Sonne, Mond und Starre

Tiefenpsychologie und die Moral des Nichtstuns

    Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere hässlich und faul. Sie hatte aber die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere musste alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein.“ 

    Gebrüder Grimm: Frau Holle

    Kaum eine gesellschaftliche Gruppe erfährt so viel Missbilligung wie die Arbeitslosen. Der häufigste Vorwurf lautet, dass sie auf Kosten der Allgemeinheit leben würden, obwohl sie sich selbst versorgen könnten. Doch mit Bezug auf mangelnde Fairness in der Lastenverteilung allein gelingt es nicht, die Tiefe dieses Ressentiments zu begründen. Die zentrale und identitätsstiftende Stellung der Arbeit in modernen Gesellschaften trägt zwar sicherlich zur Erklärung bei. Doch darüber hinaus weckt der arbeitslose und damit offiziell als tätigkeitslos gestempelte Mensch eine Urangst, die nichts mit Arbeit, dem Arbeitsmarkt, Lastenverteilung oder Solidarsystemen zu tun hat: die Angst vor der Untätigkeit oder dem Stillstand.

    Seit der Industrie-Moderne nimmt die Arbeit einen immer größer werdenden Teil der Sinnstiftung und persönlichen Identität ein. Nicht zuletzt durch das Aufbrechen der familiären Produktionsgemeinschaft und die Individualisierung von Besitz wurde sie zur zentralen „Achse des Lebens“ und entscheidet über „soziale Sicherheit, soziales Prestige und Fortkommen“ [Schelsky: 211]. Man ist, was man arbeitet. Ohne Arbeit ist man folglich nichts und ein Leben ohne Arbeit gilt als sinnlos. Gleichzeitig sind rund 40 Prozent der Arbeitnehmer in Industrieländern heute davon überzeugt, dass die eigene Arbeit keinen erkennbaren sinnvollen Beitrag zur Welt leistet [Graeber: 23]. Wieso gilt die Arbeit an sich als sinnvoll, wenn so viele Menschen ihre Arbeit als sinnlos betrachten? Dahinter steckt eine sich selbstverstärkende Wechselwirkung: Gerade weil Arbeit häufig frei von sinnvollen Zwecken und Zielen ist, wird sie selbst zum Ziel und Zweck. Da sie selbst Ziel und Zweck ist, braucht sie keinen tieferen Sinn. Die Arbeitslosen stehen außerhalb dieses Zusammenhangs und verfestigen ihn als abschreckendes Beispiel. Die Arbeitenden fühlen sich darin bestätigt, das richtige Leben zu leben, weil die Nicht-Arbeitenden das falsche Leben leben [Mayr: 50]. Umso falscher das Leben der anderen, desto richtiger wirkt das eigene, wenn es aus sich selbst heraus keine Richtigkeit produzieren kann. Doch die Fetischisierung der Arbeit und Verächtlichmachung der Arbeitslosigkeit hat auch eine moralpsychologische Komponente. Was man arbeitslosen Menschen vorwirft, ist nicht nur, nicht zu arbeiten, sondern vielmehr nichts zu tun. Denn das Nichtstun, die Inaktivität, wirkt nicht nur falsch, sondern böse.

     

