Im Zuge der Bürgerrechtsbewegungen wurde der Begriff Political Correctness ausgehend von nordamerikanischen Universitäten in den 1960er-Jahren zur moralpolitischen Beurteilung von Sprache und Verhalten geprägt. Dahinter stand die Hoffnung, dass eine veränderte Sprache Diskriminierung von Minderheiten und Frauen abschaffen könne. Es ging darum, nicht-juristische Normen des richtigen politischen und sprachlichen Verhaltens zu entwickeln, da rechtliche Einschränkungen aufgrund des hohen Stellenwertes der Redefreiheit in den USA umstritten sind. Zunächst handelte es sich um ein Campusphänomen. Mitte der 1980er-Jahre begannen Studierende die Ausweitung des Lehrstoffes zu fordern. Statt ausschließlich Pflichtkurse zu "Western Civilization" verlangten sie unter anderem Kurse über außereuropäische Kulturen und weibliche Autoren. Es entstand ein Sprachkodex, der minderheitengerecht sein sollte. Als dieser Kodex immer rigider wurde, entstand der Begriff "politically correct" zunächst als ironisch verwendeter Begriff innerhalb der Linken selbst.
In den 1990er Jahren kam es zu einer Aneignung des Begriffes durch die politische Rechte und damit zu einer Umkehr. US-Konservative an Hochschulen und in Medien verwendeten in Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner Political Correctness nunmehr als Kampfbegriff gegen die ihrer Meinung nach falsch verstandene liberale Multikulti-Gesellschaft. Die als Übeltäterin entlarvte „Gleichheits-Religion“ wurde für die mit Unbehagen wahrgenommenen Umwälzungen verantwortlich gemacht und als Tugendterroristin abgestempelt. Demgegenüber wurde mehr Freiheit eingefordert, insbesondere freie Meinungsäußerung. Diese richtete sich zumeist gegen den als Gutmenschentum abqualifizierten „liberalen Multikulturalismus“ und gegen den als gefährlich abgestempelten „Genderwahn“.
Ob es sich nun um die „Ehe für Alle“, um die Stellung der Frau in der Gesellschaft, um neue Reproduktionstechnologien, oder um die Auseinandersetzung mit Religion im Allgemeinen handelt, sehr bald befinden sich diejenigen, welche von Tugendterror sprechen, in der Nähe derer, die sich selbst als illiberal oder anti-liberal bezeichnen. Und nicht nur das. Es ergibt sich eine auffallende Nähe zu denjenigen Vorstellungen, die in islamischen Ländern und einigen osteuropäischen Ländern mit der Stellung der Frau, der Bedeutung der Familie und der Ablehnung der Homosexualität verbunden sind. Die Argumentationslinie verläuft dabei entlang eines liberalen Gedankengutes, das für eine möglichst weitgehende und uneingeschränkte Meinungsfreiheit plädiert. Für John Stuart Mill war es wichtig, dass alle, auch noch so widersprüchliche Positionen Gehör erhalten, da sie einen Aspekt enthalten könnten, der für die Weiterentwicklung der Gesellschaft wichtig sein könnte und daher nicht übersehen werden darf.
Welche Stimmen sind es nun, die bisher zu wenig Gehör bekommen haben? Zunächst sicherlich einmal diejenigen, die vor einem politischen Islam in Europa gewarnt haben. Der weltweite islamische Terror, in Verbindung mit einem ungeordneten Zuzug einer großen Anzahl von zumeist islamischen Flüchtlingen über offene Grenzen hinweg, hat zu der Sorge beigetragen, dass es zu einem „Untergang des Abendlandes“ kommen könnte. Darüber hinaus sind es diejenigen Stimmen, die vor den Gefahren einer Zerstörung der Familie warnen, vor der Emanzipation der Frau, einer Senkung der Fertilitätsrate und der Zulassung eines dritten Geschlechts.
Mill würde betonen, dass es notwendig sei, diese Positionen in einer öffentlichen Diskussion zur Sprache zu bringen. Denn nur auf diese Weise könne es gelingen, Gefahren rechtzeitig zu erkennen und gemeinsam zu meistern. So gesehen ist es sehr wichtig, jeglichem Tugendterror im Sinne eines „mundtot Machens“ von Positionen, die nicht in das eigene Weltbild passen, entschieden entgegen zu treten. Jede Weltanschauung kann durch Übertreibung und Absolutierung zu einem Dogmatismus entarten. So wurde der Begriff "politically correct" – wie schon erwähnt – von Beginn an innerhalb der Linken ironisch verwendet, weil es zu einem immer rigider werdenden Kodex der Sprachregulierung an den amerikanischen Unis kam. Jede Position trägt die Gefahr der Übertreibung in sich. So hat z.B. die Übernahme des Begriffes der Political Correctness als Kampfbegriff durch die politische Rechte dazu geführt, dass alte Gräben aufgerissen und längst überwunden geglaubte Feindbilder wieder zum Leben erweckt werden. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, dass das Aufbauen von Feindbildern und die damit einhergehende Kriegsbereitschaft, sowie der Abbau demokratischer Strukturen zu Katastrophen geführt hat. Dies soll nicht heißen, dass man Gefahren, die auf uns zukommen nicht ins Auge sieht, wie z.B. die ungeregelte Zuwanderung. Was heute jedoch mehr denn je gefährdet ist, ist die liberale Demokratie selbst und der damit verbundene Verlust der bereits erreichten Menschen- und Grundrechte.
Es erfüllt mich mit großem Unbehagen, dass gerade diejenigen, die sich auf die Meinungsfreiheit berufen und gegen den Tugendterror der Political Correctness mobilmachen, davon ausgehen, dass die Freiheiten, welche in den letzten Jahrzehnten errungen wurden, einen „Werteverfall“ darstellen, dem es durch das Wiederstarken antiliberaler Kräfte entgegenzutreten gelte. Schon einmal hat uns die Geschichte schmerzlich gezeigt, dass die liberale Demokratie mit demokratischen Mitteln aus der Welt geschafft werden kann. So gesehen sollten wir mit unserer Freiheit verantwortungsvoll umgehen, damit es nicht wieder im Namen der Freiheit zu einem Terror der „Gleichen“ kommt, die jegliche „Andersheit“ im Keim ersticken.
Artikelhinweis
Moser, Susanne (2017): Political Correctness oder Tugendterror?, erschienen in LABYRINTH, Vol. 19, No. 1. (online verfügbar)
Frage an die Leserschaft
Können Sie mit dem hier eingeführten Begriff "Tugendterror" etwas anfangen und Bezüge zu unserer Gesellschaft schaffen?
Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach "Political Correctness" in einer öffentlichen Debatte?