Zellen im Immunsystem der Gesellschaft

Der Aussteiger in sozialphilosophischer Perspektive

    «In one word, [he] was a skulker»i, schreibt Robert Louis Stevenson, Autor der Schatzinsel, über einen, der vielen sofort in den Sinn kommt, die den Begriff «Aussteiger»ii in den Mund nehmen: Henry David Thoreau (1817-1862) – für Stevenson schlicht ein Drückeberger. Ralph Waldo Emersons Einschätzung könnte nicht gegensätzlicher sein: Für ihn ist Thoreau eine Heldenikone des gesellschaftlichen Widerstands und Vorbild einer naturverbundenen, alternativen Lebensweise, die ihm ganz und gar entsprach: «He was bred to no profession, he never married, he lived alone; he never went to church; he never voted; he refused to pay a tax to the state; he ate no flesh, he drank no wine, he never knew the use of tobacco; and, though a naturalist, he used neither trap nor gun.»iii Es ist der starke Individualismus Thoreaus, der hieraus hervorsticht – und ihn zur Heldenfigur von Generationen von Alternativen gemacht hat. Heldenfigur deswegen, weil Thoreau es auch im Rahmen einer liberaleren Gesellschaft als anderswo weiter trieb als andere, weil er, wie man mit Niklas Luhmann sagen könnte, ein «stärker individualisiertes Individuum» war, das aktiv dafür sorgte, dass seine «selbstbestimmte Lebensführung nicht oder nur aus einsichtigen Gründen beeinträchtigt» wird.iv

     

    Aussteiger sind, so deuten Stevensons und Emersons Urteile es an, seit jeher stark diskutierte, in der Regel irgendwie auffällige Figuren. Und in der Tat lassen sich am Thema des Aussteigens viele philosophisch interessante Problemstellungen auffächern und beobachten. Nicht nur stellt sich zuallererst die Frage nach der Definition des modischen, recht jungenv und viel gebrauchten Begriffs, der in seiner Bedeutung mitunter unklar bleibt. Auch eröffnet uns das Phänomen des Ausstiegs eine sozialphilosophische Perspektive, die nicht nur die Diskussion um die Freiheitsräume des Einzelnen innerhalb von Gesellschaften und ein eventuelles Recht, jederzeit auszusteigen, miteinbezieht, sondern sogar bis zur Frage nach einer Ethik des Aussteigens reicht. Doch versuchen wir erstmal in aller Kürze verstehen, was «Aussteiger» eigentlich sind, wenngleich jeder – auch durch die Medien gefüttert – irgendeine Vorstellung davon hat. Schon bei Thoreau, dessen Hütte am Walden Pond nur etwa 45 Gehminuten von seinem Geburtsort Concord entfernt war, gibt es – trotzdessen er als Gottvater des Aussteigens gefeiert wird – Kritik und Zweifel an seinem ‘echten’ Aussteigertum.vi Er sei kein ‚richtiger’ Aussteiger, sondern «[e]her […] so etwas wie ein Feierabend-Eremit» gewesen. vii Aussteiger? Eremit? Gar Feierabend-Eremit? Sprechen wir hier von dem gleichen Phänomen? Ich denke nicht.

     

    Bringen wir also ein bisschen Licht ins Begriffswirrwarr: „Aussteiger“ bezeichnet nach meinem Dafürhalten solche Akteure, die von ihrer gesellschaftlichen Umgebung und ihrer eigenen gesellschaftlichen Rolle entfremdet sind, in der Folge zu sich abweichend verhaltenden, einen aktiven Selbstverwirklichungsakt vollziehenden Individuen werden, die sich aus gesellschaftlichen Bindungen lösen, um ein unangepasstes Leben nach ihren individuellen alternativen Vorstellungen zu führen.viii Was Aussteiger so von Eremiten unterscheidet, ist die fehlende religiöse Konnotation. Ein Eremit scheint nicht notwendig entfremdet zu sein, sondern seine Handlungsleitung an einem höheren religiösen Ideal auszurichten. Ideale haben freilich beide, was die Kultivierung eines Alternativen bei Aussteigern grundiert – doch Entfremdung, manchmal gar regelrechter Ekel vor einem konventionellen gesellschaftlichen Leben findet sich vornehmlich bei jenen, die Aussteiger genannt werden, nämlich als Triebfeder für eine selbstverwirklichte, von der allgemeinen Norm abweichenden Lebensweise. So hatte auch Thoreau das Gefühl «unter Deck» zu leben, wollte aber stattdessen den «Mondschein zwischen den Bergen sehen». Es galt der unerbittlichen Mühle der Gesellschaft, in der man sich «krank [macht], damit Ihr etwas für Eure kranken Tage zusammenspart», zu Gunsten eines individuellen (und sicher nicht von wirtschaftlichem Einkommen abhängigen) Glücks zu entkommen. Eines Glücks, das zumindest für den Individualisten Thoreau darin bestand, «dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten […]».ix Gut, für Thoreau war der Ausstieg ein Experiment, er war gewissermaßen ein Feierabend-Aussteigerx, der uns aber eine Anschauung für das sein kann, was Aussteigen letztlich ist – und welche Fragen es aufwirft. Thoreau thematisiert in sich und mit uns den Ungehorsam gegenüber den Verpflichtungen, die ihm durch den Staat aufgelegt wurden. Er begibt sich in eine alternative, naturnahe, konsumreduzierte, gedankenreiche Lebensweise hinein und lässt uns so an seinem Beispiel fragen, wie viel Staat es braucht, wie liberal, wie konformistisch eine Gesellschaft wirklich ist, ob jedes Individuum die darin vorgesehene Nische für sich zu finden oder inwiefern die Gesellschaft im Individualismus vor die Hunde zu gehen vermag.

