(Text von Prof. Martino Mona)
Recht sollte gleich Gerechtigkeit sein. Recht ist nur in zwei Fällen ungleich Gerechtigkeit: Wenn der Wille fehlt, Gerechtigkeit zu schaffen, oder wenn die Fähigkeit fehlt, Gerechtigkeit zu schaffen.
Es kommt gar nicht so selten vor, dass Recht deshalb tatsächlich ungleich Gerechtigkeit und mithin ungerechtes Recht ist, weil diejenigen, die das Recht setzen und gestalten, der Überzeugung sind, dass Recht mit Gerechtigkeit nichts zu tun hat. Das ist die Gruppe der Zyniker, die sich zuweilen selber etwas hochtrabend Realisten nennen, in Abgrenzung zu den naiven Idealisten oder Gutmenschen, die an Gerechtigkeit glauben.
Den Zynikern fehlt der Wille, Gerechtigkeit zu schaffen, und so schaffen sie eben keine Gerechtigkeit und bestätigen somit ihre eigene Überzeugung. Sie vergessen dabei, dass sie ihren Zynismus nur deshalb verbreiten (oft in Blogs), umsetzen (in parlamentarischen Kommissionen) und bestätigen dürfen (auf dem Richterstuhl), weil viele Menschen in früheren Generationen keine Zyniker waren, sondern sich eingesetzt haben für eine gerechtere Gesellschaftsordnung, getragen von der Überzeugung, dass Recht gleich Gerechtigkeit sein soll.
Idealisten und Zyniker
So dürfen diese Zyniker heute in aller Ruhe und vollkommen ohne Bedrängnis ihre Pamphlete schreiben, sie können legiferieren und urteilen, weil Idealisten in ihrer ganzen Naivität an Gerechtigkeit geglaubt, der Meinungsäusserungsfreiheit und der Pressefreiheit zum Durchbruch verholfen und für die Demokratie und die Gewaltentrennung gekämpft haben.
Gerechtigkeit schaffen ist aber zugegebenermassen eine komplizierte und schwierige Sache, sodass man jedenfalls für Pessimisten, die nicht hoffen können, das Recht werde gerechter, ein gewisses Verständnis haben kann. In der Tat fehlt nämlich vielen Menschen die Fähigkeit, Gerechtigkeit zu schaffen. Sie streben zwar danach, bewirken aber nicht selten, zumindest vorübergehend, mehr Ungerechtigkeit. Der Grund dafür liegt im Wesen und Zweck jeder rechtlichen Ordnung und in einer besonderen Dynamik, die sich in der politischen Gesetzgebung abspielt.
Das Recht muss abwägen. Typischerweise geht es um die Gegenpole Freiheit und Sicherheit. Wie viel Freiheit soll eingeschränkt werden, um wie viel Sicherheit zu garantieren? Je grösser die Angst vor Gefahren, desto grösser sind die Einbussen der Freiheit, die man in Kauf zu nehmen bereit ist.
Die Freiheit der anderen
Abgesehen davon, dass diese Ängste erstaunlicherweise umso mehr in Irrationalität umschlagen, je mehr man sie «ernst nimmt», besteht das Hauptproblem darin, dass die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit regelmässig darauf hinausläuft, dass Freiheitseinschränkungen nicht flächendeckend eingeführt werden, sondern selektiv sind und nur eine bestimmbare Minderheit treffen. Weil die breite Öffentlichkeit davon nicht betroffen ist, wird der natürliche politische Kontrollvorgang unterminiert, in dem geprüft wird, ob diese Einschränkungen gerechtfertigt sind.
Können Einschränkungen von Freiheitsrechten, wenn auch vage, auf eine spezifische Minderheit fokussiert werden, stellen wir unsere Sicherheit ohne weiteres über die Freiheit der anderen. Der Grund dafür ist, dass in diesen Fällen unsere Freiheit nicht wirklich zur Disposition steht. Wir sind, um nur ein Beispiel zu nennen, von der Kürzung der Nothilfe für Asylsuchende schlichtweg in keiner Weise konkret betroffen. Die grundlegenden Rechte, die wir einschränken, begreifen wir als Rechte von Fremden.
Wenn ich aber einer Freiheitsbeschränkung nur zustimme, weil ich weiss, dass ich nicht davon betroffen bin, kann die Balance, die wir durch das Recht anstreben, nicht erreicht werden. Vielmehr ist die Freiheitsbeschränkung dann unfair. Dahinter steckt eine einfache Gerechtigkeitsüberlegung: Gerechtfertigt sollen nur die Massnahmen sein, die wir bereit sind, gegen uns selbst anzuwenden. Gerechtigkeit schaffen setzt also einen Perspektivenwechsel voraus.
Den Perspektivenwechsel trainieren
Aus diesem Grund müssen wir die Denkweise fördern und ständig trainieren, sich in die Position der anderen zu versetzen, die von der rechtlichen Ordnung nachteilig betroffen sein könnten. Nur indem wir einen Perspektivenwechsel vornehmen, können wir die Vorstellung überwinden, dass Freiheitsrechte fremde Rechte sind, die wir rigoros beschränken können. Diese Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ist nicht etwas, das wir von Natur aus besitzen, sondern ist im Gegenteil eine kulturelle Errungenschaft, die immer wieder vor einer Erosion durch Egoismus und banale Niedertracht geschützt werden muss. Sie ist nicht bloss etwas Erfreuliches oder Nettes zur Verschönerung des Lebens, sondern die grundlegendste Voraussetzung für eine gerechte und überhaupt funktionsfähige Gemeinschaft von Menschen.
Diese Gemeinschaft zerfällt in verängstigte, frustrierte und sich bekämpfende Einzelteile, wenn jeder nur auf die Wahrung seiner Rechte, Privilegien und Freiheiten schaut, das Leiden und die Bedürfnisse des anderen ihn hingegen kaltlassen. Durch das Erlernen und das Perfektionieren des Perspektivenwechsels legen wir den Grundstein dafür, dass Recht zunehmend gleich Gerechtigkeit wird.
Dieser Beitrag wurde zuerst im Rahmen der "ganz grossen Fragen" publiziert.