Liebe ist „welthaftes Wirken“ und Verantwortung

„Gefühle werden ‚gehabt’; die Liebe geschieht. Gefühle wohnen im Menschen; aber der Mensch wohnt in seiner Liebe.“

    Begegne ich einem Menschen wirklich, also um der Begegnung als solcher willen oder verfolge ich mit der (scheinbaren) Begegnung einen bestimmten Zweck, im Rahmen dessen das Gegenüber für mich lediglich Mittel ist? Nehme ich den mir je Entgegentretenden als den wahr und an, der er tatsächlich ist – sprich als Anderen, den ich in seinem individuellen Sein vorurteilslos bejahe – oder füge ich ihn in (persönlich wie auch gesellschaftlich) vorgeprägte Muster, die anzeigen, wer er zu sein hat? Wo ist in diesem Kontext die Liebe zu verorten? Ist diese unter dem „Modus“ des zweckbasierten, meist distanziert kalkulierenden Umgangs überhaupt möglich? Und worum handelt es sich bei der Liebe eigentlich: um eine Emotion, die nur einem mir besonders wertvollen Menschen gebührt, oder doch um mehr oder gar etwas anderes? In unserer schnelllebigen, mitunter von Achtlosigkeit geprägten Zeit, in der der Andere nicht selten fremd erscheint, erweisen sich Fragen hinsichtlich einer gelingenden Ich-Du-Beziehung auf Augenhöhe als von besonderer existenzieller Relevanz. Wir versuchen, uns den Antworten auf diese Fragen aus dem Blickwinkel der Dialogischen Philosophie anzunähern.

    Um die Sicht dieser Denkrichtung auf Mensch und Welt zu begreifen, wollen wir uns zunächst kursorisch die von Martin Buber aufgezeigten beiden konträren Bezugsformen auf ein Gegenüber (und die Welt insgesamt) verdeutlichen, die in den einleitenden Fragen zu diesem Beitrag bereits angeklungen sind: Entweder befinde ich mich im Modus „Ich-Es“, das heißt, in einer eindimensionalen Subjekt-Objekt-Relation, in der ein bestimmter Zweck fokussiert wird; oder aber ich begegne auf der Ebene „Ich-Du“ und bin in intentionsfreier Wechselseitigkeit mit dem Anderen verbunden – dieser ist nun nicht (mehr) mein „Gegenstand“, sondern ausschließlich Du. Dialogphilosophisch gesehen, ist die erstgenannte Haltungsweise mit einem Monolog vergleichbar, die zweite, von ganzheitlicher Wahrnehmung geprägte dagegen charakterisiert die dialogische Beziehung. Beide Arten der Haltung bzw. des Umgangs haben ihre Berechtigung, da ich sowohl meine spezifisch menschliche „Aufgabe“ erfüllen sollte („Ich-Du“ – ich trete in Beziehung) als auch – in meist pragmatisch-funktionaler Manier – meinen Alltag zu bewältigen habe („Ich-Es“ – ich erfahre und gebrauche: ich analysiere, definiere, kategorisiere, verhandele, besitze, benutze etc.). Das eigentliche Primat liegt gleichwohl auf dem Modus „Ich-Du“, so ist zusammenzufassen: „[O]hne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch [denn er missachtet seine genuin menschlichen Möglichkeiten].“

