Falschgeld. Über die (nie) bedingungslose Gabe

Bei der harmlos anmutenden Frage, ob wir geben können, handelt es sich um eine der Fragen überhaupt. Warum dem so ist, lässt sich feststellen, wenn man die Gabe konsequent auf ihre Bedingungen prüft.

    Man würde ja kaum vermuten, dass es sich bei der harmlos und naiv anmutenden Frage, ob wir denn geben können, um eine der, ja vielleicht sogar die Frage überhaupt handelt. Dazu müsste man sich zunächst einmal darüber klar werden, was geben, wirklich geben, überhaupt meint. Just diese Frage stellt Jacques Derrida in seinem Buch „Falschgeld“. Er stellt sich die lapidar anmutende Frage, ob es Gabe geben kann. Bedingung der Existenz der Gabe ist, dass das Gegebene der Gabe nicht zu dem Gebenden zurückkehrt; oder: Bedingung der Existenz der Gabe ist ihre Bedingungslosigkeit. Denn allein, was gegeben wird, ohne auch nur die geringste Spur einer Rückgabeforderung zu implizieren, ist frei von egoistischen Motiven und entspricht deshalb einer wirklichen Gabe.

    Dazu darf die Gabe nicht zirkulieren, nicht getauscht werden, auf keinen Fall darf sie sich verschleißen lassen im Prozess des Tausches, in der kreisförmigen Zirkulationsbewegung einer Rückkehr zum Ausgangspunkt.[1] Das „ewige Spiel“ von Gabe und Gegengabe müsste also unterbrochen werden, denn nur die Unterbrechung ginge mit der vollständigen Abwesenheit egoistischer Motive einher: Deshalb wäre es nötig, dass der Gabenempfänger nicht zurückgibt, nicht begleicht, nicht tilgt, nicht abträgt, keinen Vertrag schließt und niemals in ein Schuldverhältnis tritt. Die Unterbrechung des Kreislaufes muss absolut sein.

    Letztlich darf der Gabenempfänger die Gabe nicht einmal als Gabe an-erkennen. Wenn er sie als Gabe an-erkennt, wenn die Gabe ihm als solche erscheint, wenn das Präsent ihm als Präsent präsent ist, genügt diese bloße An-erkennung, um die Gabe zu annullieren. Die Anerkennung annulliert, weil sie der Sache selbst ein symbolisches Äquivalent zurückgibt. Um die Gabe als solche zu unterminieren, reicht es, dass der andere die Gabe wahrnimmt, und zwar nicht einmal in dem Sinne, wie man eine günstige Gelegenheit wahrnimmt, nein, er muss bloß ihre Gabennatur als solche wahrnehmen, den Sinn oder die Intention, den intentionalen Sinn der Gabe, damit dieses bloße Erkennen der Gabe als Gabe, noch bevor es zu einer Anerkennung als Dankbarkeit wird, die Gabe als Gabe annulliert.

    Die bloße Identifikation als Gabe scheint sie zu zerstören. Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen, weder dem Gabenempfänger noch dem Geber: Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie nicht als Gabe präsent ist. Sobald der Empfänger annimmt, sobald er nimmt, gibt es keine Gabe mehr. Folglich gibt es keine Gabe, wenn es keine Gabe gibt, aber eine Gabe gibt es auch dann nicht, wenn es eine Gabe gibt, die vom anderen als Gabe gewahrt oder bewahrt wird; in jedem Fall existiert und erscheint die Gabe nicht. Wenn sie erscheint, erscheint sie nicht mehr.[2]

    Derridas rigider, präziser und konsequenter Offenbarungsakt zielt weniger auf die unmögliche Verborgenheit der Gabe selbst – sie konnte noch nie verborgen gegeben werden –, als auf den Glauben, es könne eine solche Verborgenheit geben: Eine reine, von jedem Empfänger unberührte Gabe gäbe es einzig dann, wenn sie von ihrem Empfänger unberührt bliebe. Sie dürfte nicht als Gabe angenommen werden, ja überhaupt keine Gabe sein.[3] Die Gabe wäre nur möglich in einem Zustand, in dem wir nicht mehr wissen, dass wir eine Gabe geben oder empfangen wollen, weshalb sie keine Gabe mehr sein kann. Die Gabe ist somit das, was von Anfang an unmöglich ist. Da es sie nicht geben kann, ohne dass in ihr Gegebenwerden bereits eine Rückgabe irgendwelcher Art involviert ist, gibt es die Gabe nicht.

