Stille schaffen

Gewisse Dinge werden also erst hörbar, wenn sie in die Stille getragen. Eine Stille, die man sich schaffen muss.

    I.

    Benjamin sitzt auf dem Sofa und trommelt mit seinen Fingern auf dem Polster. Das Verlangen nach Beschäftigung intensiviert sich und die Schläge werden immer wie schneller. Sein Entschluss, für eine gewisse Zeit keine Netflix-Serien mehr zu schauen, keine YouTube-Videos mehr zu konsumieren und nicht mehr bei jedem Hinsetzten automatisch nach dem Smartphone zu greifen, steht fest. Er will über die nächsten Tage so wenig digitale Medien konsumieren wie möglich und deshalb sitzt er nun auf dem Sofa und versucht einfach nichts zu tun. Dass er nicht in den ersten paar Minuten vom Experiment wieder den alten Angewohnheiten verfällt, ist also relativ klar. Doch – müsste ich nicht eigentlich noch eine Wäsche machen? Und was hat Claudia damit gemeint, als sie mir letzte Woche schrieb? Sollte ich da nicht doch noch etwas antworten?

    Nach ein paar Minuten, in denen sein Inneres so von einem Gedanken zum nächsten springt, beginnt sich langsam eine sehr angenehme Ruhe und Gelassenheit auszubreiten. Eine Ruhe, die jedoch nur für kurze Zeit anhält, denn bald wird sie von einer tiefen Müdigkeit abgelöst und ohne es zu merken, sinkt Benjamin langsam in die weichen Kissen.

    II.

    Die nächsten Tage sind ein Kampf. Das Verlangen nach Ablenkung und Unterhaltung verbindet sich geschickt mit den kleineren und grösseren Spannungen, welche sich gezielt in jenen Momenten entladen, in denen Benjamin gerade nichts zu tun hat – d.h. auch wirklich nichts tun sollte. Wenn er am stärksten leidet, setzt er sich jeweils vor ein leeres Blatt Papier und versucht seiner wankenden Überzeugung wieder die nötige Standfestigkeit zu zuschreiben.

    Ich werde das Experiment noch so lange weiterziehen, wie ich kann. Über ein klares Meer will ich sehen und deshalb stelle ich mich nun mit erhobenem Haupt in die Wellen. Nicht wie ein kleines Kind werde ich mich vor dem Leben verstecken und jedem Augenblick, der nicht gerade mit einer angenehmen Tätigkeit gefüllt- oder von einem wohltuenden Gefühl erfüllt ist, vor Schreck entfliehen.

    III.

    Die Frage, die Benjamin dabei die ganze Zeit über quält, ist, wieso es ihm eigentlich so viel Energie und Überwindung kostet, einfach nichts zu tun. Ist das Leben etwa aufgeteilt in kleinere Leben, die voneinander durch den Schlaf getrennt sind? Werden wir tatsächlich jeden Tag neu geboren?

    Das ist die einzige Erklärung, die er dafür findet, weshalb es im Leben Momente gibt, die man eigentlich am liebsten überspringen würde. Denn eigentlich gibt es ja gar nichts, was übersprungen werden könnte. Alles, was existiert, ist der Moment. Weder Zukunft noch Vergangenheit sind im gleichen Sinne wirklich wie der Moment, indem wir gerade leben. Das fundamentale Bedürfnis nach Unterhaltung kommt also eigentlich dem Wunsch gleich, die Zeit zu überbrücken – was demzufolge nichts anderes heisst, als schneller sterben zu wollen. Und auf die Summe des ganzen Lebens aufgerundet ergibt sich daraus ein Warten auf den Zeitpunkt, ab dem wir am nächsten Tag nicht wieder von vorne beginnen müssen.

    IV.

    Dann beginnt sich plötzlich etwas zu verändern in Benjamin. Jetzt, da einige Wochen verstrichen sind und Netflix, YouTube, Instagram und all die anderen Unterhaltungsmedien kein Thema mehr sind, da er weiss, dass er nicht mehr darauf zurückgreifen wird, fühlt es sich an, als wäre er aus einem tiefen Schlummer erwacht. ICH LEBE! schreit sein ganzes Inneres.

    Der Tag hat plötzlich 24 Stunden und ist nicht mehr nur ein lang gezogenes Warten zwischen unterschiedlichen Betäubungen. Benjamin hat erkannt, dass ihm sein ständiger Konsum den Weg versperrt, in der Gegenwart – im Jetzt – zu leben. Durch die Gewohnheit, den Tag bis zum Abend auszuhalten, nur um sich dann endlich der ersehnten Unterhaltung hingeben zu können, hat sich, ohne dass er es merkte, sein ganzes Leben in diesem einen leeren Moment zentriert. Kein Wunder, erschien ihm das sinnlos und quälend.