Es ist Winter 2020. Genau genommen, kalendarischer Winter. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich keinen Winter. Das ist in Ostwestfalen nicht überraschend – wir gelten ja als die deutsche Regenregion Nummer 1 und da ich hier schon länger wohne, habe ich einige schneelose Winter erlebt. Allerdings erscheint die undefinierbare Jahreszeit hinter meinem Fenster nicht mehr so harmlos, wenn man auf die in Zahl und Dringlichkeit steigenden Berichte über die klimatischen Irregularitäten aus der ganzen Welt achtet. Jüngst unterschrieben 11.000 Wissenschaftler*innen eine Klimakrisen-Warnung,1 was eine Verschiebung des öffentlichen Diskurses über den anthropogenen Klimawandel zur Folge hatte. Wo einige noch gerne über Meinungen sprechen, belegten die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Appels ihre Behauptungen mit empirischen Daten, womit sie uns vor Fakten stellen wollen.
Als Philosophin reagiere ich aufmerksam auf diese Dynamik, denn sie ist auf zahlreichen philosophischen Ebenen relevant: zum Beispiel im Sinne der Umweltethik, philosophischen Migrationstheorien, diskursiven Machttheorien, und natürlich der politischen Philosophie. Als Arendt-Forscherin bin ich hauptsächlich am menschlichen Handeln und seinen Bedingungen interessiert. Das Handeln und das damit einhergehende Sprechen ist nach Hannah Arendt die zentrale menschliche Aktivität, oder eben die, die unser Leben menschlich macht:2 „kein Mensch kann des Sprechens und des Handelns ganz und gar entraten. […] Ein Leben ohne alles Sprechen und Handeln […] wäre buchstäblich kein Leben mehr.“3 Das Handeln ist durch die existenzielle Bedingung der Pluralität bestimmt. Damit meint Arendt das paradoxe Faktum, dass alle Menschen als Menschen dasselbe sind und zugleich unendlich unterschiedlich, qua Geburt, als einzigartige Individuen.4 In diesem Sinne haben alle Menschen, da sie als Neuankömmlinge in die Welt treten, eine Begabung, etwas Neues in dieser Welt anzufangen.5 Wenn Menschen zusammenkommen, voreinander erscheinen, miteinander sprechen und handeln, entsteht für Arendt Öffentlichkeit: ein politischer Raum, in dem das Neue entstehen kann. Eine solche basale Vorstellung des Handelns, noch jenseits von Institutionalisierung, ermöglicht politische Partizipation, die unser Leben erst menschlich macht.
Dabei ist wichtig, dass Handeln einer Entscheidung bedarf, die geschützte Sphäre des Privaten zu verlassen und Mut zu zeigen, sich vor anderen in der Öffentlichkeit zu exponieren.6 Im Kontext der Klimakrise kommt hier eine Person in den Sinn: die umstrittene schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg, die 2018 als 15-jährige Schülerin eine merkwürdige Aktion anfängt. Jeden Freitag schwänzt sie die Schule und setzt sich vor das Parlamentsgebäude in Stockholm mit einem selbstgemachten Schild: „Skolstrajk för klimataet“ – Schulstreik für das Klima. Vieles könnte über die Entwicklung einer globalen Bewegung erzählt werden, die daraus erwachsen ist. Ich sage nur kurz, dass die Reaktionen darauf – off- und online – gespaltet sind. Einerseits werden junge Aktivist*innen, die an dem Streik teilnehmen von prominenten Politiker*innen aufgefordert, in ihrer Freizeit zu streiken (sic!); sie werden zu Werkzeuge in den Händen zynischer (wenn nicht teuflischer) Lobbyisten erklärt, die Gerüchte über Klimakatastrophe verbreiten.7 Andererseits mobilisiert die Bewegung eine öffentliche Diskussion, jenseits der Panikmache. Politiker*innen, die Parteien vertreten, welche traditionell nicht einer ökologischen Schiene zuzuordnen sind, adressieren die Frage und machen diesbezüglich politische Vorschläge. Auch immer mehr Menschen, die sich nicht in institutionalisierter Politik engagieren, erkennen die Relevanz dieser Problematik für das eigene Leben. Ob all das langfristig nachhaltige Praktiken, neue wirtschaftliche Regelungen und technologische Entwicklung mit sich bringt, wird sich noch zeigen.
Nun möchte ich hier nicht entscheiden, ob die Diagnose des Klimawandels richtig ist, oder gar jemanden überzeugen. Ganz im Sinne Arendts, bin ich eher daran interessiert, wie und nicht was man politisch denken soll.8 Deshalb spreche ich an dieser Stelle nur eine Frage an, die sich meiner Reflexion anschließt.