     

    Aussteiger sind, so könnte man sagen, eine «Selbstbeschreibung moderner Gesellschaft, wie sie sonst nicht zur Verfügung steht»xi, indem sie mitunter Themen in einer integrativen, ganzheitlichen Weise aufgreifen, die keines der gesellschaftlichen Funktionssysteme wie Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik angemessen zu greifen weiß, denn oft trennen sie schlicht den individuellen Menschen von den Gegebenheiten, die sie beobachten. Aussteiger illustrieren, welche Probleme gesellschaftlicher Art sich auftun, wo Verhandlungsnotwendigkeiten bestehen, aber auch welche Brüche, Paradoxien, Sehnsüchte und Pathologien sich manifestieren könnten, weshalb von ihnen ausgehend auch zeitdiagnostische Arbeit geleistet werden kann. Christian Schüle sieht im Akt des Aussteigens «die Rache der Gesellschaft an sich selbst», wenngleich Aussteiger allerdings vielleicht eher als sehr spezifische Zellen im Immunsystem der Gesellschaft und so sogar als schützend und stabilisierend für das System verstanden werden können – ganz gleich, ob ihnen das behagt oder nicht.

     

     

    Quellen

    i Stevenson, Robert L., „Thoreau’s Influence“, in: Richard J. Schneider (Hg.), Henry David Thoreau. A Documentary Volume, Detroit 2004, S. 308-370, hier S. 309.
    ii Damit sind gesellschaftliche Aussteiger gemeint, nicht Aussteiger aus Vehikeln, Süchten, Sekten o.ä.
    iii Emerson, Ralph W., „Thoreau“, in: The Atlantic 10/58 (1862), S. 239-249, hier S. 241.
    iv Luhmann, Niklas, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt/M. 1996, S. 211.
    v Die erste Verwendung konnte ich in den 1970er Jahren ausmachen. Vgl. Fischer, Alexander, „Existenzielle Spannungsverhältnisse: Überlegungen zum Begriff »Aussteiger«“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 57 (2016), S. 259-275.
    vi Freund, Wieland, „Der Gottvater aller Aussteiger“, in: Die Welt 12.07.2017 [Online: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article166547315/Der-Gottvater-aller-Aussteiger.html, Aufruf am 21.2.2018].
    vii Ebd.
    viii Für ausführlichere Einlassungen zum Begriff „Aussteiger” siehe: Fischer, „Existenzielle Spannungsverhältnisse: Überlegungen zum Begriff »Aussteiger«“ und Fischer, Alexander, „‘Stärker individualisierte Individuen’. Eine sozialphilosophische Typenbetrachtung des Aussteigers”, in: Hiergeist, Teresa (Hg.): Parallel- und Alternativgesellschaften in den Gegenwartsliteraturen, Würzburg 2017, S. 197-218, hier S. 212. Aussteiger lassen sich im Übrigen von Außenseitern dadurch abgrenzen, dass Letztere keinen aktiven Akt des Ausstiegs vollziehen, sondern eher aus der Gesellschaft herausgedrückt, vielleicht sogar rausgeschmissen werden. Aussteiger sind zwar letztlich auch Außenseiter, aber eben selbstgewählte und aktive Außenseiter. Die Abgrenzung zum Einsiedler ist die am wenigsten leicht zu besorgende, gerade seitdem der Begriff nicht mehr nur synonym zum religiösen Eremiten verwendet wird.
    ix Thoreau, Henry David, Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 2007.
    x Man kann darüber streiten, ob eine zeitliche Begrenzung einen Ausstieg irgendwie zunichte macht. Manche kritische Stimme würde daran gemessen die Ernsthaftigkeit des Aussteigens anzweifeln und damit die ‚stärker individualisierte Individualität‘ vielleicht als nicht gegeben begreifen.
    xi Luhmann, S. 23.
     

    Frage an die Leserschaft

    Es scheint so, als ob hier implizit über zwei Prinzipien diskutiert wird: Die Rechte und Pflichten des Einzelnen in einer Gesellschaft. Das Inidivuum hat das Recht, sich als Aussteiger aus der Gesellschaft zu entfremden, um sich in einer gewissen Weise selbst zu verwirklichen.

    Wie steht es jedoch um unsere Pflichten? Gibt es soziale und/oder politische Pflichten in einer Gesellschaft? Falls ja, wie lauten diese? Wenn nicht, warum?