Gibt es die Wahrheit noch?

In Zeiten, in denen fake news im Internet herumgeistern und von „alternative facts“ die Rede ist, sorgt man sich um die Wahrheit.

    Kürzlich war ich auf einer Konferenz. Das Thema lautete: „Gibt es die Wahrheit noch?“ Die Frage liegt derzeit in der Luft. In Zeiten, in denen fake news im Internet herumgeistern und von „alternative facts“ die Rede ist, sorgt man sich um die Wahrheit. Wer etwa das Internet nach bestimmten Themen wie dem Klimawandel durchforstet, findet die unterschiedlichsten Blogs und Foren. Wenn man bei einem Blog bleibt und die Beiträge liest, entfaltet sich oft eine bestimmte Sichtweise. Aus der Perspektive anderer Foren sieht dann alles ganz anders aus. Man fragt sich: Wo ist die Wahrheit? Gibt es sie überhaupt noch im Gewirr der Stimmen?

    Gehen wir die Frage, ob es die Wahrheit noch gibt, direkt an. Dazu müssen wir zunächst klären, was die Frage bedeutet: Was heisst es zu sagen, dass es die Wahrheit gibt?

    Das Wort „Wahrheit“ ist in unserer Sprache vom Eigenschaftswort „wahr“ abgeleitet. Wahrheit ist also eine Eigenschaft. Wir schreiben sie Dingen zu wie einer Meldung im Radio. Dass es die Wahrheit gibt, heisst dann wohl, dass es etwas gibt, das wahr ist. Wir interessieren uns zum Beispiel für wahre Meldungen im Radio.

    Aber was kann überhaupt wahr sein? Für welche Dinge stellt sich die Frage nach der Wahrheit? Wenn es um fake news geht, dann haben wir es letztlich mit Meldungen zu tun. Nehmen wir etwa die Meldung, dass in Davos das Weltwirtschaftsforum eröffnet wurde. Diese Meldung ist wahr, wenn sie stimmt, d.h. wenn sich das, was gemeldet wird, wirklich ereignet hat.

    Meldungen bestehen aus Aussagesätzen wie „In Davos wurde das Weltwirtschaftsforum eröffnet“. Es ist daher naheliegend, dass Aussagesätze der Träger von Wahrheit sind. In der Tat beurteilen wir im Alltag Aussagesätze als wahr oder falsch: Wenn eine Studentin in der Prüfung antwortet: „1848 gab sich die Schweiz eine Bundesverfassung“, dann wird das vom Prüfer als wahr oder falsch gewertet. Wir müssen allerdings etwas vorsichtig sein. Ein Aussagesatz kann nur dann wahr sein, wenn er einen eindeutigen Sinn hat. Die Frage, ob der Satz „Ich komme aus Bern“ wahr ist, stellt sich erst, wenn klar ist, wer gerade spricht.

    Als Träger der Wahrheit kommen also Aussagesätze infrage. Wir müssen uns daher nur noch fragen, ob wenigstens einige Aussagesätze in der Tat wahr sind. Der Philosoph Karl Popper hat diese Frage emphatisch bejaht. Er hat das mit ungefähr folgendem Argument begründet[1]: Nehmen wir einen beliebigen Aussagesatz, z.B. „Bogota ist die Hauptstadt von Ecuador.“ Entweder ist dieser Satz wahr. Dann sind wir schon fündig geworden, und es gibt Wahres. Oder der Satz ist nicht wahr. Dann ist aber seine Verneinung wahr. Denn wenn es nicht wahr ist, dass Bogota die Hauptstadt von Ecuador ist, dann ist Bogota nicht die Hauptstadt von Ecuador. Und dann ist der folgende Aussagesatz wahr: „Bogota ist nicht die Hauptstadt von Ecuador.“ In jedem Fall haben also einen wahren Aussagesatz gefunden!

