Und ich sehe dich, Simone De Beauvoir, in diesem Bild und doch anfassen kann ich dich nicht

Warum wir in Bildern Dinge sehen, die nicht existieren

    Ich bild´ mir eine Welt wie sie mir gefällt

    Jeder bewahrt irgendwo Bilder von geliebten Personen, ob eine Fotographie in der Geldbörse, eine Notiz oder ein gezeichneter Liebesbeweis der Tochter. Irgendwo bewahren wir es alle, die kleinen bildlichen Beweise der Zuneigung zu unseren Mitmenschen. Dabei verändern sich diese Bilder. Wie oft wird das Bild des geliebten Partners in der Geldbörse mit einem Streit dunkler und wie wunderschön ist auf einmal ein Muttermal, das man zuvor nie gesehen hat.

    Aber was heißt das für uns, wenn wir in Bildern etwas sehen, was vielleicht niemals existierte? Sehen wir Abbilder von etwas Bestimmten? Von etwas, das durch den Künstler oder den Fotographen bereits intendiert wurde? Ist es nicht so, dass Bilder als solche existieren, Gegenstände sind und etwas zeigen unabhängig von unserer Wahrnehmung? Warum sollte plötzlich das Muttermal meines Partners auftauchen, wenn ich es zuvor nie gesehen habe? Sind doch Bilder als Gegenstände gerade deswegen von Menschen zu unterscheiden, weil sie statisch sind, tot und nicht lebendig, nicht wandelbar. Warum also sehen wir Dinge, die nicht existieren?

     

    Wenn Gegenstände zu Bildern ernannt werden

    Der Philosoph Edmund Husserl (1859-1938), der als Begründer der sogenannten Phänomenologie gilt, behauptet, dass Bilder Phänomene sind. Sie existieren nicht einfach wie Gegenstände und doch sind sie vorhanden. Sie sind mehr als ein Traum.

    Dabei unterscheidet er zwischen drei verschiedenen Formen von Bildern: Das Bildsubjekt, das Bildobjekt und das Bildsujet. Das Bildsubjekt ist auch als Bildträger zu verstehen. Es ist die erste Form des Bildes, das, was wir sinnlich wahrnehmen, was physisch vorhanden ist und existiert. In diesem Fall ist es die Fotographie meines Freundes. Das zweite Element ist das Bildobjekt. Ich sehe in diesem Bild einen Menschen. Die Konturen verbinden sich. Die Farben formen sich. Ich sehe eine Person, die an meinen Freund erinnert. Die dritte Form, das Bildsujet, ist die Verknüpfung meiner Erinnerung an dich und meines Sehens mit den Augen. Das innere Auge - so wie es Husserl nennt – trifft hier das äußere Auge, die reine Wahrnehmung. Mithilfe meines Sehens und meiner Vorstellung begreife ich dieses Foto als ein Bild meines Freundes. Ich sehe dich, ich erinnere mich an dich und freue mich über dein Muttermal. Während ich dich betrachte bist du weit weg von mir. Du hast dich nach Berlin begeben. Dort existierst du und nicht hier auf einem Foto in meiner Geldbörse und doch sehe ich dich hier bei mir. Jeder kennt das, wenn wir diese Bilder ansehen, sehen wir etwas. Es ist mehr als eine Traumvorstellung und gleichzeitig wissen wir, dass wir keine Fotographie umarmen können, keine Stimme hören. Was passiert in diesen Momenten? „Image consciousness is a kind of perception, but a peculiar kind in that it is mediated, which ordinary perception is not.” (John Brough, Something that is nothing but can be anything, S. 546.)

     

    Was ist es nun das Bild?

    Das Bild ist ein Gegenstand, der mithilfe einer bestimmten Wahrnehmung eines Bildbewusstseins (Husserl) zu einem Bild ernannt wird. Dieses Bildbewusstsein befindet sich zwischen reiner Wahrnehmung und Traumvorstellung oder Phantasie. Dabei ist es interessant, dass Husserl eine Form von Bildtheorie entwickelt, die noch heute zutreffen kann. (Husserl lebt von 1859 bis ins Jahr 1938!) Für Husserl ist das Bild mehr als ein Abbild oder ein Zeichencharakter.

    Er behauptet: Wir müssen uns deutlich machen, dass wir selbst durch unsere Haltung und durch unsere Prägung bestimmte Objekte erst als Bilder anerkennen und wiederum andere Objekte als reine Gegenstände auffassen. Wenn das Bild nur ein Abbild wäre, ein Zeichen, dann müsste es allgemeine Regeln geben, wie die Sprache, die uns zeigt, wie wir etwas betrachten sollten. Doch wie erklärt sich, dass das Bild bei einem Streit dunkel wird, ich kein Lächeln mehr erkenne oder jemand anderes in diesem Bild keine Liebe, keinen Streit und keine Hoffnung sehen kann?

    Only I can experience what I visualize in imagination; it would be absurd to expect others to stand in line to contemplate my phantasies.” (John Brough, Something that is nothing but can be anything, S. 547.)

    Wir sehen etwas, was nicht da ist: Something that is nothing but can be anything. (Vgl. John Brough) In Bildern beginnen wir im Gegensatz zu Gegenständen etwas zu sehen, was nicht vorhanden ist. Ich sehe meinen Freund in meiner Geldbörse. Ich sehe Simone De Beauvoir in einer Fotographie.

     

    Das innere Auge

    Egal in welcher Formation und mit welcher Theorie man versucht ist, Bilder zu sehen und die Wahrnehmung von Bildern zu begreifen. Bilder sind Gegenstände und wir ernennen sie zu Bildern. Die Wahrnehmung von Bildern ist eine Brücke zwischen physischer Wahrnehmung und reiner Traumvorstellung. Was wir in diesen Bildern sehen ist eine Frage, die noch zu beantworten ist. Denn unser inneres Auge prägt unsere Sichtweiße wie das äußere Auge.

    Wir filtern, damit wir zu sehen lernen. Wir bilden uns eine Welt, wie sie uns gefällt. Dabei vergessen wir oft, dass gerade dieses Filtern ein Prozess ist, der uns das Leben leichter und erträglicher erscheinen lässt, nicht aber eine Antwort für das vermeintlich Eigentliche geben kann. Wir schaffen uns im Alltag Bilder, die uns gefallen und die wir selbst durch Rahmen setzen. Manchmal sind es Muttermale und manchmal scheint der Nebel den Vorrang zu haben auf uns und das, was wir sehen wollen.

     

    Warum hast du mich nicht gesehen?

    Als ich vor dir stand

    Mit tausend Blumen in der Hand

    Weiß angemalt waren sie

    Umringt vom Weiß des Schnee

     

    Warum hat Sie mich gesehen

    Als ich vor ihr stand

    Mit tausend Blumen in der Hand

    Weiß angemalt waren sie

    Umringt vom Blau am See

     

    Und der Rand setzt sich selbst

    durch uns und gründet eine Form

     

     

    Literatur

    Brough, John. “Something that is Nothing but Can be Anything. The Image and Our Consciousness of It.” In: The Oxford Handbook of Contemporary Phenomenology, herausgegeben von Dan Zahavi, 545-563. Oxford: Oxford University Press, 2015.

     

    Husserl, Edmund. Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898/1925). Bd. 23 aus Husserliana. Edmund Husserl: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Eduard Marbach. Den Haag: Martinus Nijhoff Publisher, 1980.