(Text von Ulrike Heuer)
Wofür sind wir verantwortlich? Für unser Handeln, oder genauer: für unser absichtliches Handeln, so eine naheliegende Antwort. (Smith 2015) Aber sind wir nicht auch dann verantwortlich, wenn das, was wir vorhaben, schiefgeht? Ein Beispiel: es ist ein regnerischer Tag, und Sie warten mit vielen Einkauftaschen beladen an der Bushaltestelle. Endlich kommt der Bus. Jemand kommt angerannt, um ihn auch noch zu erwischen, rutscht auf dem nassen Pflaster aus und stößt Ihre Einkaufstaschen um. Ihre Einkäufe verteilen sich auf dem schmutzigen Gehweg. Das hat der Neuankömmling nicht gewollt: das Ausrutschen war unabsichtlich und das Umstoßen der Einkaufstaschen lediglich eine Folge. Ist er daher nicht verantwortlich?
Derivative Verantwortung
Die übliche Antwort lautet, dass er derivativ verantwortlich ist: dann nämlich wenn, sein Rennen auf dem nassen Pflaster fahrlässig war, weil er vorhersehen konnte, dass er ausrutschen wird. Diese Erklärung verlässt bereits den Rahmen unserer ersten Bestimmung: das Verhalten mag zwar fahrlässig sein; es ist aber deshalb nicht absichtlich. Der Unglücksrabe hat nicht beabsichtigt, fahrlässig loszurennen. Er hat vermutlich nur daran gedacht, den Bus zu erwischen.
Willentliche Kontrolle
Ein zweiter Versuch: eine Person ist für ihr Handeln nicht-derivativ verantwortlich, wenn es ihrer willentlichen Kontrolle untersteht, wobei willentliche Kontrolle verlangt, dass es nur von ihrer Entscheidung abhängt, ob sie auf eine bestimmte Art handelt. Rennen oder nicht rennen stand unter der willentlichen Kontrolle unseres Läufers. Dafür ist er somit verantwortlich und hat derivative Verantwortung für das Umstoßen der Taschen.
Dieser zweite Versuch führt auf direktem Weg zum Problem des moralischen Zufalls in einer seiner Varianten (Nagel 1976): zu der Frage, inwieweit die Ergebnisse unseres Handelns jemals nur von unseren Entscheidungen abhängen. Um erfolgreich zu handeln benötigt man immer auch andere Fähigkeiten: selbst in den einfachsten Fällen ist Kontrolle über körperliche Bewegungen und Abläufe nötig. Das ist am deutlichsten in solchen Fällen, in denen Handlungen besondere Fertigkeiten erfordern wie beim Spielen eines Instruments, im Sport, oder im Handwerk. (Darüberhinaus benötigen ‚erfolgreiche’ Handlungen gewöhnlich auch günstige Umstände: keine Ablenkungen, unerwartete Windstöße, Stromausfälle usw.) Die Ergebnisse unserer Handlungen hängen somit niemals allein von Entscheidungen ab, so dass wir dem Kriterium der willentlichen Kontrolle zufolge nicht direkt für sie verantwortlich sein können. Eine der Richtungen, die diejenigen einschlagen, die moralischen Zufall ablehnen, ist daher, dass wir lediglich Entscheidungen oder Absichten kontrollieren, und auch die nur teilweise (Zimmerman 2002). Neben dem Problem des moralischen Zufalls gibt es noch einen zweiten Einwand gegen das Kriterium der willentlichen Kontrolle, den ich hier verfolgen möchte.
Noch einmal: Fahrlässigkeit
Fahrlässiges Handeln hängt nicht immer von schiefgelaufenen Handlungen ab. Es kann z. B. auch das Resultat von Vergessen oder Unaufmerksamkeit sein. Ein Beispiel: an einem heißen Sommertag lässt Alexandra ihren Hund im Auto, während sie schnell ein paar Erledigungen machen will. Sie wird aber abgelenkt und vergisst den Hund für einige Zeit. Als sie schließlich zurückkommt, ist das Tier in der Hitze zusammengebrochen (Sher 2009). Sich rechtzeitig an den Hund zu erinnern stand nicht unter Alexandras willentlicher Kontrolle. Demnach wäre sie noch nicht einmal derivativ für sein Leiden verantwortlich. Das scheint aber falsch zu sein.