    Im Mythos von Fleiß und Faulheit

    Deutlich wird dieser Zusammenhang anhand der Protagonistinnen des Märchens von Frau Holle: Goldmarie und Pechmarie. Wenn man der überzeugenden tiefenpsychologischen Interpretation des Theologen und Psychoanalytikers Eugen Drewermann folgen möchte, personifizieren diese den Gegensatz von Sonne und Mond, Aktivität und Passivität, Handeln und Stillstand. Wessen Eigenschaften für das Gute und wessen für das Böse stehen, wird mit dem Gegensatz „schön und fleißig“ sowie „hässlich und faul“ gleich im ersten Satz geklärt. Goldmarie muss schuften, bekommt allerdings keine Anerkennung. Als sie sich beim Spinnen verletzt, fällt die Spule in einen Brunnen. Die Stiefmutter zeigt keine Nachsicht, sondern verlangt, dass sie die Spule zurückhole. Die fügige Goldmarie landet auf dem Grund des Brunnens und damit in einer Traumwelt, in welcher sich verschiedene Aufgaben stellen. Zunächst wird sie Brot aus dem Backofen ziehen, dann Äpfel vom Baum pflücken und zuletzt Frau Holle beim Kissenausschlagen helfen. Dann aber bekommt sie Heimweh und möchte in ihre Welt zurückkehren. Zur Belohnung für ihre Dienste wird die vormals ungeliebte Stieftochter von Frau Holle mit Gold bedeckt und reist leuchtend durch das Tor zurück. Diese vier Stationen der Traumwelt symbolisieren die vier Jahreszeiten, durch welche die Sonne aktiv das Leben auf der Erde prägt. Nach Goldmaries Rückkehr wird Pechmarie, der Mond, neidisch und springt ebenfalls in den Brunnen. Sie ist allerdings völlig antriebslos und scheut jede Mühe angesichts der sich stellenden Aufgaben. Von Frau Holle, in deren Traumwelt eine Art überirdischer Gerechtigkeit herrscht, wird sie daher mit Pech anstatt mit Gold übergossen. Neben dem Jahr symbolisiert das Märchen auch den Ablauf des Tages: Aus irdischer Sicht arbeitet die gute Sonne fleißig, sorgt für Leben und wird jeden Abend wieder vom Himmel verstoßen. An ihrer Stelle besetzt der faule Mond das Firmament. Er spendet kein Leben und manchmal tut er gar nichts, sondern ist unsichtbar. In beiden Fällen lässt sich „die passive Verweigerung“, sprich die „Faulheit[,] als Grundübel verstehen, und umgekehrt ist es dann der Fleiß, die innere Anteilnahme und Aktivität, das Moment der Bewegung, was das Gute kennzeichnet“ (Drewermann: 377).

     

    Bewegung hat ihren Wert, Stillstand seinen Preis

    Das Böse oder Lebensfeindliche muss nichts sein, was aktiv oder bewusst Schaden anrichtet. Gerade in Mythen ist es häufig – man denke auch an das aktive und positive Yang und das passive und negative Yin – etwas „Retardierendes, Untätiges, (…) das Gewicht der Schwerkraft, das sich der Bewegung widersetzt“. Diese Zerstörung, die durch „die Starre, die Unbeweglichkeit“ (ebd.) angerichtet wird, können die Götter der Azteken beispielsweise erst überwinden, indem sie die Welt in Bewegung setzen [Séjourné: 167]. Entsprechend diesem Dualismus aus Gut/Bewegung und Böse/Stillstand ist es immer noch besser sinnlos tätig zu sein, als nicht tätig zu sein – selbst wenn das an vielen Stellen irrational und für alle Beteiligten nachteilig ist. Auch Goldmarie ist im Märchen keine bewundernswerte Heldin, sondern nur fleißig. Pechmarie schadet niemandem, sondern ist nur faul. Sinn oder Unsinn ihres Handelns spielen keine Rolle. Auch wenn die Arbeiten bedeutungslos, demütigend und überflüssig sind, ist es also wichtig, zu zeigen, dass man aktiv ist – ein Rechtfertigungsdruck der im Übrigen zunehmend auch die von formaler Erwerbstätigkeit entschuldigten Rentner, Kranken und Kinder umfasst. Hinter der Fassade der Arbeit ist hingegen jede Inaktivität gestattet: ein Büroalltag, der aus Nichtstun, Kaffeetrinken und Videospielen besteht, ist kein Grund zur Empörung, weil es vom Heiligenschein, oder besser gesagt, heilenden Schein der Arbeit überstrahlt wird: Teile der protestantischen Arbeitsethik, auf die mit Weber häufig verwiesen wird, haben Arbeit als Mittel gesehen, um die Menschen von einem Übel zu heilen, dessen Symptom die Untätigkeit war. So ist in Joachim Westphals Faulteufel aus dem Jahre 1563, zu lesen, dass es der Teufel sei, der die Menschen an ihrer Arbeit hindere [Mayr: 44]. Es ist nicht ihre eigene Schuld, sondern das Böse selbst, das sie befangen hat und zum Stillstand hinzieht. Arbeit hingegen ist der „Heiland der neuen Zeit“, formulierte der sozialistische Philosoph und Theoretiker Josef Dietzgen im 19. Jahrhundert [Dietzgen: 6], während der katholisch-konservative Wirtschaftstheoretiker Wilfrid Schreiber nach den Zeitaltern des Bodens und des Kapitals in den 1950ern das „Zeitalter der Arbeit“ angebrochen sah [Schreiber: 744]. Durch diese Sakralisierung und Mystifizierung verlässt die Arbeit, d.h. die formalisierte Aktivität, die Sphäre der Vernunft und kehrt begrifflich zurück in Bereich des Mythischen und Schicksalhaften. Auch die emsige Goldmarie wägt vor ihrem Absturz nicht ab, sondern wird von Angst und Gehorsam getrieben. Sie selbst hat keinen Sinn und ist kein Zweck, sondern nur ein Mittel.