    Dass es immer und zwingend Rückgabe gibt, bedeutet nichts anderes, als dass diese Rückgabe der Gabe in den Konsequenzen, die sie notwendig zeitigt, vorangeht. Ob der Geber das nun will oder nicht: Die Gabe ist, bevor sie gegeben wird, von der immer und zwingend erfolgenden Rückgabe bedingt. Die Kausalitäten erscheinen einem nur verkehrt: Da die Gabe gar nicht anders kann, als auf ihre Erwiderung hin gegeben zu werden, löst die zwingend erfolgende Rückgabe sie erst und eigentlich aus.

    Selbstredend gibt es die Möglichkeit, komplexe Handlungssysteme auf Gaben und Gegengaben beruhend zu errichten, nur: die bedingungslose Gabe, die Gabe – etwas pathetisch: die allein wahre Gabe –, die gibt es nicht. Sowie eine Gabe von irgendjemanden als solche erkannt wird, hat sie ihr Dasein als solche auch schon verwirkt. Um aber überhaupt sein zu können, was zu sein, sie beabsichtigt, muss sie zwingend als solche erscheinen, also von jemanden gesehen werden. Erscheint sie nun, hat sie deshalb die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen Existenz bereits untergraben. Die Gabe wird demnach bereits vom Gedanken sie annulliert. Denn durch diesen allein steht sie unter einer a priori wirksamen Beobachtung, die verhindert, dass sie sein kann, was sie sein will. Derselbe Gedanke, der sich die Frage stellt, ob es denn wirklich möglich ist zu geben, ist auch schon jener, der just das verunmöglicht hat.

    Das Geben wird unter Bedingungen vollzogen, die ihm, noch bevor es vollzogen wird, verunmöglicht haben, ganz das zu sein, was es sein will – und zwar ohne, dass diejenige Person, die geben will, sich dessen irgendwie erwehren könnte. Da die Gabe nicht ohne Beobachtung existieren kann, geht diese ihr als ihr eigentlicher und wohl hauptsächlicher Produzent voran. Dieselbe Beobachtung, die sie gewährleistet, hat ihr auch schon den Status als solches genommen. Wer geben will, wird – gerade deshalb – die Unumgänglichkeit jener Spur von diesem Geben-Wollen schon enthaltener Rückgabe feststellen, der einer Gabe nicht enthalten sein dürfte, weshalb sie nie ganz das ist, als was sie in Erscheinung tritt. Selbst wer wirklich und unbedingt geben will, findet den diesbezüglichen Wunsch bereits von etwas untergraben vor, das außerhalb von ihm liegt. Denn auch dieser Gedanke muss ein ihm von außen zugeführter sein.

    Die Bedingungen der Möglichkeit der Gabe sind aufgrund ihres Erscheinen-Müssens oder ihres Nicht-Nicht-Erscheinen-Könnens a priori negiert. In diesem Sinne sind wir immer schon Ausgesetzte. Denn wenn wir nicht geben können – oder besser: wenn wir gar nicht anders können, als auch zurückzugeben, und wir das auch dann tun, wenn wir uns glauben lassen, wir würden geben –, dann ist bereits etwas da, mit dem wir wohl umzugehen, über das wir aber nicht zu entscheiden haben. Als immer schon in irgendeiner Weise Beobachtete – durch unsere unvermeidbar kontaminierten Gedanken beobachten wir uns selbst[4] – geht uns eine Art implizites Gesetz voran, wie auch immer sich dieses Gesetz konkret artikuliert. Und dieses Gesetz kann expliziert werden.

