Gedankenexperiment: Zum Leben verurteilt
Vitalia hat das Geheiminis des ewigen Lebens entdeckt und geschworen, es zu vernichten.
Zweihundert Jahre zuvor hatte ein gewisser Dr. Makropulos ihr die Formel für ein Unsterblichkeitselixier verraten, das sie in ihrer jugendlichen Naivität mixte und trank. Inzwischen verfluchte sie sich für ihre Lebensgier. Freunde, Geliebte und Angehörige waren alt geworden und gestorben; sie war allein. Ohne die Endgültigkeit des Todes fehlte es ihr an Antrieb und Ehrgeiz, und alle Projekte erschienen ihr sinnlos. Sie langweilte sich und sehnte sich nur noch nach dem Grab.
Genau diese Sehnsucht hatte ihr im vergangenen halben Jahrhundert das einzige Lebensziel gegeben. Jetzt besass sie endlich das Gegenmittel zu dem Elixier, das sie einige Tage zuvor geschluckt hatte. Schon fühlte sie, wie ihr Körper schwächer wurde. Blieb nur noch sicherzustellen, dass kein anderer Mensch zu einem Leben wie dem ihren verdammt sein würde. Das Elixier selbst hatte sie längst vernichtet. Nun warf sie auch noch den Zettel mit der Formel ins Feuer. Als er in Flammen aufging, lächelte sie zum erstenmal seit Jahrzehnten.
(Quelle: "The Makropulos Case", in Problems of the Self von Bernard Williams, 1973)
Zur Frage "Wollen wir ewig leben?"
Ewiges Leben! Ist dies nicht ein Wunsch, den so mancher Menschen vor lauter Tatendrang und Freude am Leben schon einmal hatte? Wie steht es denn um die Sehnsucht vieler Leute, eine unsterbliche Seele zu haben? Hat die Unsterblichkeit der Seele vielleicht sogar etwas mit dem "Sinn des Lebens" zu tun? Inwiefern steht auch Hoffnung und Glück im Zusammenhang mit Unsterblichkeit? Oder anders herum gefragt: Macht uns der Tod denn soviel Angst und welche Argumente gibt es gegen die Todesfurcht?
Rund um das Thema (Un-)Sterblichkeit ranken sich vielerlei Fragen. Wir wollen uns hier nur ein paar Rosinen heraus picken und Vitalia Folgendes fragen:
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Unsterblichkeit und dem Sinn des Lebens?
Der berühmte russische Schriftsteller Leo Tolstoy argumentierte dafür, dass ein sinnvolles Leben erst dann "sinnvoll" sein kann, wenn die Taten in einem Leben einen nachhaltigen Effekt auf die Welt haben. Erst dann, wenn sich die Welt ändert, durch das, was man tut, ist es überhaupt erst erstrebenswert und "sinnvoll" die entsprechende Handlung vorzunehmen. Aus Tolstoys Sicht bedeutet dies aber auch, dass man dazu ein eigenes unsterbliches Selbst haben muss.(i) Eventuell, um selbst überprüfen zu können, dass die eigenen Taten langfristig Effekte haben?
Viele Philosophen haben sich gegen diese Sicht gewendet. Dies, mit der einfachen Begründung, dass ein "unendlicher" Effekt der eigenen Handlungen nötig ist, um von einem sinnvollen Leben sprechen zu können. (ii) Andere haben hingegen betont, dass man selbst nicht unsterblich sein muss, damit die eigenen Taten unendlich einen Effekt haben. (iii)
Unsterblichkeit ist langweilig!
