Befinden wir uns immer noch in einem Spiel?

Philosophische Aspekte in David Cronenbergs eXistenZ

Spätestens seit der Filmreihe Matrix wird unsere Realität vermehrt in einem anderen Licht gesehen: man bezweifelt sie. Nur wenige aber wissen, dass dieses Gedankenexperiment auf alten und neueren Thesen beruht und keinesfalls ein vollkommen neues Konstrukt ist.

    Spätestens seit der Filmreihe Matrix wird unsere Realität vermehrt in einem anderen Licht gesehen: man bezweifelt sie. Nur wenige aber wissen, dass dieses Gedankenexperiment auf alten und neueren Thesen beruht und keinesfalls ein vollkommen neues Konstrukt ist. Bereits Platon versuchte uns in seinem Höhlengleichnis [1] zu erklären, dass das, was wir sehen, lediglich Schatten seien und sich die Realität außerhalb der Höhle – ins Licht der Erkenntnis getaucht - befände. In Descartes Meditationen [2] kommt ein weiteres Element hinzu: vielleicht wird das, was wir sehen und empfinden, nur von einem Dämon hervorgerufen (sog. Dämon-Argument) und vielleicht träumen wir auch nur die ganze Zeit und nehmen nicht die Realität wahr (sog. Traum-Argument). Hilary Putnam entwarf diesbezüglich das Gedankenspiel der Brains in a vat [3]: vielleicht sind wir nichts anderes als Gehirne in einem Tank und bekommen lediglich Inputs eingespeist.

    Nun stellen Sie sich weiterhin vor, es wäre Ihnen in der Zukunft möglich, mittels eines Spielsystems in eine Spielwelt einzutauchen, in der sich alles real anfühlt und Sie irgendwann beginnen, die Realität in Frage zu stellen: „It’s just that I’m starting to feel a bit disconnected from my real life. […] I no longer know where my body really is, or where reality is […]“ [4]. Genau dies ist der Plot von eXistenZ – einem Film von David Cronenberg, der wohlgemerkt in genau demselben Jahr wie Matrix erschien. Nur geht man bei eXistenZ noch einen gewichtigen Schritt weiter: während man bei Matrix von lediglich zwei Realitätsebenen ausgeht und die Menschheit eigentlich nicht weiß, dass sie sich in einer Art Spielwelt befindet, bestehen bei eXistenZ mindestens vier dieser Realitätsebenen, denn selbst im Spiel kann man sich wissentlich in ein Spiel einloggen – nur die Grenzen verschwimmen etwas. Dies alles ist möglich mittels eines Bioports – der modernen Variante einer Einsteckbuchse, die direkt in die Wirbelsäule implantiert wird und sich mit dem Nervensystem verbindet. Einen Computerbildschirm benötigt man nicht mehr – es spielt sich alles im Kopf ab, während der Körper für den Betrachter zu schlafen scheint.

    Insgesamt gesehen bietet eXistenZ sehr viele philosophische Thematiken, von denen im Folgenden drei Aspekte als Diskussionsimpuls lediglich kurz angeschnitten werden: das Erschaffen einer Realität als anthropologische Antwort auf den göttlichen Schöpfungsgedanke (anthropologischer Aspekt), die Vermischung von Natürlichkeit und Künstlichkeit (metaethischer Aspekt) sowie die Fragestellung, ob und wie wir beweisen können, dass wir uns in der Realität und nicht in einer Spielwelt befinden – sprich ob wir lediglich Gehirne im Tank sind (epistemologischer Aspekt).

     

    Der epistemologische Aspekt

    Eine mögliche Antwort auf den epistemologischen Aspekt gibt einer der Hauptcharaktere – Ted Pikul – selbst: „I guess that’s something you might never find out [.]“ [5] und „Most people think that reality must of course be the most solid thing, but it frequently is not. Inner reality, emotional reality, imagined reality … all these are as plausible as external or objective reality.“ [6]. Ob man sich als Philosoph mit dieser Antwort tatsächlich zufrieden gibt, hängt selbstverständlich von den eigenen Denkansätzen ab – eine Überlegung lohnt sich.