    Das führt zurück zur Ausgangsfrage: Hat, wer unter Beobachtung gegeben hat, wirklich gegeben? Die treffendste Antwort wäre wohl ein entschiedenes „Jaein“. Insofern unser Geben nur unter einer unumgänglichen Beobachtung stattfinden kann, ist diese als ihr eigentlicher Auslöser in weiten Teilen, wenn auch nie ganz, identisch mit ihr. Wenn man jemandem etwas geschenkt hat, ist unzweifelhaft etwas entrichtet worden, aber die vermeintliche Gabe ist schon zum Zeitpunkt ihres Gegebenwerdens von dem bedingt, was man vorher in Empfang genommen hat, weshalb sie die Gabe nicht sein kann, als die sie sich gibt. Schließlich bindet sich nicht nur, das wissen wir von Mauss, wer gibt, sondern auch, wer empfängt.[5] Und empfangen hat man immer schon. Man kann ja gar nicht anders. Und bei dem, was man schon empfangen hat, kann es sich um den vermeintlich so unbedenklichen Gedanken an die Freude handeln, von der man annimmt, dass jemand sie empfindet, wenn man ihm etwas schenkt. Diesem harmlosen Gedanken wohnt die unheimliche Macht inne, die Gabe zu annullieren.

    Von Falschgeld ist deshalb zu sprechen, weil der Grund solcher Handlungen nicht allein in ihrem nur vermeintlichen Urheber liegen kann. Wenn die Rückgabe der Gabe vorangeht, dann liegt der auslösende Grund des gebenden Handelns außerhalb desjenigen, der da für alle ersichtlich gibt. Dass es um Falschgeld handelt, macht es allerdings nicht grundsätzlich falsch. Es bedeutet nicht viel mehr und nicht viel weniger, als dass eine als gebend erscheinende Handlung eine in irgendeiner Form kontaminierte ist. Ihren notwendig falschen Grund wird sie nicht mehr los, was gerade nicht meint, dass sie nicht dennoch größtenteils „richtig“ sein kann.

    Da wir gar nicht anders können, als (zurück-) zu geben, kann man das erwähnte implizite Gesetz festmachen: Das tatsächlich wirksame Gesetz liegt in dem, was es strukturell nicht geben kann: In der eigentlich unmöglichen Gabe verbirgt sich das Gesetz. Die immer unvollständige Gabe ist das, was immer schon über uns verfügt, sie ist das, was uns von Anfang an aufgezwungen ist, und, das ist das eigentlich Unbarmherzige, das ist sie auch dann, wenn wir ehrlich und redlich nur geben wollen. Denn es bleibt dabei: Unsere gebenden Handlungen müssen als solche erscheinen, weshalb sie nie, zumindest nie ganz, das sein können, als was sie sich zeigen und zwar, weil sie sich zeigen müssen.

    Falsch nun wäre es, einen schroffen Gegenüberstellung zwischen uns und der der Gabe, die über uns verfügt, zu insinuieren. Dass wir (zurück-)geben müssen, verweist ja unverkennbar darauf, dass die Gabe unumgänglich Teil unserer Gedanken und Handlungen, sie also in uns ist. Wenn wir geben, dann „tun wir die Gabe“. Das verweist auf ein Wechselverhältnis: Indem wir geben, erzeugen und bestätigen wir immer auch die Gabe, der wir geben. Und wenn wir „anders geben“, bringen wir entsprechend eine andere Gabe in Existenz.

