel komplexer. Sie hätte weitere wichtige Aspekte, die in dieser kurzen Skizze ausgelassen sind, die aber durchaus ethisch relevant sein könnten. Es geht mir nicht darum, von außen zu beurteilen, wie Frau C. entscheiden sollte oder wer Recht hat. (Ich glaube überhaupt nicht, dass es eine ethische Theorie gibt, aus der sich die richtige Antwort darauf objektiv ableiten ließe.) Außerdem ist klar, dass es im Endeffekt Frau C. selbst sein soll, die das letzte Wort hat. Denn es ist ihr Leben, das betroffen ist. Die anderen müssen und werden das respektieren. Aber damit sind nicht alle Fragen beantwortet. Spannend wird es, wenn wir uns überlegen, wie wir das selbst sehen würden. – Aus der Perspektive von Frau C. gedacht, welches wären für uns, wenn wir Frau C. wären, die wichtigsten Aspekte, die in unseren Überlegungen eine Rolle spielen können oder sollten? Wenn wir aber an der Stelle des Partners, bzw. der Kinder wären, wie würden sich dann die Fragen überhaupt stellen? Wie sehen die Angehörigen die eigene Verantwortung der kranken Frau, die sich sorgend auf sie bezieht?

    Was denken Sie? 

     


     

    Bisherige Ergebnisse aus der Studie kann man nachlesen:

    Ohnsorge, K., Gudat, H., Rehmann-Sutter, C.: The intentions in wishes to die: analysis and a typology. A report of 30 qualitative case studies of terminally ill cancer patients in palliative care. Psycho-Oncology (2014), DOI: 10.1002/pon.3524 (open access).

    Ohnsorge, K., Gudat, H., Rehmann-Sutter, C.: What a wish to die can mean. Reasons, meanings and functions of wishes to die, reported from 30 qualitative case studies of terminally ill cancer patients in palliative care. BMC Palliative Care 2014, 13:38 (open access).

    Rehmann-Sutter, C.: Sterben als Teil des Lebens und als Handlungsraum. Ethische Überlegungen. In: Hajo Greif, Martin Gerhard Weiss (eds.): Ethics, Society, Politics. Proceedings of the 35th International Wittgenstein Symposium, Kirchberg am Wechsel, Austria, 2012. Berlin/Boston: DeGruyter Ontos 2013, S. 483-518.