Philosophie war selten weiter entfernt von unserem Alltag als heute und dennoch ist sie besonders relevant in Zeiten wie den unsrigen. Philosophie war selten weiter entfernt vom Alltag als heute, denn die inhaltliche Spezialisierung in der akademischen Philosophie schreitet fortwährend voran und verengt so den Blick von den großen gesellschaftsrelevanten Inhalten auf die kleinsten technischen Details. Dadurch droht der Philosophie gesellschaftliche Irrelevanz.
Dennoch ist Philosophie besonders relevant in Zeiten wie den unsrigen, denn in Zeiten des wachsenden Populismus, verlorengegangener Dialogfähigkeit und schwankender Glaubwürdigkeit traditioneller und neuer Informationsquellen verlangt die Gesellschaft sowohl nach philosophischen Kernkompetenzen als auch nach Antworten auf traditionelle philosophische Kernfragen.
Die zentrale philosophische Kernkompetenz ist seit jeher die Fähigkeit, einen kritischen Dialog zu führen – ob dies nun ein innerer Dialog mit sich selbst ist (ein Nachdenken) oder ein Dialog mit Dialogpartnern. Ein kritischer Dialog widmet sich dem Verstehen, Analysieren und Bewerten von komplexen Begründungszusammenhängen. Der kritische Dialog ist somit ein argumentativer Dialog.
Der argumentative Dialog mit Dialogpartnern ist idealerweise darauf ausgerichtet, die Selbstbestimmtheit des anderen zu achten, indem seine Freiheit gewahrt wird, selbständig nach den für ihn besten Gründen zu entscheiden. Das bedeutet letztendlich, dass Zwänge – wie physische und psychische Zwänge – nicht vorkommen und keine unredliche Beeinflussung über manipulative Manöver stattfindet.
Der argumentative Dialog ist zugleich eine Antwort auf eine wichtige philosophische Kernfrage: Wie muss eine Gesellschaft aussehen, damit ein friedliches Miteinander trotz der Tatsache entstehen kann, dass Menschen immer wieder Meinungsverschiedenheiten haben und in Interessenkonflikte geraten? Einfach gesagt: Die Gesellschaft muss derart gestaltet sein, dass ihre Mitglieder Meinungsverschiedenheiten und Interessenskonflikte primär argumentativ lösen und nicht auf eine andere Art.
Natürlich ist der argumentative Dialog ein Ideal. Leider sind wir nämlich oft nicht rational und können auch Opfer nicht-rationaler Beeinflussung werden – sei dies nun in unseren Partnerschaften, Freundschaften, Arbeitsbeziehungen oder im politischen Austausch. In der Realität spielen nämlich neben rein rationalen Faktoren auch psychologische, soziale und politische Faktoren eine wichtige Rolle und führen häufig dazu, dass wir uns nicht-rational verhalten. Eine Ausbildung im kritischen Denken hilft, solchen Faktoren nicht die alleinige oder primäre Gewalt über die eigenen Entscheidungen, Überzeugungen und Emotionen zu überlassen. Kritisches Denken führt zu klaren, vernünftigen Urteilen. Ein argumentativer Dialog ist Hauptbestandteil des kritischen Denkens, denn nur ein solcher Dialog basiert strikt auf den Regeln des kritischen Denkens.
Wir – die Autoren dieses Textes – sind Philosophen, die sich darum bemühen, eine kommunikative Brücke zu schlagen zwischen Universität und alltäglicher oder beruflicher Praxis. Unsere kommunikative Brücke sind unsere Argumentationstrainings, in denen wir verschiedene Forschungsergebnisse zum kritischen Denken verschiedenen Menschen in der Praxis nahebringen.
Wir stehen dabei immer wieder vor der Herausforderung, die Regeln des kritischen Denkens so zu kommunizieren, dass sie nicht nur theoretisch gewusst, sondern auch praktisch gekonnt werden. Aber es gibt nicht die Praxis, sondern sehr verschiedene Ausprägungen: für eine Projektmanagerin sind andere Aspekte zentral als für einen Pflegegutachter. Immer gilt aber: Obwohl unsere Trainings hauptsächlich ausgerichtet sind auf eine verbesserte argumentative Kommunikation in der Arbeitswelt, erhoffen wir uns darüber hinaus, dass die in unseren Trainings erworbenen Kompetenzen auch auf die alltägliche Kommunikation der Teilnehmenden ausstrahlen – bis hin zu einer verbesserten Kompetenz in der politischen Meinungsbildung. Dieser breit gefächerten Zielsetzung unserer Trainings versuchen wir u. a. dadurch Rechnung zu tragen, indem wir mit Beispielen aus der Alltagswelt, der Arbeitswelt und der politischen Welt arbeiten.
Aufgrund von unserer Praxiserfahrung in unseren Trainings haben wir auch eine Außenperspektive erhalten auf die thematische Gewichtung in der Forschung und Lehre zum kritischen Denken. Zum Beispiel haben wir festgesellt, dass formale Aspekte von Argumenten sowohl in der Forschung als auch in der Lehre zum Nachteil anderer Aspekte überbetont werden. Formal sind diese Aspekte, weil sie sich lediglich auf die logische Form von Argumenten beziehen und vom Inhalt abstrahieren. Dabei geht es darum, festzustellen und zu überprüfen, wann eine Aussage aus einer oder mehreren anderen Aussagen tatsächlich auch logisch folgt. Zwar ist dies wichtig, um die Mechanik des argumentativen Dialogs zu verstehen, allerdings sind zwei weitere Aspekte in der Praxis von mindestens genauso großer Relevanz: die Aspekte Wirksamkeit und Wahrheit.