     

    Der metaethische Aspekt

    Der metaethische Aspekt ist insbesondere für ethische Überlegungen von Bedeutung. Wenn Sie viele verschiedene natürliche Elemente miteinander verbinden und sie dann neu anordnen, ist das Endprodukt dann etwas Natürliches oder etwas Künstliches und wie sieht es aus, wenn dieses Endprodukt in einem Spiel erschaffen wird? Ein kleiner Protagonist in eXistenZ ist beispielsweise eine kleine Echse mit zwei Köpfen – ist sie künstlich, weil sie im Spiel auftaucht oder ist sie aus der Spielperspektive heraus gesehen doch natürlich? Kann sie sowohl künstlich als auch natürlich sein? Ähnliches gilt für das Gamepod, mit dem eXistenZ auf der scheinbar zweiten Realitätsebene gespielt wird. Es besteht aus geklonten befruchteten Amphibieneiern und synthetischen humanen DNA-Harzen und hat ein Eigenleben. Visuell erinnert es an eine Gebärmutter, in der sich ein Fötus räkelt inklusive einem Verbindungskabel für den Port (UmbyCord), das einer menschlichen Nabelschnur sehr ähnlich sieht. Wenn sie nun aus natürlichen Materialen besteht und ein Eigenleben hat – sie kann Schmerzen empfinden – ist sie dann etwas Natürliches oder doch etwas Künstliches? Um es auf die Spitze zu treiben: sind wir vielleicht nicht alle künstlich erschaffene Spielfiguren in einem Spiel und damit nichts Natürliches? Gibt es den Menschen als Teil der Natur überhaupt? – Auch hier lohnt sich eine Überlegung.

     

    Der anthropologische Aspekt

    Der letzte Aspekt betrifft den Schöpfungsgedanken, der in Form verschiedener Elemente immer wieder ins Auge fällt: Ted (‚Geschenk Gottes‘), die Trout Farm (der Fisch als Symbol des Christentums) sowie eXistenZ (‚isten‘ aus dem Ungarischen (‚Gott‘ oder ‚das höchste Wesen‘). Der Mensch erschafft gottesgleich eine Realität, in der er bestimmt, was geschieht. Er schafft sich eine Welt, die ihm gefällt und in der er sein Bedürfnis nach Kontrolle ausleben kann. Er kann Dinge tun, die er in der Realität entweder nicht tun kann oder tun darf. Die Gesetze werden ausgehebelt und durch neu geschaffene ersetzt. Dadurch wird der Mensch in die Lage versetzt, eine Macht über andere auszuüben, über die er in der Realität nie verfügen würde – gewissermaßen die Aushebelung des natürlichen survival of the fittest. Aber wie weit darf der Mensch hier gehen ohne einen zweiten Sündenfall zu erleben?

     

    Die philosophische Basis: Fragen bleiben

    Vielleicht werden Sie nun enttäuscht sein, wenn Sie keine Antworten auf die Fragen erhalten haben, die gestellt wurden und über die Sie sicher selbst bereits einmal nachgedacht haben. Aber genau darum geht es beim Philosophieren: das eigenständige Zweifeln am Gegebenen und der Diskurs. Das eigenständige Reflektieren auch über Dinge, die für uns selbstverständlich sind, sowie das gemeinsame Überlegen durch Denkimpulse – genau dafür ist philosophie.ch geschaffen worden.


    [1] Platon (2003): Der Staat, Düsseldorf: Artemis & Winkler.

    [2] Descartes, R. (2009): Meditationen, Hamburg: Meiner.

    [3] Putnam, H. (2008): Reason, truth and history, Cambridge: Cambridge University Press.

    [4] Priest, C. (1999): eXistenZ, New York: HarperCollinsPublishers, S. 162f.

    [5] Priest, C. (1999): eXistenZ, New York: HarperCollinsPublishers, S. 278.

    [6] Priest, C. (1999): eXistenZ, New York: HarperCollinsPublishers, S. 190.