     

    Den Absturz wagen

    Obwohl Goldmarie als gut und fleißig dargestellt wird, ist die geliebte Tochter die böse und faule Pechmarie. Auf der Erde, so warnt uns das Märchen, stehen Leistung und Lohn nur selten im Einklang. Erst in der jenseitigen Welt von und durch Frau Holle erfährt Goldmarie Gerechtigkeit. Wer Gerechtigkeit sucht, darf sich also – auch mit Bezug auf die Mitmenschen – nicht mit dem Sichtbaren begnügen, sondern muss tiefer gehen. Man muss schon den Ausbruch aus dem Alltag und „den Absturz in den Brunnen wagen, um den Dingen auf den Grund zu kommen“ [Drewermann: 392]. Erst der Perspektivwechsel gibt Goldmarie die Kraft, die eigenen Wünsche zu artikulieren und zu verfolgen, und ihr Leben zum Guten zu wenden. Es lohnt sich also, oberflächliche Annahmen über andere Menschen und auch die eigene Arbeit und Tätigkeit, zumal wenn man sie nur aus Gewohnheit, Gehorsam oder ihrer selbst wegen tut, zu unterbrechen und von einem ganz anderen Standpunkt zu betrachten. Damit muss man anders als im Märchen auch nicht warten, bis es zu Verletzungen kommt.

    Zweifellos nimmt die Arbeit als formale Erwerbstätigkeit heute eine bedeutende und prägende Rolle für die Psyche der Menschen wie auch der Gesellschaft als Ganzes ein. Wie es dazu kam und wie sich unser heutiger Moraldiskurs zur Arbeit entwickelt hat, wird häufig neben der protestantischen Arbeitsethik auch mit vielen Bruchlinien begründet, die sich durch und seit der industriellen Revolution aufgetan haben. Bei genauerem Hinschauen zeigen sich aber auch erstaunliche und weit in die Vergangenheit zurückreichende moralpsychologische Kontinuitäten. So bietet das Fragment 122 von Empedokles (ca. 495 - 435 v. Chr.) überraschenden Wiedererkennungswert:

    „Da waren die Erdfrau und die weitschauende Sonnenblickfrau, die blutige Zwietracht und die ernst blickende Eintracht, Frau Schön und Frau Hässlich, Frau Hurtig und Frau Spät, die liebreiche Wahrhaftigkeit und die schwarzaugige Verworrenheit“.


    Literatur:

    Dietzgen, Joseph (1877): Die Religion der Sozialdemokratie. Kanzelreden von Joseph Dietzgen. 4. Auflage. Verlag der Genossenschaftsbuchdruckerei.

    Drewermann, Eugen (1993): Lieb Schwesterlein, lass mich herein. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet. Deutscher Taschenbuchverlag.

    Graeber, David (2018): Bullshit-Jobs. Klett-Cotta.

    Mayr, Anna (2020): Die Elenden. Hanser.

    Schelsky, Helmut (1965): Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze.

    Schreiber, Wilfrid (1955): Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, in: Wort und Wahrheit 10/1955.

    Séjourné, Laurette (1971): Altamerikanische Kulturen. Fischer Weltgeschichte Band 21. Online verfügbar.