„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“, meint Aristoteles. Beim Anblick der zwei Mäuse im obigen Bild dürften Tierschützer allerdings weniger Wertschätzung für den menschlichen Wissendrang hegen, verglichen mit wissenschaftlichen ForscherInnen. Aber was wissen wir eigentlich über den Job von Laborantenmäusen?
Der Themenblog „Ethik, Gesellschaft und Kultur“ reagiert auf die wachsende gesellschaftliche Bedeutung, die der philosophischen Reflexion in einer zunehmend unübersichtlichen Lebenswelt zukommt. Zwar gehören Ethik, Gesellschaft und Kultur seit jeher zum Kerngeschäft der Philosophie. Doch kann Aristoteles tatsächlich heutige Praktiken verständlich machen? Überdies lassen sich gegenwärtige Herausforderungen wie Tier- und Naturschutz, Klimawandel, globale Armut, Migration etc. nicht mehr allein rein wissenschaftlich bewältigen. Vielmehr erzeugt die steigende Relevanz neuer Forschungsresultate sowie technik- und wissenschaftsinduzierter Möglichkeiten selbst einen erhöhten Bedarf an fundamentaler Reflexion über deren theoretische und praktische Dimensionen.
Kurzum: Der Themenblog will zum einen Informationen zur Erschließung und Durchdringung ethischer, gesellschaftlicher und kultureller Strukturen und Transformationen liefern. Zum anderen stellt er begriffliche und argumentative Werkzeuge für eine fundierte Bewertung derselben bereit. Er erschließt sowohl ethische und anthropologische, ontologische und epistemologische als auch politische Aspekte moderner Gesellschaften, nicht zuletzt vor dem Hintergrund pluraler Wert- und Normenvorstellungen, demokratischer Entscheidungs- und Handlungsprozesse.
Was also genau erwartet Sie hier nebst Laborantenmäusen? Starten wir mit dem philosophischen Tagesgeschäft, der Begriffsklärung.
Ethik
Das Wort ‚Ethik‘ stammt vom altgriechischen ēthos ab, was ursprünglich so viel wie ‚Wohnort‘, oder ‚gewohnter Aufenthalt‘ bedeutet. Zudem haben sich zwei abstraktere Verwendungsweisen etabliert: zum einen als ‚Sitte‘, oder ‚Gewohnheit‘, also gepflogene Verhaltensweisen eines Kollektivs; zum anderen als ‚Denkweise‘, ‚Charakter‘, oder ‚Sinnesart‘, mithin Einstellungen von Einzelpersonen.
Häufig werden ‚Ethik‘ und ‚Moral‘ synonym verwendet. Das Wort ‚Moral‘ leitet sich vom lateinischen mos ab. Es bedeutet auf der kollektive Bedeutungsebene so viel wie ‚Sitte‘ oder ‚Gewohnheit‘, aber auch ‚Einrichtung‘ oder ‚Mode‘; auf der individuellen Ebene so viel wie ‚Denkweise‘ oder ‚Sinnesart‘, aber auch ‚Wesen‘ oder ‚Wille‘. Eine Unterscheidung der Wörter ‚Ethik‘ und ‚Moral‘ ist allerdings sinnvoll, will man klare und aufschlussreiche Definitionen:
Ethik ist die Wissenschaft von der Moral, d.h. diejenige Wissenschaft, deren Gegenstand die Moral ist und die sich damit befasst, welche Moralen es gibt, welche Begründungen sich für diese angeben lassen und welche Struktur und Funktion ihre Begriffe, Aussagen und Argumentationen besitzen. Unter Moral versteht man indes ein Normensystem, das menschliche Verhaltensweisen leitet und unbedingte Gültigkeit beansprucht.
Moral ist also ein Normensystem, während Ethik darüber reflektiert; ‚moralisch‘ referiert auf die Normenebene (‚sittlich‘), ‚ethisch‘ auf die Reflexionsebene (‚sittenwissenschaftlich‘).