    Aber macht es sich Popper nicht zu einfach? Popper geht davon aus, dass die Verneinung eines Aussagesatzes wahr ist, wenn letzterer nicht wahr ist. Aber das stimmt nicht immer. Nehmen wir etwa den Satz „Die derzeitige Präsidentin der USA stammt aus New York.“ Dieser Satz ist sicher nicht wahr, denn die USA werden gar nicht von einer Präsidentin regiert. Die Verneinung „Die derzeitige Präsidentin stammt nicht aus New York“ ist aber auch nicht wahr. Denn dieser Satz leidet genau am selben Problem wie der unverneinte: Er beruht auf einer falschen Voraussetzung. Poppers Argument funktioniert also nicht immer. Es führt in die Irre, wenn ein Satz auf einer falschen Voraussetzung beruht. Und vielleicht beruht ja alles, was wir sagen und denken, auf falschen Voraussetzungen, so dass es keine Wahrheit gibt.

    Dieser Schluss wäre aber vorschnell. Denn wir können Voraussetzungen ja explizit thematisieren. In unserem Beispiel lässt sich die Voraussetzung in folgendem Aussagesatz formulieren: „Amerika wird von einer Präsidentin regiert.“ Diese Voraussetzung ist nicht wahr. Das heisst dann aber doch wohl, dass der verneinte Satz „Amerika wird nicht von einer Präsidentin regiert“ wahr ist! Wir haben also doch etwas Wahres gefunden.

    Eine skeptische Person könnte nun aber einwenden, dass auch der Satz „Amerika wird nicht von einer Präsidentin regiert“ noch auf einer Annahme beruht, die vielleicht falsch ist. So werde in diesem Satz unterstellt, es gebe Amerika. Und vielleicht ist diese Unterstellung problematisch. Aber dass es Amerika gibt, ist doch offensichtlich wahr. Und wenn es nicht wahr ist, dann ist es wahr, dass es Amerika nicht gibt. Denn der Satz „Es gibt Amerika“ trifft keine besondere Voraussetzung mehr. Er muss daher wahr sein, oder seine Verneinung ist wahr.

    Halten wir also fest: Poppers Argumentation lässt sich nicht mit allen Aussagesätzen durchführen. Aber für einige Sätze (nämlich solche, die keine falschen Annahmen mehr voraussetzen) funktioniert sein Argument. Das reicht, um zu beweisen, dass es wahre Aussagesätze gibt.

    Wenn man so einfach zeigen kann, dass es etwas Wahres gibt, warum sorgen sich dann einige Menschen, es gebe die Wahrheit nicht mehr? Der Grund ist ganz einfach: Das Argument lässt eine Lücke. Es zeigt zwar auf, dass einige Aussagesätze wahr sind. Aber es lässt offen, welche Aussagesätze wahr sind. Ist es wahr, dass Bogota die Hauptstadt von Ecuador ist? Das Argument gibt uns keine Antwort. Es zeigt uns auch nicht, dass wir die Wahrheit wissen oder wenigstens wissen können.

    Insgesamt können wir die Frage, ob es die Wahrheit gibt, zwar positiv beantworten: Es gibt sie, denn einige Aussagesätze sind wahr. Aber so ganz befriedigend ist die Antwort nicht. Wir wollen die Wahrheit ja auch ein Stück weit erkennen. Und ob wir das tun, sagt uns unsere Antwort nicht. Die Frage, ob es Wahrheit gibt, stellen wir letztlich wohl nur, weil wir wissen wollen, ob wir die Wahrheit wissen können. Doch davon ein anderes Mal mehr.

     



    [1]            Popper, K. R., Alles Leben ist Problemlösen, München 1988, Kapitel 1 und 14.

     

    Frage an die Leserschaft

    Wenn die Frage, ob es die Wahrheit gibt, positiv beantwortet werden kann, bleibt dennoch eine andere Frage offen: Wer sollte sich um die Wahrheit kümmern?

    Die Wissenschaftler, die Politiker, die Privatperson? Und warum?