Zum Aspekt der Wahrheit: In einem argumentativen Dialog kommen Aussagen vor, die wahr oder falsch sein können. Da wir allerdings nicht alle Aussagen selbst auf Wahrheit prüfen können, sind wir auf glaubwürdige Quellen angewiesen. Was aber ist eine glaubwürdige Quelle? Eine glaubwürdige Quelle ist eine Quelle, die verlässlich wahre Informationen bereitstellt. Glaubwürdige Quellen hinsichtlich bestimmter Themen können u. a. Wissenschaftler, Journalisten oder Augenzeugen sein oder die textlichen, visuellen und auditiven Inhalte, die sie hervorbringen (z. B. in Zeitungen, wissenschaftlichen Publikationen oder Videos).
Heutzutage sind jedoch zentrale Quellen in Bedrängnis geraten, die vormals als äußert glaubwürdig galten: speziell die Wissenschaft und die Mainstreammedien. Es herrscht regelrecht eine Glaubwürdigkeitskrise. Als kritischer Denker braucht man daher Kriterien für die Glaubwürdigkeit von Quellen. Anders gesagt: Als kritischer Denker braucht man eine rudimentäre Erkenntnistheorie, die einem Kriterien dafür an die Hand gibt, welche Quellen zu Wissen führen, das auf einer soliden Basis fußt. Was sind das aber für Kriterien? Mögliche Beispiele sind: intersubjektive Überprüfbarkeit und Verlässlichkeit. Beispielsweise haben wissenschaftliche Theorien den Anspruch, intersubjektiv überprüfbar zu sein und verlässliche Vorhersagen zu machen, während es astrologischen Theorien genau an diesen Punkten mangelt.
In unseren Trainings diskutieren wir mit den Teilnehmenden neben den Kriterien intersubjektive Überprüfbarkeit und Verlässlichkeit noch zahlreiche weitere Kriterien. Insbesondere geht es auch um Kriterien, die für das Internetzeitalter wichtig sind und die uns vor Irrwegen schützen können (indem sie uns z. B. helfen, „Fake News“ zu identifizieren oder Bestätigungsfehler zu vermeiden, die durch Echokammern und Filterblasen entstehen).
Nun zum Aspekt der Wirksamkeit: Um den Gesprächspartner zu überzeugen, hilft es in der Praxis oft nicht, lediglich wahre Aussagen zu tätigen und sich auf gute Wissensquellen zu stützen. Im Gegenteil, dies kann den Gesprächspartner geradezu verschließen für neue Perspektiven und seine Position verhärten, wie aktuelle Forschung zum sogenannten „backfire effect“ zeigt. Es braucht deswegen noch einen weiteren Aspekt, der in der Theorie zum kritischen Denken bisher noch eine zu geringe Rolle spielt, in unseren Trainings allerdings eine sehr große Rolle einnimmt. Diesen Aspekt nennen wir Wirksamkeit.
Bei Wirksamkeit geht es darum, die Perspektive des anderen zu würdigen und ihn dadurch für eine Erweiterung seiner Perspektive zu öffnen. Hierzu muss man sich allerdings zunächst in die Werteperspektive des Gegenübers hineinfragen – sie verstehen – und ihm dann zeigen, dass die angeführten Fakten für seine Werte und seine Bedürfnisse relevant sind. Wirksam zu argumentieren bedeutet also, dem Gegenüber zu zeigen, dass diejenigen Fakten, die man anführt, vor dem Hintergrund seiner eigenen Perspektive von ihm ernstgenommen werden sollten.
Ein Beispiel, um Wirksamkeit zu illustrieren: Arnold Schwarzenegger hat dem Sender CNN im November 2018 ein Interview gegeben, in dem es um seine politische Rolle als ehemaliger Gouverneur von Kalifornien und den Klimawandel geht. Im Interview sagt Schwarzenegger, dass die Klimaschützer bisher einen schlechten Job gemacht haben, um den Klimaschutz wirksam zu „verkaufen“. Sie würden zwar immer Fakten anführen, aber leider Fakten, die der Großteil der Bevölkerung nicht für relevant genug hält: z. B. das Aussterben des Polarbären oder was in ferner Zukunft mit dem Planeten Erde geschieht. „Niemanden kümmert das“, sagt Schwarzenegger, „wenn er hier und jetzt einen Job haben will und hier und jetzt Essen auf den Tisch bringen möchte.“ Was die Leute kümmere sind Dinge, die sie und ihre Familie direkt betreffen: „Der Klimawandel sorgt dafür, dass dein Kind frühkindliches Asthma bekommt.“ Wenn sie das hören, dann reagieren die Leute Schwarzenegger zufolge ganz anders, denn diesen Fakt halten sie für unmittelbar relevant.
Zusammenfassend sagen wir: Kenne dein Gegenüber! Überlege, was es für relevant hält. Aber: überlege nicht nur – frage nach und höre zu! Führe dann vor diesem Hintergrund relevante Fakten an, die dein Gegenüber von deiner eigenen Position wirksam überzeugen könnten. Nur so spielst du das Spiel eines kritische-argumentativen Dialogs praxistauglich.