Sie halten die Unterscheidung für eine philosophische Spitzfindigkeit, Wortspielerei im Elfenbeinturm? Was würde ein biologischer Wissenschaftler sagen, wenn Sie Mäuse mit dem Studium von Mäusen identifizieren, Gegenstand und Fachwissenschaft schlichtweg gleichsetzten? Vielleicht würde er Sie belächeln. Missverständnisse wären aber wohl vorprogrammiert, denn sie sprechen gar nicht über dieselben Dinge, kommunizieren zwar im weitesten Sinne, doch verstehen einander nicht. Indes ermöglicht sprachliche Klarheit einen gemeinsamen Zugang zum Verstehen.
Allerdings können auch Ethiker verschiedene Zugänge zu einem Gegenstand wählen. So unterscheidet man gewöhnlich zwischen Allgemeiner und Angewandter Ethik. Es kann nämlich sein, dass eine Moral vorwiegend in einem bestimmten Lebensbereich relevant wird, der genauer reflektiert werden soll. Man spricht dann je nach Bereich von Bereichsethik oder Angewandter Ethik (z.B. Wirtschafts-, Rechts-, Wissenschafts-, Bioethik). Bereichsspezifische Ethiken gelten als sehr praxisbezogen, da ihre Frage- und Problemstellungen konkreter an einen bestimmten Lebensbereich anschließen und wesentliche Erkenntnisse aus bestimmten Fachgebieten einfließen.
Demgegenüber umfasst die Allgemeine Ethik die Grundlagen Angewandter Ethiken. Ihr Schwerpunkt ist die Reflexion theoretischer Grundlagen (z.B. ethische Grundbegriffe). Diese Unterscheidung wird allerdings vielfach kritisiert. Denn einerseits sei Ethik immer praxisbezogen; andrerseits erfordere jede Ethik eine Klärung theoretischer Grundlagen. Gleichwohl ist durchaus einsichtig, dass sich etwa ein Biologe mehr den theoretischen Grundlagen widmet (z.B. Klassifikationssystemen) denn der konkreten Praxis (z.B. Artbestimmung, etwa bestimmter Mäusearten).
Die Allgemeine Ethik wird häufig in drei Ebenen der moralischen Reflexion unterteilt:
- Deskriptive Ethik (beschreibend): Welche Moralen gibt es?
- Normative Ethik (rechtfertigend): Wie lassen sich Moralen begründen?
- Metaethik (grundsätzlich): Welchen Status haben die moralischen Begriffe, Aussagen, Argumentationen ihrem Wesen und ihrer Logik nach?
Verbreitete und bis in die Gegenwart reichende Moraltheorien bzw. ethische Grundpositionen sind:
- Tugendethik: beurteilt primär die Motivation/Haltung/psychische Disposition, die einer Handlung zugrunde liegt
- Deontologische Ethik/Deontologie/Pflichtethik: beurteilt primär die Handlung an sich, relativ gleichgültig aus welchem Antrieb oder mit welchen Folgen
- Teleologische Ethik/Konsequenzialismus (z.B. Utilitarismus, Präferenzutilitarismus): beurteilt primär die Folgen einer Handlung
Bedeutende Autoren sind u.a.: Aristoteles, Platon, Thomas von Aquin, Philippa Foot, Alasdair MacIntyre, Rosalind Hursthouse, Martha Nussbaum, Immanuel Kant, John Rawls, Jürgen Habermas, Alan Gewirth, Christine Korsgaard, Jeremy Bentham, John Stuart Mill, Peter Singer, Dieter Birnbacher, Albert Schweitzer, Hans Jonas.
Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Beschäftigung mit der Angewandten Ethik deutlich zugenommen. Ethik tritt nicht mehr allein als akademische Bemühung um die Reflexion von Moraltheorien, Prinzipien, Begriffen und theoretischen Begründungsmöglichkeiten in Erscheinung. Warum? Spekulieren Sie mal über unsere Labormäuse: Wie steht es um die Grenzen der Verfügbarkeit über nichtmenschliches Leben? Wie steht es um moderne Tugenden und Pflichten? Lassen sich die Folgen und insbesondere Schäden moderner Handlungen überhaupt noch kontrollieren und uns damit nicht zuletzt auch verantwortungsvoll handeln?