    Diesem Verständnis nach ist – oder: war? – Gott nichts anderes als eine Gabe, die uns gezwungen hat, ihm durch gefällige Handlungen zu geben. Und bei Gott handelt es sich um eine Gabe, die man sich als eine vorstellt, die in einen dringen und alles sehen kann, wie an einer von vielen exemplarischen Stellen in der Bibel deutlich wird: „Denn lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch die bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens; vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden.“[6]

    Wer nun weiß, dass jegliches Handeln, auch und vor allem das nur vermeintlich verborgene, von Gott eingesehen werden kann, der wird das intendierte Handeln durch Gott/die Gabe prüfen, bevor er dann (zurück-)gibt. Das Handeln begleicht eine schon bestehende Schuld. Wer seine Schulden an Gott entrichtet, der sündigt nicht, wer sie ihm vorenthält, der sündigt.[7] Das Problem der Rückgabe an Gott bleibt ersichtlich das beschriebene der Gabe: Ein gottgefälliges oder gottgewolltes Handeln kann zwar ausgeführt werden, nur handelt es sich deshalb nicht um die bedingungslose Gabe an Gott, als die es in Erscheinung tritt, weil ihre Konditionen vorgängig durchdacht worden sein müssen. Sonst könnte man schlechterdings nicht wissen, was als gottgefällig gilt. Bei Gott handelt es sich insofern um ein doppeldeutiges Phänomen, als er dadurch, dass seine Beobachtung internalisiert wird, zwar als Garant des ihm gefälligen Handelns wirkt, weil aber diese vorgängige göttliche Beobachtung dafür vonnöten ist, ist das gottgefällige Handeln nie wirklich, nie ganz – gottgefällig. Denn was auf eine Beobachtung hin geschieht, kann nicht frei von egoistischen Intentionen sein.[8]

    Ironischerweise verhält es sich mit dem Atheismus ähnlich. Wer sich als Atheist versteht, muss dafür ein gewisses Gedankengut in sich aufgesogen haben, das in Handlungen umgemünzt wird, die diesem Selbstverständnis entsprechen. So wird es zurück in jene Außenwelt getragen, in der man es überhaupt erst zur Kenntnis genommen haben kann. Auch da ist eine Selbstbeobachtung durch eine Peergroup involviert, die sich als atheistische präsentiert – wobei sich das Verhalten in grundlegenden Punkten vielleicht nur marginal von einer Gruppe gottgläubiger Menschen unterscheidet. Sodann jedoch können Handlungen vollzogen werden, durch die man seinen Mitmenschen zu verstehen gibt, dass man jemand ist, der nicht an Gott glaubt. Daran allerdings sollte man glauben und auch jene, denen man das erzählt, sollten das glauben. Man tut dann nichts anderes, als seine schon bestehenden Schulden an den atheistischen Quasi-Gott zu entrichten.

    Gleich wie bei den gottgefälligen Handlungen handelt es sich auch bei den „atheismusgefälligen“ Handlungen um Handlungen, die geben, die an die ursprüngliche Gabe zurückgeben. Auch das atheismusgefällige Handeln kann in missionarischem Bekehrungseifer münden und auch der Atheismus kann einen Quasi- Gott hervorbringen, der sich (fast) absolut setzt und nichts mehr neben sich dulden will. Insofern verwundert es wenig, dass die Spuren des Atheismus ebenso alt wie jene der Religionen.[9] In diesem Sinne handelt es sich auch um eine Gabe, der man (sich durch seine Handlungen) zu geben hat. Auch der Atheist ist ein Glaubender. Er kann gar nicht anders, nur glaubt er an eine andere Gabe, die er aus für ihn selbst plausiblen Gründen der göttlichen Gabe vorzieht. Im Umgang mit der von ihm präferierten Gabe verhält sich der Gottgläubige durchaus ähnlich.