Vitalia hat es selbst erfahren: Unsterblichkeit ist eher langweilig und scheint sich gerade nicht dazu zu eignen dem Leben einen Sinn einzuhauchen. Ganz im Gegenteil! So hat dies auch der Philosoph Bernard Williams gesehen. (vi)
Aber MUSS ein unendliches Leben denn langweilig werden? Und widerspricht Langeweilge tatsächlich einem sinnvollen Leben? Was wäre zum Beispiel, wenn sich jemand freiwillig zur Verfügung stellen würde, um sich zu langweilen, damit sich ganz viele Andere dafür nicht langweilen müssten - Wäre darin nicht schon wieder ein Sinn zu erkennen? (v)
Eine berühmte Philosophin, namens Martha Nussbaum, hat auch argumentiert, dass Unsterblichkeit unser Leben unbedeutend machen würde. Sie begründet das folgendermassen: Weil Vitalia nicht sterben konnte, konnte sie gewisse Tugenden nicht zeigen. (vi) Da es niemals um Leben oder Tod ging, konnte Vitalia beispielsweise niemals Mut beweisen. Aber hiess es nicht, Vitalia hätte Geliebte gehabt? Hat sie denn gar nicht geliebt? Ist es tatsächlich so, dass uns die Unsterblichkeit die Dringlichkeit und Kostbarkeit des Lebens wegnehmen würde? (vgl. vii) Es erscheint jedenfalls intuitiv diskutabel zu sein, dass Vitalia nur deshalb - nehmen wir an sie ist immer noch unsterblich -, unfähig sein soll, Mut zu beweisen oder zu lieben.
Aber: Der Tod ist uns nicht geheuer!
Die Alternative zur Unsterblichkeit ist aber der Tod und dieser ist mit einem hohen Mass an Ungewissheit verknüpft, welches viele Menschen nicht als angenehm empfinden. Nele Röttger hat das in ihrem Blogbeitrag folgendermassen begründet: "Keiner von den Lebenden hat ihn bereits erlebt und noch ist keiner von den Toten zurückgekehrt, um uns davon zu berichten. Bereits 300 Jahre vor unserer Zeitrechnung hat es in der antiken Philosophie Überlegungen zum „schauerlichsten aller Übel“ (viii) gegeben. Ein so schauerliches Übel ist der Tod wohlmöglich aufgrund der Ungewissheit, die wir mit ihm verbinden. Dabei ist nicht ungewiss, dass der Tod kommen wird, sondern wir wissen nicht, was das eigentlich heißt. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Sagen und Legenden und mindestens ebenso viele religiöse Vorstellungen vom Tod, an die die Menschen glauben. Doch wir wissen nicht, was es heißt, tot zu sein, so wie wir wissen, was es heißt, an einen Eiszapfen zu fassen oder ein Stück Schokolade zu schmecken. Wenn wir von allen Vorstellungen absehen, die sich in Religionen, Sagen und Legenden finden lassen, bleibt ein schnödes „nichts“ übrig – Totsein, das heißt einfach nur, dass man eben nicht mehr ist." (ix)
Ist das nicht noch viel langweiliger, als unsterblich zu sein?
Übrigens: Ein paar Argumente gegen die Todesfurcht findet man im Beitrag von Leonard Bregenzer auf Philosophie.ch.
Literaturverweise
i Tolstoy, L., 1884, A Confession.
ii Audi, R., 2005, “Intrinsic Value and Meaningful Life”, Philosophical Papers, 34: 354–55
iii) Levine, M., 1987, “What Does Death Have to Do with the Meaning of Life?” Religious Studies, 23: 462
iv) Williams, B., 1973, “The Makropulos Case: Reflections on the Tedium of Immortality”, in Problems of the Self, Cambridge: Cambridge University Press: 82–100.
v) Metz, Thaddeus, "The Meaning of Life", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2013 Edition), Edward N. Zalta (ed.)
vi) Nussbaum, M., 1989, “Mortal Immortals: Lucretius on Death and the Voice of Nature”, Philosophy and Phenomenological Research, 50: 303–51.
vii) James, L., 2009, “Shape and the Meaningfulness of Life”, in Philosophy and Happiness, L. Bortolotti (ed.), New York: Palgrave Macmillan: 54–67.
viii) Epikur: Von der Überwindung der Furcht, übersetzt von Olof Gigon, dtv Artemis Verlag, München 1991, S. 101.
ix) Nele Röttgers, 13. November 2017, Eine gewisse Ungewissheit: Der Tod, auf: https://www.philosophie.ch/philosophie/highlights/liebe-und-gemeinschaft/eine-gewisse-ungewissheit-der-tod