Gesellschaft
Gesellschaft ist ein vieldeutiger sozialphilosophischer Begriff, der in seinem Bedeutungsumfang vom bloß räumlichen Beisammensein zweier Personen, die Gesamtheit aller zwischenmenschlichen Beziehungen bis hin zum Zusammenleben aller biologischen Wesen schlechthin reichen kann.
Die Sozialphilosophie thematisiert die normativen und begrifflichen Grundlagen des Zusammenlebens. Es geht ihr um die Klärung grundlegender Fragen wie beispielsweise:
- Was ist Gesellschaft?
- Welche Funktionen übernimmt die Gesellschaft?
- Wie lässt sich der gesellschaftliche Zusammenhalt beschreiben oder begründen (z.B. Gesellschaftsvertrag)?
- Welche Rolle spielen Freiheit, Macht, Ideologie und Kritik in einer Gesellschaft?
Auch in der Sozialphilosophie spielt Ethik häufig eine Rolle. Bereits seit der Antike beinhaltet das Ethos eines Menschen zwei wesentliche Aspekte, zwischen denen sich sozialphilosophische Fragestellungen bewegen. Das heißt zum einen, dass Menschen durch Erziehung daran gewöhnt werden, ihr Handeln an den allgemeinen Sitten der Polis auszurichten. Zum anderen handelt derjenige moralisch, der sich nicht darauf beschränkt, überlieferten Maßstäben gemäß zu handeln, sondern es sich selbst zur Gewohnheit macht, aus eigener Einsicht das erforderliche Gute zu tun.
So kann auch die Sozialethik als eigenständige Bereichsethik betrachtet werden, in der moralische Fragen zur Gesellschaft reflektiert werden. Im Gegensatz zur Individualethik stehen Fragen nach den Normen im sozialen Bereich im Vordergrund. Sie thematisiert den einzelnen als Teil einer Gesellschaft und dessen Handeln hinsichtlich des sozialen Zusammenhangs. Zu ihren grundlegenden Annahmen gehört, dass der Mensch ein soziales Wesen und für die Befriedigung seiner Bedürfnisse auf Formen kooperativen Zusammenlebens angewiesen ist.
Was aber ist mit unseren Laborantenmäusen? Spielen die Interessen anderer Lebewesen für und in unserer Gesellschaft gar keine Rolle? Sind Jobs für Labormäuse allenfalls eine Scheinkooperation? Normen von Wissenschaft und engagierten Tier- und Naturschützern stimmen jedenfalls nicht notwendigerweise überein und wecken Zweifel am gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Bekannte Autoren sind z.B.: Paul-Michel Foucault, Jean-Jacques Rousseau, Axel Honneth, Max Horkeimer, Judith Butler, Jean-Paul Sartre, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Jürgen Habermas.
Kultur
Der Begriff Kultur leitet sich vom lateinischen cultura bzw. colere her, was mit ‚bebauen‘ oder ‚pflegen‘ übersetzt werden kann. Im weitesten Sinne umfasst er alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur. Er erstreckt sich von der formenden Umgestaltung eines gegebenen Materials, etwa in der Technik oder Kunst, bis hin zu ideellen und geistigen Formungen und Leistungen wie Religion, Recht, Wissenschaft oder auch Moral.