Kontrolle im Bereich unserer Fertigkeiten
Deshalb ein dritter Vorschlag, die Reichweite der Verantwortung zu bestimmen, den ich für richtig halte, hier aber nur ansatzweise verteidigen kann: wir sind für unser Handeln – sein Misslingen wie auch sein Gelingen – verantwortlich, wenn es in den Bereich unserer Fähigkeiten und Fertigkeiten fällt, Handlungen dieser Art erfolgreich durchzuführen. (Ein ähnlicher Vorschlag findet sich in Raz 2011.) Misserfolge und Fahrlässigkeit sind einem Handelnden manchmal zuzurechnen, jedoch nicht in allen Fällen. Wenn Alexandras Erinnerungsvermögen stark geschädigt oder beschränkt wäre, dann wäre sie nicht für das Vergessen des Hundes und sein Leiden verantwortlich. (In dem Fall wäre es aber unverantwortlich, dass sie überhaupt einen Hund hat, oder zumindest, dass sie ihn je unbeaufsichtigt zurücklässt.) Im normalen Fall ist Alexandra deshalb verantwortlich, weil es in den Bereich ihrer Fähigkeiten fällt, sich zu erinnern. Auch wenn wir keine willentliche Kontrolle über unsere Erinnerung haben, so sind wir doch häufig in der Lage, uns an Termine (etc) zuverlässig zu erinnern. Ob jemand eine Fähigkeit dieser Art hat, lässt sich nur aufgrund der Erfolgsgeschichte seines Verhaltens sagen. Weder zeigt ein einziger Erfolgsfall, dass die Person eine Fähigkeit hat, noch ein einziger Misserfolg, dass sie sie nicht hat, oder dass sie sie verloren hat.
Dieser Ansatz ermöglicht, die Grenzen der Verantwortung zu bestimmen, Verantwortung für fahrlässige und misslungene Handlungen zu erklären, und eine Antwort auf das Problem des moralischen Zufalls zu geben. Lassen Sie mich Letztere kurz skizzieren: die Gegner moralischen Zufalls beharren zurecht darauf, dass die Ergebnisse unseres Handelns nicht unter unserer willentlichen Kontrolle stehen. Aber sie sind dennoch unter unserer Kontrolle: der Kontrolle durch unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten. Wir erwerben Fertigkeiten gerade deshalb, weil sie die Ergebnisse unseres Handelns unter unsere Kontrolle bringen. Dem geübten Tennisspieler gelingt nicht ‚zufällig’ ein exzellenter Aufschlag, sondern er übt eine Fähigkeit aus, die er durch langwieriges Training erworben hat und die ihm erlaubt, diese Art von Handlung – einschließlich ihrer Ergebnisses – zu kontrollieren. Er ist für den Erfolg, aber auch für ein Misslingen verantwortlich – solange der Misserfolg nicht dadurch erklärt wird, dass seine Fertigkeit nicht hinreichend ist, um die Handlung in der jeweiligen Situation zu kontrollieren. Wenn er z. B. mitten im Spiel einen Herzinfarkt bekommt und deshalb den Aufschlag verpatzt, dann liegt das erfolgreiche Ausführen der Handlung nicht mehr im Bereich seiner Fertigkeiten. Wenn dagegen der Aufschlag daneben geht, ohne dass seine Fertigkeit, solche Handlungen zu kontrollieren, in Zweifel steht, dann ist er auch für den (unbeabsichtigten, nicht-willentlichen) Misserfolg verantwortlich.
Politische Verantwortung
Wir können zwei Arten politischer Verantwortung (Verantwortung hier im Sinn von Verpflichtung) unterscheiden: die Verantwortung einer Regierung (o. Ä.) gegenüber den Bürgern und die Verpflichtungen der Bürger, etwa an Wahlen teilzunehmen oder sich gegen Ungerechtigkeiten im eigenen Land zu engagieren. In beiden Fällen kann man die Frage stellen, wer verantwortlich ist (jetzt wieder im Sinn von: wem es zugerechnet werden kann), wenn diese Verpflichtungen verletzt werden: die Individuen oder Kollektive? Lässt sich diese Art der Verantwortung auf die gleiche Weise erklären wie die individuelle Verantwortung, die ich bislang diskutiert habe? Ich glaube, dass die Antwort – mit einigen Modifikationen und Zusatzbedingungen – ‚Ja’ lautet. Allerdings kann ich dafür hier nicht mehr argumentieren.
Sie interessieren sich für das Thema Verantwortung? Hier finden Sie einen Themenschwerpunkt dazu.
Quellen
Nagel, Thomas 1976: ‘Moral Luck’, Proceedings of the Aristotelian Society, Suppl. Vol. 50 (226): 115-151.
Raz, Joseph 2011: From Normativity to Responsibility, Oxford: Oxford University Press.
Sher, George 2009: Who Knew? Responsibility Without Awareness. New York: Oxford University Press.
Smith, Angela 2015: ‘Responsibility as Answerability’, Inquiry: An Interdisciplinary Journal of Philosophy, 58:2, 99-126.
Zimmerman, Michael J. 2002: ‘Taking Luck Seriously’, Journal of Philosophy, 99 (11): 553-572.