    So richtig es in gewisser Hinsicht ist, wenn Goethe meint, „das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibe der Konflikt des Unglaubens und des Glaubens“,[10] so falsch ist es in anderer. In Bezug auf die an dieser Stelle thematisierte Problematik ist es fast schon irrelevant, ob Gott existiert oder nicht.[11] Was tatsächlich vorliegt, ist ein Konflikt zwischen divergierenden Glaubensvorstellungen. Laut Žižek neigen wir dazu, öffentlich so zu tun, als würden wir nicht glauben, dabei ist in unserer angeblich atheistischen, hedonistischen, posttraditionalen, säkularen Kultur, in der niemand bereit ist, seinen Glauben offen einzugestehen, die zugrundeliegende Struktur des Glaubens nur um so weiter verbreitet.[12]

    Die Ironie liegt hier ersichtlich darin, dass die laut Žižek heimlich Glaubenden sich deshalb nicht öffentlich zu ihrem Glauben bekennen, weil… die Gabe eine andere ist. Die internalisierte Beobachtung durch die je Anderen bringt ein anderes, an der Oberfläche stattfindendes und nachvollziehbares Handeln hervor. Tendenziell atheistisch verbrämte Verhaltensweisen gelten als „cool“ – und sind sie nicht wirklich scheißcool? –, so entspricht man ihnen. Der Gabe am Grund, der man seine öffentlich nachvollziehbaren Handlungen zu geben hat, wäre demnach eine, die sich atheistisch zeigt. Und auch die, die ihr folgen, zeigen sich atheistisch.

    Tatsächlich liegt eher so etwas vor wie ein Doppelglaube: Die atheistische Gabe ist selbst eine, die entweder geglaubt oder zumindest so behandelt werden muss, als würde man an sie glauben; zudem wird sie fortlaufend von einem nur mangelhaft verdrängten Glauben (an Gott) unterlaufen. Und dieser unter- und deshalb mitlaufende Gott-Glaube kann die atheistische Gabe durchaus auch an der Oberfläche wieder zurückdrängen, um sich selbst an die Stelle zu setzen, die diese gepachtet hat. An den Versprechungen, die der jeweilige Glaube macht und daran, wie verheißungsvoll diese den je Gläubigen erscheinen und was sie schließlich bereit sind, dafür zu geben, wird sich dann erweisen, welcher Glaube durchschlagskräftiger ist.

    Die entscheidende Frage ist also immer weniger, ob man an die ursprüngliche Gabe glaubt, sondern wie man diese ausgestaltet. Wie wir geben, oder eben: wie die Gabe es uns erlaubt zu geben, davon hängt unser Handlungsspielraum ab. Die Gabe wirkt zwiespältig auf uns ein. Zum einen stehen wir immer in einem latenten Konflikt mit jener Gabe, die wir unumgänglich selbst erschaffen – und dieser kann potentiell jederzeit manifest werden. Denn da die Gabe nie ganz das sein kann, als was sie uns erscheint, muss sie, will sie sich möglichst unverändert an unserem Grund halten, unsere Handlungen so weit neutralisieren, wie ihr das möglich ist. Sie muss sich dann derart einrichten, dass wir fast nur an sie zurückgeben, was heißt: fast nur ihr gefällige Handlungen zu vollziehen. Je absoluter und zwingender sie dabei auf uns einwirkt, desto weniger Handlungsspielraum gewährt sie uns. Uns auf der anderen Seite müsste eigentlich daran gelegen sein, verändernd in das einzugreifen, was uns an sozialer Realität erscheint – denn eine Handlung, die nicht zumindest einen diesbezüglichen Versuch unternimmt, verdient ihren Nahmen kaum. Das erfordert einen verändernden Zugriff auf die Gabe.

    Dieser verändernde Zugriff auf die Gabe ist uns jederzeit möglich. Sie kann „nur“ die Bedingungen erschweren, unter denen wir sie verändern können, diese allerdings kann sie bis zur Fast-Unmöglichkeit eines Zugriffs unsererseits steigern. Die bloße Möglichkeit wiederum, die Gabe jederzeit durch ein anders geartetes Handeln verändern zu können, verweist umgekehrt darauf, dass sie nie ganz richtig sein kann. So können wir gar nicht anders, als einen immer und notwendig übrig bleibenden Rest an Falschgeld durch unsere Handlungen reinzuwaschen. Wir leben demnach in einer Wirklichkeit, die nicht anders kann, als uns zu Maßen zu verleugnen.[13]