Das Philosophieren über Kultur, das Reflektieren ihrer Bedingungen und Erscheinungsformen steht im Zentrum der Kulturphilosophie. Sie umfasst drei verschiedene Formen:
- materiale Kulturphilosophie: zielt primär auf eine inhaltliche Bestimmung der Funktion von Kulturen, z.B. zur Lösung von unterschiedlichen Problemen
- formale Kulturphilosophie: zielt primär auf abstrakte Merkmale zur Unterscheidung von Kultur- und Naturphänomenen zur Bestimmung eines Kulturbegriffs, z.B. durch die Kulturwissenschaften
- philosophische Kulturkritik: zielt primär auf ein Bewusstsein von Kultur überhaupt, z.B. durch Kritik der Unterscheidung von ‚natürlich‘ und ‚nicht natürlich‘ für das Selbstverständnis einer Gesellschaft
Auch für Kulturfragen gibt es eine bereichsspezifische Ethik, die Kulturethik. Das ist wenig verwunderlich: Der Begriff ‚Kultur‘ umfasst ein normatives System von Lebensformen und Verhaltensweisen, die in einer Kultur angemessen sind und ihre Entwicklung leitet. Er ist also selbst ein normativer Begriff. Neben der Problematik der Abgrenzung von Kultur und Natur werden vor allem Kulturkonflikte behandelt, aber auch materiale und ideelle Präsentationen und Leistungen (Kunst, Technik, Medien etc.). Ein konkretes Thema ist z.B. die Wahrnehmung kultureller Vielfalt, ohne einerseits auf Absolutheit oder ‚Natürlichkeit‘ des eigenen Standorts zu beharren und andererseits Vielfalt unkritisch und ohne Bemühen um verbindliche Wege der Verständigung zu zelebrieren.
Relevante Autoren sind u.a.: Jacques Derrida, Theodor Adorno, Ernst Cassirer, Friedrich Nietzsche, Paul-Michel Foucault, Jean-Jacques Rousseau, Georg Simmel, Arnold Gehlen, Walter Benjamin, Ralf Konersmann.
Zurück zu unseren Labormäusen: Auch sie werfen kulturphilosophische Fragen auf, z.B.: Wo liegt die Grenze zwischen Natur und Kultur beim wissenschaftlichen Experimentieren? Zweifelsohne tragen Mäuse natürlicherweise keine Drahtapparaturen auf ihren Köpfen; ein Labor ist sicherlich kein Teil ihrer natürlichen Umgebung. Und wie vermag Wissenschaft eigentlich Wahrheit über die Natur herausfinden, wenn Untersuchungsort und -objekt derart manipuliert werden, dass im Labor kaum mehr etwas von der Natur zu erkennen ist, die es eigentlich gerade zu entschlüsseln gilt?
Fazit: Obwohl unterschiedliche Problem- und Fragestellungen im Bereich Ethik, Gesellschaft und Kultur thematisiert werden, sind neben den theoretischen v.a. die gemeinsamen praktisch-normativen Dimensionen offensichtlich. Welche Werte und Normen brauchen z.B. Wissenschaft, Tier- und Naturschutz? Wurzelt Experimentieren in der menschlichen Natur oder in seiner Kultur? Tierexperimente sind nur ein, obschon ein gutes Beispiel dafür, dass Ethik, Gesellschaft und Kultur dicht beisammen liegen können. Doch sind existierende Probleme und Kontroversen nicht allein innerwissenschaftlich zu bewältigen. Und nicht einmal Aristoteles dürfte im Blick gehabt haben, dass sich Reichweite und Wesen moderner Handlungen selbst verändert haben. Gewiss ist nur eins: Von Natur aus benötigen Labormäuse jedenfalls keinen Job in der Forschung; nicht nur wegen der zweifelhaften Vergütung.
Welche der hier aufgeworfenen Fragen haben Sie sich bereits gestellt und was ist dabei herausgekommen? Schreiben Sie uns!
Lektürehinweise:
- „Ethics“, von James Fieser, The Internet Encyclopedia of Philosophy. Fieser, J. & Dowden, B. (Hg.), ISSN 2161-0002, URL = <http://www.iep.utm.edu/ethics/>.
- Aristoteles, Metaphysik; Ethik.
- Burkhard, F.-P. (Hg.) (2000): Kulturphilosophie. Freiburg: Alber.
- Düwell, M., Hübenthal, C. & Werner, M.H. (2011): Handbuch Ethik. 3. Auflage. Stuttgart: Metzler.
- Hübner, D. (2014): Einführung in die philosophische Ethik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Rehfus, W.D. (Hg.) (2003): Handwörterbuch Philosophie. 1. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [auch online: URL = <http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/>].
- „Was ist für Sie Philosophie?“, Kurzvortrag von Prof. em. Dr. Leist (Em. Professor für Allgemeine Ethik der UZH) sowie Prof. Dr. Schaber (Professur für Angewandte Ethik der UZH) am Philosophischen Seminar der UZH.