Was ist Zeit, was ist Zukunft?

Für Newton und seine Zeitgenossen war Zeit noch etwas Absolutes und gleichförmig Fließendes. Diese Auffassung begann sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu ändern.

    Es erschienen literarische Werke, in denen Zeitreisen vorkamen, z.B. Wells Roman „Die Zeitmaschine“. Nun sind Zeitreisen nur vorstellbar, wenn man sich auch die Zeit als irgendwie raumhaft vorstellt, denn sonst könnte man in ihr nicht reisen. 1905 erschien dann Einsteins spezielle und 1915 seine allgemeine Relativitätstheorie.

    Die der Relativitätstheorie zugrundeliegende Mathematik beschreibt differentialgeometrisch die Zeit zusammen mit dem Raum als vierte Dimension. Doch wie lässt sich diese Vorstellung einer raumhaften Zeit in Einklang bringen mit unserer Alltagserfahrung in der Zeit „vergeht“, während der Raum eben nicht „vergeht“? Jegliche Mathematik beschreibt ausschließlich Konditionalverhältnisse, sie macht niemals Existenzialaussagen. Z.B. kann ich mir ausrechnen, wie mein Kontostand nach zehn Jahren mit Zins und Zinseszins wäre, hätte ich heute 10 Millionen Franken zu fünf Prozent angelegt. Aber leider … Existiert die raumhafte Zeit also in Wahrheit nicht und was bedeutet „Existieren“ in diesem Zusammenhang?

    Um es kurz und knapp auf den Punkt zu bringen: Die Welt besteht aus unzählbar vielen Konditionalverhältnissen, jedes Photon, jedes Elektron usw. hat einen Möglichkeits- bzw. Wahrscheinlichkeitshorizont, also eine ihm eigene Wahrscheinlichkeit, wie es mit etwas anderem wechselwirken könnte oder z.B. auch spontan in etwas anderes zerfallen könnte. Das ist die Zukunft des Teilchens. Wenn ein solches Ereignis dann tatsächlich eintritt, kollabieren die relevanten Konditionalverhältnisse (es entstehen dabei neue) zu einer Tatsache. Dieser Kollaps ist der zeitlose Moment, der die Zeit erzeugt, der sie sozusagen in die Existenz bringt. Das Universum hat unwiderruflich seinen Zustand geändert. Im Gegensatz zur zukünftigen Zeit, die nur Möglichkeiten enthält und so real gar nicht existiert, basiert die vergangene Zeit auf realen Ereignissen. So können wir auch sagen, dass Zukunft all dasjenige ist, was zwar möglich ist, aber noch keine Zeit erzeugt hat. Die Zukunft existiert real nicht, sondern nur imaginär als Antizipation von Möglichkeiten, die Gegenwart gibt es nicht und nur die Vergangenheit, die vergangene Zeit, ist in einem gewissen Sinne real existent, in dem alles, was sich real ereignet hat, sich uns als zeitliche Relation, als ein Netzwerk von kollabierten Möglichkeiten, darstellt. So ist die Zeit als Ganzes gesehen raumhaft, bezüglich ihrer Existenz „vergeht“ sie, unser alltägliches Zeitgefühl trügt uns also nicht. Diese quantenphysikalisch – philosophische Betrachtungsweise ist sehr leistungsfähig, wenn es darum geht, quantenphysikalische Phänomene mit dem natürlichen Verstand in Einklang zu bringen (z. B. das Doppelspaltexperiment oder die „spukhafte Fernwirkung“), aber ist sie damit nicht eine Philosophie ausschließlich für philosophisch interessierte Physiker oder Physik interessierte Philosophen?

    Keineswegs, sie stellt nämlich, wenn man die Sache in ihrer vollen Tiefe betrachtet, das „Cogito ergo sum“, also jenes Prinzip mit dem bekanntlich die philosophische Neuzeit begann, vom Kopf auf die Füße. Descartes und die Folgenden verstanden dieses Prinzip als kausale Begründung. Ich zweifle, bzw. ich denke, mithin bin ich. Nun aber wird dieses Prinzip als das genommen, was es in Wahrheit ist: als ein reines Konditionalverhältnis. Das neue Prinzip lautet: Ich bin, in dem ich denke oder wahrnehme. In der ersten Formulierung wird eine Substanz unterstellt, um deren Selbstvergewisserung in der Zeit es geht, ich bin zuerst und dann erkenne ich, dass ich bin. Die neue Formulierung kommt ohne diesen Substanzgedanken und ohne eine zeitliche Abfolge aus. Der Akt des Denkens oder Wahrnehmens erschafft überhaupt erst die Zeit, in der sich dieser Akt ereignet. Die konsequente Anwendung dieses Prinzips erlaubt es uns mit antiquierten Vorstellungen zu brechen, insbesondere unsere überkommenen Vorstellungen der Zeit und unser Bild vom dem was „Zukunft“ für uns bedeutet, sowie die Bedeutung der Begriffe „Existenz“ und „Substantialität“ weichen in radikaler Weise anderen Paradigmen. Daraus ergibt sich ein besseres Verhältnis der Philosophie gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, nicht nur denen der Quantenphysik und daraus wieder eine höhere Akzeptanz und ein größeres Interesse der Naturwissenschaft und der Öffentlichkeit an der Philosophie.