Es passiert oft in der ‚großen‘ Öffentlichkeit, aber auch in akademischen Diskussionen oder Gesprächen mit mir bekannten Menschen, dass Greta Thunberg die politische Subjektivität abgesprochen wird. Sie sei ein Kind – ein Kind mit Behinderung, sogar – und die Aufgabe ihrer Eltern sei es, sie zu schützen. In ihren öffentlichen Reden gebe sie sich die Blöße, Sachen so oder anders zu kommunizieren und ihre Emotionen zu zeigen, wodurch es offensichtlich werde, dass sie zu unreif sei für diese Rolle. Interessanterweise teilt auch Arendt diese Perspektive auf ‚Politisierung‘ der Kinder. In The Crisis in Education argumentiert sie, dass Kinder vor dem Licht des Politischen geschützt werden sollen, und zwar nicht, um ihnen der Chance, etwas Neues anzufangen zu enthalten, sondern um sie auf genau diese Aufgabe vorzubereiten.9 In Reflections on Little Rock schreibt sie über die Desegregation in den US-amerikanischen Schulen der 50er Jahre und fragt kritisch: “Have we now come to the point where it is the children who are being asked to change or improve the world? And do we intend to have our political battles fought out in the school yards?”.10 Die Jugendliche, die in Little Rock eingeschult wurden, waren zwischen 15 und 17 Jahre alt, also im Alter von Greta Thunberg. Ich argumentiere gegen diese Einschränkung, und zwar auf der Grundlage von Arendts eigener Auffassung vom Handeln.
Das Handeln, als ein Teil der vita activa, ist eine Praxis.11 Jede tätige Erfahrung kann nur durch eine der jeweiligen Praxis entsprechende Übung erworben werden.12 So muss auch das Politische geübt werden. Aber wann und von wem? Junge Erwachsene gewinnen politische Rechte automatisch durch das Erreichen eines bestimmten Alters. Es wäre unlogisch, sie bis zu diesem Zeitpunkt krampfhaft vor der Welt zu schützen, um sie dann ins kalte Wasser zu werfen.
Politische Subjektivität und somit politische Partizipation – und ich spreche hier nicht über institutionalisierte Politik, sondern über arendtsches Handeln in pluralen politischen Räumen – ist nicht vom Alter abhängig, sondern von politischer Kompetenz. Eine solche Kompetenz setzt sich aus politischem Denken (der Fähigkeit, eine Sachlage aus mehreren Perspektiven zu reflektieren) und dem Mut, in die Öffentlichkeit zu treten (den Greta Thunberg ohne Zweifel zeigt), zusammen. Ihre Entwicklung braucht Zeit, aber, gemäß Pluralität, kann dies unterschiedlich lange dauern – und manche werden dafür nie reif sein. Es liegt auch nahe, dass Jugendliche, die noch nicht routiniert mit Fragen von politischer Relevanz umgehen, die Radikalität des arendtschen Handelns auf eine besondere Weise verkörpern: Sie geben sich die Blöße, zeigen ihre Emotionen und nennen das Problem beim Namen. Es ist deshalb völlig unfair, jungen Aktivist*innen die politische Kompetenz automatisch abzusprechen.
Bibliographie
Ripple, William J., Christopher Wolf, Thomas M. Newsome, Phoebe Barnard, William R. Moomaw, World Scientists’ Warning of a Climate Emergency, BioScience, Volume 70, Issue 1, January 2020, Pages 8–12, https://academic.oup.com/bioscience/article/70/1/8/5610806 (abgerufen: 21. Februar 2020).
Arendt, Hannah, Vita activa, Piper, München/Zürich 2007.
Arendt, Hannah, Between Past and Future, Penguin Classics, New York u.a.O. 2006.
Arendt, Hannah, Reflections on Little Rock, Dissent, 6, 1959, S. 45 – 56.
1 William J. Ripple u.a. World Scientists’ Warning of a Climate Emergency.
2 Arendt, Vita activa, S. 16f.
3 Arendt, Vita activa, S. 214f.
4 Arendt bestreitet, dass es etwas wie ‚menschliche Natur‘ gäbe und definiert Menschen als unendlich bedingte Wesen, für die alles, womit sie in Berührung kommen, zur Bedingung ihrer Existenz wird, Vita activa, S. 18.
5 Arendt, Vita activa, S. 216f.
6 Arendt, Vita activa, S. 219.
7 Ich gebe die Autor*innen und Quellen dieser Äußerungen bewusst nicht an. Wer Interesse hat, wird nach einer kurzen Internetrecherche fündig.
8 Hannah Arendt, Between Past and Future, S. 14.
9 Hannah Arendt, Between Past and Future, S. 193.
10 Hannah Arendt, Reflections on Little Rock, S. 50.
11 Hannah Arendt, Vita activa, S. 17.
12 Hannah Arendt, Between Past and Future, S. 13.