    Was nun die Liebe anbelangt, so wird diese – wie auch die Sprache – aus der Perspektive der Dialogischen Philosophie als etwas betrachtet, das weder in mir noch in meinem Gegenüber (also dem je einzelnen Subjekt) „steckt“. Vielmehr konstituiert sich diese allererst (und Mal um Mal) im Moment der dialogischen Begegnung: „Gefühle werden ‚gehabt’; die Liebe geschieht. Gefühle wohnen im Menschen; aber der Mensch wohnt in seiner Liebe. Das ist keine Metapher, sondern die Wirklichkeit: die Liebe haftet dem Ich nicht an, so daß sie das Du nur zum ‚Inhalt’, zum Gegenstand hätte; sie ist zwischen Ich und Du.“ Demgemäß sind Gefühle wie zum Beispiel Freude, Trauer oder Schmerz in mir, das heißt, sie sind subjektiv. Die Liebe dagegen ereignet sich als (dynamisches) Beziehungsgeschehen zwischen (nicht in!) Ich und Du und verbindet gleich einem Band die beiden ebenbürtigen Pole der Beziehung; sie hat nichts mit einem (statischen, einseitigen) Besitzen des Anderen gemein. Im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung, ist der Wesensakt der Liebe nicht zwingend an Gefühle oder Erotik gekoppelt – er ist im Prinzip eine Form des Sprechens in oben skizziertem Sinne einer Haltung, die ich dem mir Begegnenden gegenüber einnehme: Keineswegs zwei sich emotional nahe stehenden Personen vorbehalten, kann die dialogische Liebe potenziell mit jedem meinen Weg kreuzenden Menschen erlebt werden – sofern ich diesen in besagter vorbehaltlos-uneigennütziger Weise annehme und er mir in ebendieser Haltung entgegentritt („antwortet“).

    Mag dieser unkonventionelle Ansatz erst einmal schwer nachvollziehbar sein und gar die Exklusivität der Liebe (etwa in Form der Paarbeziehung) in Frage stellen, so wird durch diese Sichtweise letztlich eine ganz neue Perspektive auf die ethische Dimension der Liebe eröffnet: „Liebe ist ein welthaftes Wirken. Wer in ihr steht, in ihr schaut, dem lösen sich Menschen aus ihrer Verflochtenheit ins Getriebe; Gute und Böse, Kluge und Törichte, Schöne und Häßliche, einer um den andern wird ihm wirklich und zum Du [...] – und so kann er wirken, kann helfen, heilen, erziehen, erheben, erlösen. Liebe ist Verantwortung eines Ich für ein Du [...].“ Es geht hier nicht (mehr) um die rational-analytische Differenzierung verschiedener (positiver oder negativer) Eigenschaften des Gegenüber noch um dessen Bewertung an sich – dies entspräche dem Modus „Ich-Es“! Die Besonderheit der dialogischen Liebe, die oben schon angedeutet wurde, besteht darin, dass sie die „Gleichheit [im Sinne der Gleichwertigkeit] aller Liebenden“ (an)erkennt. Das anzustrebende Ideal bestünde somit darin, „die Menschen zu lieben“ – auch jene, für die ich keine besondere Sympathie empfinde. Demnach kommt „die Gewalt der Liebesverantwortung“ vor allem in zwei Aspekten zum Ausdruck: Der in der Liebe „Stehende“ urteilt nicht mehr über den ihm Begegnenden – „der ‚Böse’, das ist nur eben der ihm zu tieferer Verantwortung Empfohlene, der Liebesbedürftigere“ – und er hat die Fremdheit gegenüber dem Anderen, ihm vielleicht Unbekannten, überwunden, wodurch er die Basis für die „Liebesverantwortung“ schafft: „Pflichtig und schuldig ist man nur dem Fremden: dem Vertrauten ist man geneigt und liebevoll.“

    Natürlich ist es keinem vergönnt, dauerhaft in der Liebe zu verharren, denn „[j]edem Du in der Welt ist seinem Wesen nach geboten, uns Ding zu werden oder doch immer wieder in die Dinghaftigkeit einzugehn“. Nichtsdestotrotz sollten wir uns im „es-haften“ Alltagstrott stets in dialogischer Offenheit und Aufmerksamkeit üben, um dem, der uns wahrhaft begegnen möchte, entsprechend zu „antworten“, auf dass die Liebesmomente in unserem Leben und der Welt sich mehren mögen.


    (Die Zitate sind entnommen aus: Buber, Martin: Ich und Du. Nachwort von Bernhard Casper. Stuttgart: Reclam, 2008, Erster Teil, S. 15 f., 34 sowie Dritter Teil, S. 94, 104).

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