Philosophische Aufarbeitung der Frage

Was kann man stehlen?

Silvan Imhofs Input zum Gedankenexperiment, welches am 5. September 2021 im Schlachthaus Theater Bern mit Kindern und Erwachsenen diskutiert wird.

Kann man Ideen oder Gedanken stehlen? Im Gedankenexperiment scheint das mit Hilfe eines fiktiven Apparats möglich zu sein. 

    Das Gedankenexperiment

    Prof. Fix ist eine geniale Erfinderin. Ihre neueste Erfindung ist das Denkoskop. Dabei handelt es sich um einen kleinen Apparat, den man sich wie ein Hörgerät ins Ohr stecken kann. Schaltet man ihn ein, empfängt er die Gehirnströme anderer Personen und überträgt sie auf das eigene Gehirn, so dass man die Gedanken anderer Personen «abhören» kann. Prof. Fix hat einige Bedenken, ihre Erfindung publik zu machen, da ihr klar ist, dass man damit allerhand Unfug anstellen kann. Ihr Sohn Carlo aber, dem sie von ihrem Denkoskop erzählt hat, erkennt gleich eine nützliche Anwendung des Geräts. Er nimmt es mit in die Schule und steckt es sich bei der Mathematikprüfung ins Ohr: Jetzt kann er einfach die Lösungen der Aufgaben, die sich die besten Mitschüler*innen ausdenken, abhören, ohne selbst rechnen zu müssen. Natürlich erhält er die Bestnote.

     

    Kann man Gedanken stehlen?

    Kann man Ideen oder Gedanken stehlen? Im Gedankenexperiment scheint das mit Hilfe eines fiktiven Apparats möglich zu sein. Man könnte meinen, dass es auch ohne Denkoskop geht: Wir kennen den Begriff des «geistigen Eigentums», das man rechtlich – durch das Urheber- oder Patentrecht – schützen kann. Dabei wird aber nicht der Besitz von Ideen oder Gedanken geschützt, sondern das Eigentum und die Nutzung von konkreten Erzeugnissen – einem Text, einem Design, einem Verfahren oder einer Erfindung –, die das Resultat von Gedanken oder Ideen sind. Im Gedankenexperiment geht es jedoch nicht um solche Erzeugnisse, sondern um die Ideen und Gedanken selbst.

     

    Grundsätzlich gilt: Stehlen kann man nur, was man besitzen kann, was einem Individuum ausschliesslich gehören kann. Nun reden wir einerseits davon, dass eine Idee «meine Idee» und ein Gedanke «mein Gedanke» ist, und zwar besonders dann, wenn jemand anders einen Gedanken, den ich hatte, oder eine Idee, die mir eingefallen ist, für sich beansprucht. Diese Redeweise legt nahe, dass wir tatsächlich von einer Art Besitzanspruch auf Ideen und Gedanken ausgehen. Wenn dem so ist, kann man Ideen und Gedanken stehlen. Andererseits ist uns aber klar, dass man gedankliche Dinge nicht auf die gleiche Weise stehlen kann, wie etwa ein Velo, einen Hundertfrankenschein oder ein Gemälde: Eine Idee oder einen Gedanken kann man einer anderen Person nicht wegnehmen. Gedanken und Ideen sind sozusagen von Natur aus gegen Diebstahl geschützt. Solange wir einen Gedanken oder eine Idee für uns behalten, hat niemand anders Zugriff darauf (jedenfalls nicht ohne so etwas wie ein Denkoskop). So gesehen kann man Gedanken nicht stehlen.

     

    Dieser erste Befund ist eher verwirrend, wenn es darum geht die Frage zu beantworten, ob man Ideen oder Gedanken stehlen kann. Um die Frage wie auch die Verwirrung zu klären, kann man zwei Dinge unterscheiden: 1) das Denken oder Haben eines Gedankens oder einer Idee und 2) den Inhalt eines Gedankens oder einer Idee. Zum Beispiel hat Hannah (eine Mitschülerin von Carlo) den Gedanken: 2 plus 5 ergibt 7. Hier ist der Inhalt des Gedankens «2 plus 5 ergibt 7» ­(ich kürze ihn mit «p» ab) und Hannah (abgekürzt mit «H») ist das Subjekt, das diesen Inhalt denkt. Der Gedanke hat entsprechend die Form: H(p) («H denkt, dass p»). Damit wird ausgedrückt, dass 1) ein Gedanke nur insofern ein Gedanke ist, als er von einem Subjekt gedacht wird, und 2) ein Gedanke nur insofern ein Gedanke ist, als er einen Inhalt hat.

     

    Was meint nun Hannah, wenn sie sagt: «H(p) ist mein Gedanke»? Sie kann damit nicht meinen, dass der Gehalt p ihres Gedankens ihr gehört. Sie wird ja ihren Mitschüler*innen, die die gleiche Aufgabe lösen müssen, zugestehen, dass sie auf das gleiche Resultat kommen, dass sie also Gedanken mit dem gleichen Gehalt p denken können. Sie erhebt also keinen Besitzanspruch auf den Gehalt ihres Gedankens. Wenn Hannah sagt, «H(p) ist mein Gedanke», kann sie damit nur ausdrücken wollen, dass sie das Subjekt ist, das diesen Gedanken denkt. H(p) ist ihr Gedanke, weil kein anderes Subjekt genau diesen Gedanken H(p) denken kann. Wenn zum Beispiel Carlo denkt: 2 plus 5 ergibt 7, dann denkt er zwar einen Gedanken mit dem Gehalt p, aber er denkt nicht den Gedanken H(p), sondern den Gedanken C(p). Es ist zum vornherein ausgeschlossen, dass Carlo oder irgendjemand ausser Hannah den Gedanken H(p) denken kann.

