Philosophieren mit Kindern und Erwachsenen

Hast du Angst im Dunkeln?

Emil Angehrns Input zu einem Gedankenexperiment von einem Kind mit viel Fantasie.

    Das Gedankenexperiment

    "Heinrich ist ein Kind mit viel Fantasie. Er stellt sich manchmal vor, wie Elefanten, Bären oder Krokodile in seinem Zimmer herumlaufen und wie Wände Gesichter bekommen und mit ihm ein alltägliches Gespräch führen. Stundenlang, manchmal sogar länger, kann Heinrich seiner Fantasie freien Lauf lassen und manchmal vergisst er selber, was er sich selber vorgestellt hat oder was wirklich passiert war.

    Einmal hat Heinrich vergessen, ob er wirklich Hausaufgaben von der Lehrerin bekommen hat oder ob er sich das nur vorgestellt hat. Und einmal hat Heinrich vergessen, ob er wirklich ein seltsames Geräusch nachts im Haus gehört hat oder ob er sich das nur vorgestellt hat. Am Anfang störte sich Heinrich an seiner Vergesslichkeit, aber mit der Zeit begann Heinrich seine Vergesslichkeit zu lieben. Denn jedes Mal, wenn er nachts seltsame Geräusche hört, geht er davon aus, dass er sich das nur vorgestellt hat. Seither hat Heinrich nie mehr Angst vor irgendetwas."

     

    Das hier vorgestellte Gedankenexperiment ist von besonderer Art. Es ist nicht einfach die gedankliche Konstruktion einer Situation (etwa einer Notlage), anhand deren sich praktische oder theore­tische Probleme exemplarisch diskutieren lassen. Vielmehr berichtet es selbst von einem Experiment, einem Experiment mit Gedanken – das wahrscheinlich scheitert.

    Das Experiment will Angst durch Gedanken bewältigen. Heinrich will die durch seltsame Geräusche hervorgerufene Angst dadurch verbannen, dass er sich einredet («davon ausgeht»), dass er sich die Geräusche nur vorgestellt hat. Das Experiment versucht ein Gefühl dadurch zu erzeugen bzw. zu vermeiden, dass man einen bestimmten Sachverhalt imaginiert oder leugnet.

    Generell steht in solchen Situationen der kognitive Gehalt von Gefühlen zur Diskussion. In Frage steht, wieweit Gefühle mit Erkenntnissen verschränkt sind, inwiefern sie Annahmen über Sachverhalte voraussetzen oder durch bestimmte Erkenntnisse ausgelöst bzw. verhindert werden (etwa die Freude über ein geschenktes Bild, von dem wir annehmen, dass es echt ist). Im vorliegenden Experiment ist unterstellt, dass wir dem Angstaffekt dadurch begegnen können, dass wir annehmen, dass ihm keine reale Ursache, sondern nur eine Einbildung entspricht.

    Es ist ein Fall intendierter Selbsttäuschung. Selbsttäuschung ist ein paradoxer Sachverhalt, der nach Meinung vieler im strengen Sinn unmöglich ist: Ich kann mir nicht etwas vormachen, von dem ich weiß (bzw. als Täuscher wissen muss), dass es nicht stimmt. Allerdings gibt es den psychologischen Vorgang der Verdrängung, in welchem wir etwas, was wir eigentlich wissen (wissen könnten, wissen müssten), für uns selbst verdecken. Es ist ein Vorgang, der in gewissem Maß zum normalen Leben gehört. Wir verdrängen Schmerzliches, Ängstigendes, Beschämendes aus unserem Bewusstsein, um leben zu können, und wir tun dies zum Teil unwillentlich und unbewusst, zum Teil bewusst und gezielt. Die Frage ist, wie solches Verdecken funktioniert und wieweit es möglich ist.

    In einem Fall wie dem dargestellten ist wahrscheinlich, dass es nur teilweise gelingt. Wir können unsere Gefühle nicht durch willentliche Annahmen regulieren. Gefühle verkörpern ein Wissen, das sie sich nicht ausreden lassen. Wer Angst hat, wird diese normalerweise nicht dadurch verlieren, dass er glaubt – oder andere ihn davon zu überzeugen suchen –, dass sie grundlos ist. Bekanntestes Beispiel ist die Angst vor dem Tod, die seit Epikur von vielen mit dem Argument als widersinnig hingestellt wird, dass, solange wir leben, der Tod nicht da ist, und wenn der Tod da ist, wir nicht mehr sind – ein ‘Argument’, das über die Jahrhunderte nicht verhindert hat, dass Menschen sich vor dem Tod ängstigen. Es ist zu befürchten, dass auch das Experiment, die Angst mittels des Gedankens zu bändigen, sich etwas Bedrohliches nur eingebildet zu haben, scheitert.