(Text von Christel Fricke)
«Vor Deiner Haut beginnt die Fremde.» Diese Zeilen schrieb der Stuttgarter Schriftsteller Hermann Lenz (1913-1998). Er hatte als Student in Heidelberg das Aufkommen und die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland hautnah miterlebt, war danach Soldat und in britischer Kriegsgefangenschaft. Auch nach dem Krieg, wieder in Stuttgart, fühlte er sich fremd, in seiner Familie und unter seinen Landsleuten, deren Lebenshunger und materielle Gier durch kein Bedauern der im Namen des deutschen Volkes begangenen Verbrechen getrübt wurde.
Wer ist ein Fremder? In gewisser Weise ist jeder (und jede) ein Fremder, nicht nur der Flüchtling aus einem fernen Land, dem alles fremd ist, was uns normal erscheint. Auch der eigene Mann oder die eigene Frau kann einem fremd sein.
Die Fremdheit der Anderen ist umso bemerkenswerter, als wir auf Interaktion und Kooperation mit Anderen angewiesen sind, schon allein um zu lernen, uns als ein Ich zu begreifen, als eine von allen Anderen unterschiedene Personen. Über das Vermögen der Empathie, des Mitgefühls mit Anderen und der Einfühlung in Andere, bleiben wir mit Anderen ein Leben lang verbunden.
Mitgefühl macht uns hilfsbereit. Dabei ist das Verstehen dessen, wie ein Anderer fühlt und denkt, eine ständige Herausforderung. Die Gedanken und Gefühle Anderer sind uns nicht so unmittelbar zugänglich wie unsere eigenen. Woher wissen wir, was ein anderer denkt und fühlt? Wir müssen uns in den Anderen hineinversetzen, uns vorstellen, wie der Andere seine Umgebung erlebt; dabei laufen wir ständig Gefahr, unsere eigenen Vorstellungen auf den Anderen zu projizieren. Solche Projektionen können zu erheblichen Missverständnissen führen.
Einfühlung ist für uns alle eine wichtige Kompetenz, und dabei geht es keineswegs nur um die Motivation zur Hilfsbereitschaft. Jede Diskussion zwischen streitenden Parteien erfordert Einfühlung, jedenfalls, wenn die Diskussion fruchtbar sein und dazu führen soll, dass am Ende eine einvernehmliche und gut begründete Meinung entsteht. Gegenstand von Kontroversen können sowohl Meinungen über Sachverhalte sein als auch Bewertungen von Handlungen als gut oder schlecht.
Sollte ein Bundesminister, dessen Doktorarbeit sich als Plagiat herausstellte, zurücktreten? Die Antworte auf diese Fragen kann umstritten sein. Aber sie ist keine Sache des persönlichen Geschmacks. Im Gegenteil: Sie sollte Anlass für eine Kontroverse zwischen den streitenden Parteien sein, in der jede die jeweils andere davon zu überzeugen versucht, dass ihre Auffassung die richtige sei.
Um erst einmal den Plagiatsvorwurf zu klären, ist die Arbeit auf Passagen zu überprüfen, die entweder wörtliche Zitate oder sehr textnahe Paraphrasen aus anderen Texten sind, die nicht als Quellen genannt werden. Sollten sich solche Passagen gehäuft finden, werden beide Parteien die Arbeit als Plagiat einstufen müssen. Sollte der des Plagiats überführte Minister zurücktreten? Eine Kontroverse über die Beantwortung dieser Bewertungsfrage lässt sich nicht im Rekurs auf bloße Sachverhalte entscheiden. Warum glaubt nur die eine Partei, ein Rücktritt sei geboten? In der Politik geht es oft um Meinungshoheit. Aber die Beantwortung von Fragen, was für eine Person in einer bestimmten Lebenslage tun sollte, ist ebenso wenig eine Frage der Macht, wie sie eine Frage des persönlichen Geschmacks ist. Hinter Kontroversen darüber, was ein Amtsinhaber tun sollte, verbergen sich oft sachfremde Interessen der streitenden Parteien. Jedoch sollte die Beantwortung der Frage, was zu tun ist, nicht von sachfremden Interessen abhängig gemacht werden. Vielmehr sollten sich die streitenden Parteien darauf verständigen, was dem Autor einer Doktorarbeit, die sich als Plagiat herausstellt, vorzuwerfen ist, und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
Wir alle beanspruchen für uns, mit unseren Meinungen über Sachverhalte und unseren Bewertungen von Handlungen als gut oder schlecht richtig zu liegen. Deshalb müssen wir uns auf Kontroversen mit denen, die uns widersprechen, einlassen. Nur zusammen mit unseren Kontrahenten können wir herausfinden, welche Meinungen und Bewertungen gerechtfertigt sind: Vier Augen sehen mehr als zwei, und sechs Augen mehr als vier. Dabei dürfen wir uns unsere Kontrahenten nicht beliebig aussuchen. Rechtfertigung ist etwas, das ein jeder und eine jede anerkennen muss. Fruchtbares Streiten erfordert die Anerkennung des jeweiligen Kontrahenten als einer Person, der es um Wahrheit und Rechtfertigung geht. Darüber hinaus erfordert es Einfühlung, denn ohne sie kann man die Gründe für Kontroversen nicht verstehen und die Irrtümer der verschiedenen Kontrahenten nicht als solche erkennen und beseitigen. Wer sich auf eine solche Kontroverse einlässt, muss offen sein für die Möglichkeit, die eigene Meinung revidieren zu müssen.
Wir lernen von Anderen, und Andere lernen von uns. Gemeinsames Streiten ist gemeinsames Suchen danach, welche Meinungen wahr und welche Beurteilungen richtig sind. Wo sich Streitfälle beilegen lassen, entstehen Überzeugungen, die nicht nur geteilt, sondern auch gerechtfertigt sind. Solche Überzeugungen sind wichtig, denn sie sind eine unverzichtbare Grundlage für ein friedliches Zusammenleben zum gemeinsamen Vorteil. An dieser Grundlage zu arbeiten ist eine nie endende Aufgabe. Wer sich darauf einlässt, wird in dem Anderen nicht nur den Fremden erkennen, sondern auch den, von dem man etwas lernen kann. Dennoch bleibt der Andere der Fremde und die Überwindung der Fremdheit eine unendliche Aufgabe. Das Selbstverständnis, ein Herrenmensch zu sein, Gier und die Weigerung, Verantwortung für Verbrechen zu übernehmen, stehen einer solchen Kooperationsbereitschaft im Wege. Hermann Lenz war von solchen Leuten umgeben. Aber wer die Auseinandersetzung verweigert, in der es um Wahrheit und Rechtfertigung geht, entmündigt sich selbst.
Der Artikel ist im. November 2017 im Rahmen des Projektes "Liebe und Gemeinschaft" auf Philosophie.ch erschienen. Mehr zum Projekt!