     

    In diesem letzten Sinn kann Hannah also sagen: «H(p) ist mein Gedanke». Nun ist «mein» ein sogenanntes «besitzanzeigendes» Pronomen. Wir wissen aber, dass solche Possessivpronomen bei weitem nicht immer einen Besitz anzeigen wie in «mein Velo». In «meine Mutter», «mein Hobby», «mein Lieblingsessen» oder «mein Wohnort» drückt das Pronomen nicht ein Besitzverhältnis aus, sondern eine ausgezeichnete, vielleicht sogar exklusive Beziehung, in der jemand zu irgendetwas steht. Da wir gesehen haben, dass es keinen Besitzanspruch auf den Gehalt von Gedanken geben kann, muss die Rolle des Possessivpronomens in «H(p) ist mein Gedanke» ebenfalls von dieser Art sein: Es zeigt nicht einen Besitz an, sondern die besondere, in diesem Fall tatsächlich exklusive Beziehung, in der ein Subjekt zu den Gehalten derjenigen Gedanken steht, die es denkt.

     

    Die Schlussfolgerung aus dem bisher Gesagten lautet daher kurz: Gedanken oder Ideen kann man nicht stehlen. Weder kann man auf den Gehalt von Gedanken einen Besitzanspruch erheben noch ist das Verhältnis, in dem ein Subjekt zu seinen Gedanken steht, ein Besitzverhältnis – und was man nicht besitzen kann, kann man nicht stehlen. Mit dieser Antwort werden aber die meisten nicht zufrieden sein. Man wird intuitiv sagen, dass sich Carlo im Gedankenexperiment die Lösungen der Mathematikaufgaben durch Betrügen aneignet, also klaut. Dahinter dürfte folgende Auffassung stehen: Man kann Carlo zwar keinen Vorwurf machen, dass er einen Gedanken mit dem Gehalt p («2 plus 5 ergibt 7») denkt, man kann ihm aber vorwerfen, dass er auf dem falschen Weg zu diesem Gedanken gekommen ist.

     

    Auf die Lösung einer Mathematikaufgabe zu kommen, heisst nicht nur, das Resultat zu denken, sondern man muss auch durch die Anwendung der richtigen mathematischen Operationen darauf kommen. Es reicht also nicht, wenn Carlo mit dem Denkoskop das Resultat bei seinen Mitschüler*innen abhört, er müsste zusätzlich die einzelnen Denkschritte, die zum Resultat führen, mithören. Aber auch wenn er die einzelnen Denkschritte abhören und denken würde, wäre das nicht genug, denn das wäre nichts weiter als ein inneres Nachplappern oder inneres Abschreiben der Lösungen seiner Mitschüler*innen. Damit man sagen könnte, die von Carlo gedachte Lösung ist seine Lösung, müsste Carlo selbst auf die Lösung kommen. Dazu müsste er die einzelnen Denkschritte nicht nur (nach-)denken, sondern er müsste die Denkoperationen selbst ausführen. Genau diese Ausführung der Denkschritte, diesen performativen Aspekt des Denkens, der das Denken zu einer Tätigkeit macht, kann ihm das Denkoskop prinzipiell nicht abnehmen.

     

    Das liegt daran, dass der performative Teil des Denkens nicht zum Gehalt von Gedanken gehört, sondern zum denkenden Subjekt, also zu dem Teil eines Gedankens H(p), den ich mit «H» bezeichnet habe. Wie wir gesehen haben, kann Carlo mit Hilfe des Denkoskops Gedanken denken, die den gleichen Gehalt p haben wie die Gedanken von Hannah, er kann aber prinzipiell keinen Gedanken von Hannah H(p) denken, sondern nur Gedanken C(p). Somit kann ihm auch das Denkoskop prinzipiell keinen Zugang zum performativen Teil von Hannahs Denken gewähren. Weil ihm das Denkoskop diesen performativen Teil grundsätzlich nicht abnehmen kann, ist die Lösung, die er denkt, nicht seine Lösung, sondern die Lösung seiner Mitschüler*innen.

     

    Berücksichtigt man den performativen Aspekt des Denkens, kann man in einem stärkeren Sinn als in dem zuvor entwickelten sagen, dass ein Gedanke oder eine Idee mein Gedanke oder meine Idee ist. Es geht dabei nicht mehr nur darum, einen Gedanken oder eine Idee bloss zu denken, sondern durch den Vollzug einer Denktätigkeit selbst auf einen Gedanken oder eine Idee zu kommen. In diesem Sinn kann man in Bezug auf das Gedankenexperiment von Ideen- oder Gedankenklau sprechen: Carlo eignet sich mit Hilfe des Denkoskops Gedanken an, ohne die erforderliche Denkleistung zu erbringen. Er denkt Gedanken, die das Ergebnis der Denkleistung anderer und dementsprechend nicht seine Gedanken in dem stärkeren Sinn sind. In diesem stärkeren Sinn können Subjekte einen Anspruch auf Gedanken erheben, wenn sie das Resultat einer eigenen geistigen, intellektuellen oder kreativen Tätigkeit sind. Das ist auch die Vorstellung, die hinter dem anfangs erwähnten Schutz geistigen Eigentums steht. Dabei geht es zwar nicht um den direkten Schutz von Ideen oder Gedanken, aber um den Schutz von Erzeugnissen, die das Resultat einer geistigen, intellektuellen oder kreativen Leistung sind. Diese denkerische Leistung rechtfertigt den rechtlichen Anspruch auf die daraus entspringenden Erzeugnisse.