    Dennoch sollte man den notwendig übrig bleibenden „falschen Rest“ in unserem Handeln immer eher als Chance verstehen: Da wir immerhin versuchen können, das, was falsch bleibt, zu überwinden, ohne es je ganz überwinden werden zu können, ist es das, was uns überhaupt ein eingreifendes Handeln ermöglicht. All das zieht ein ganz wunderbares Fazit nach sich: Wenn es auch zu Teilen wider unseren Willen geschieht, da wir gar nicht anders können, als uns mit jener Gabe zu arrangieren, die uns genauso ermöglicht, wie sie uns verunmöglicht, müssen wir wohl an sie – glauben. Oder kurz: Die bedingungslose Gabe gibt es nicht, an sie glauben müssen wir trotzdem, das heißt eigentlich: deshalb!


    [1] J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. München 1993: S. 17.

    [2] Ebenda: S. 24-26.

    [3] G. Benningtion/J. Derrida, Jacques Derrida. Ein Porträt. Frankfurt am Main 1994: S. 197.

    [4] Damit „überwältigt“ Derrida implizit Kant: Wenn von moralischem Wert die Rede ist, kommt es ihm nicht auf Handlungen an, die man sieht, sondern auf innere Prinzipien, die man nicht sieht. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kritik der praktischen Vernunft und andere kritische Schriften. Werke 3. Köln 1995: S. 198. Just diese inneren Prinzipien sind aus genannten Gründen immer schon gesehene, also kontaminierte. Das heißt, Derrida hat eigentlich „nur“ gezeigt, dass die jeweiligen Forderungen schon überwältigt waren, als sie erhoben worden sind.

    [5] Anzufügen wäre hier noch, dass Derrida gerade den seiner Ansicht nach etwas leichtfertigen Umgang Mauss’ mit dem Begriff der Gabe kritisiert. M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main 2013: S. 153.

    [6] Hebräer 4.12-4.13. Angefügt sei noch eine exemplarische Passage aus dem Alten Testament: „Denn Gott wird jedes Tun vor das Gericht bringen, das über alles Verborgene urteilt, es sei gut oder böse.“ Kohelet 12.14.

    [7] A. von Canterbury, Cur Deus Homo/Warum Gott Mensch geworden. Darmstadt 1965: S. 41.

    [8] Die apodiktische Bestimmung Schopenhauers, allein eine Handlung frei von jeglicher egoistischer Motivation sei eine von echtem moralischem Wert, setzt eine unmöglich zu erfüllende Bedingung. A. Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral. In: Sämtliche Werke in fünf Bänden. III. Band. Leipzig 1915: S. 597. Nicht nur Schopenhauer wälzt solche Gedanken, sondern beispielsweise auch Anselm von Canterbury, Denker des ominösen ontologischen Gottesbeweises: Eine gute Tat ist für ihn, wird sie wegen des zu erwartenden Ruhmes begangen, ohne eigentlichen Wert. A. von Canterbury. Über die Wahrheit. Hamburg 2001: S. 59. Wenn er von seinen Zuhörern fordert, „acht zu haben, die Gerechtigkeit nicht vor Leuten zu üben, um von ihnen gesehen zu werden; sonst haben sie keinen Lohn beim Vater im Himmel“, ist auch Jesus Christus mit diesem Problem befasst. Matthäus 6.1.

    [9] G. Minois, Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Weimar 2000: S. 30.

    [10] J. W. Goethe, Noten und Abhandlungen zum west-östlichen Diwan. Berlin 1952: S.128.

    [11] Diese Frage bleibt das, was sie immer geblieben ist – offen.

    [12] S. Žižek, Die gnadenlose Liebe. Frankfurt am Main 2001: S. 9.

    [13] Laut dem Soziologengespann Berger/Luckmann neigen wir Menschen dazu, uns eine Wirklichkeit zu schaffen, die uns verleugnet. P. L. Berger/T. Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1984: S. 96. Es ist dieselbe wie jene, die uns ermöglicht.