Grundgedanken

Bring hervor, was in Dir steckt!

    Diejenigen Menschen, die diesen Text lesen und mich nicht persönlich kennen, werden sich womöglich denken, hinter den Zeilen dieses Formates versteckt sich ein Autor, dem nichts ferner liegen könnte, als sich selbst auf die Unterhaltungstechniken einzulassen, welche er zum Problem erklärt. Sie stellen sich vielleicht jemanden vor, der jeden Augenblick seines Lebens achtsam wahrnimmt und sich deshalb gerne darüber auslässt, wie naiv die anderen Leute um ihn herum doch ihre Zeit verschwenden. Ein zukünftiger Professor, der es sich zum Beruf gemacht hat, die Bedingungen der Armut zu erforschen, selbst aber in einer Villa an der Goldküste wohnt.

    Sie könnten sich nicht mehr täuschen! Ich schreibe diese Texte aus der heruntergekommensten Gosse und erhoffe mir durch sie nichts weiter als ein klareres Bild von den Ratten zu bekommen, die tagtäglich an meinen Brettern nagen. Ich hoffe die Geräusche zu verstehen, die von oben und unten, von links und von rechts durch die Wände dringen und mich in ständiger Aufregung halten. Ich will wissen, ob sich da draussen nicht irgendwo ein besserer Ort finden liesse, und in welche Richtung ich dafür zum Suchen aufbrechen müsste.

    In diesem Sinne werde ich heute nun damit beginnen, ein Bild von meiner Umgebung zu entwerfen – sie spekulativ zu erkunden. Ich werde versuchen, den Grundgedanken darzulegen, von dem aus gesehen ich mir meine Armut erkläre.

     

    I.               "Bring hervor, was in Dir steckt"

    Wie könnte man den Sinn des Lebens besser beschreiben als durch die lebenslange Aufgabe, das, was in Dir ist, hervorzubringen?! Die Gedanken und Gefühle, welche die Welt in Dir auslöst, auf irgendeine Weise zu verarbeiten – sie zum Vor-Schein zu bringen. Die Wechselwirkung von innen und aussen auf eine produktive Weise zu entladen und zu verhindern, dass Du von ihr zerrissen wirst. So heisst es beispielsweise im apokryphes Evangelium nach Thomas: "Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird das, was in dir ist, dich retten. Wenn du nicht hervorbringst, was in dir ist, wir das, was du nicht hervorgebracht hast, dich töten".

    In die Sprache dieses Textes übersetzt, könnte man also beispielsweise sagen: Wenn Du Deine Tage damit zubringst, stundenlang amerikanische Sitcoms zu konsumieren; wenn Du nur dafür lebst, jeden Moment auf Instagram dar-zu-stellen; wenn Du sogar noch unter der Dusche dein Smartphone brauchst, damit es Dir nicht langweilig wird, – dann hast Du dich bereits in deinen eigenen Sarg gelegt und wartest nur noch darauf, dass jemand den Deckel schliesst.

    Du drückst Dich vor der wichtigsten Aufgabe, die Dir das Leben auferlegt und tauscht die Energie, welche nötig wäre, um das, was in Dir angeregt wird, in Bewegung zu setzten, gegen eine kurzfristige und oberflächliche Befriedigung – Du 'amüsierst dich zu Tode'.1

     

    II.        'Private Faulheiten'

    Das Problem, das ich von der Kultur des ständigen 'sich-unterhaltens' und 'sich-beschäftigen' also ausgehen sehe, besteht darin, dass durch sie ein Prozess übertönt wird, den wir eigentlich zu hören bestimmt wären; und meine Befürchtung ist, dass dieser Prozess ihr schliesslich erliegen wird.

    „Und wenn man mit Recht vom Faulen sagt, er tödte die Zeit, so muss man von einer Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heisst auf die privaten Faulheiten setzt, ernstlich besorgen, dass eine solche Zeit wirklich einmal getödtet wird: ich meine, dass sie aus der Geschichte der wahrhaften Befreiung des Lebens gestrichen wird."2

    Das Leben ist nun mal schwer (zu ertragen). Wir stehen der Welt gegenüber wie Odysseus, der im dichten Nebel über das vom Sturm erregte Meer getrieben wird. Ohne zu wissen warum, spüren wir die mächtigen Wellen, die immer wieder an unserem kleinen Schiff brechen – kein Wunder ist es so leicht, den verlockenden Gesängen der Sirenen zu erliegen. Nichts ist einfacher als sich den 'privaten Faulheiten' hinzugeben und sich der Anstrengung zu entziehen, die nötig wäre, um das Ruder auch noch im tobenden Sturm in der Hand zu behalten.

    Doch was passiert mit uns als Individuen – mit uns als Menschheit –, wenn wir uns daran gewöhnt haben, die Energie, die dafür nötig wäre, kampflos herzugeben, sodass wir es nicht einmal mehr 15 Minuten lang aushalten?3 Was wäre, wenn Nietzsche, statt sich der langen Einsamkeit zu stellen, diese schwere Zeit einfach durch irgendeine banale Unterhaltung auf Netflix ersetzt hätte? Was wäre, wenn der junge Schopenhauer, der befürchtet hat, vom Leid der Welt erschlagen zu werden, sich durch eine Playstation einfach in eine andere geflüchtet hätte?
     


    [1] Vgl. Das gleichnamige Buch von Postman, Neil (1988): Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch.
    [2] Nietzsche, Friedrich (1999): Schopenhauer als Erzieher. In: Unzeitgemässe Betrachtungen. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, München/Berlin New York, KSA 1, 338.
    [3] Vgl. letzter Beitrag: "Neben Allem auch Nichts? Beginn einer Auseinandersetzung".