Neues Wissen, neue Macht?

Zu den historischen Wurzeln der Technokratie.

    Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, dass die technische Entwicklung in immer kürzeren Abständen neue Geräte und Programme auf den Markt bringt, die uns das Leben einfacher und komfortabler machen sollen. Die Digitalisierung verspricht Erleichterungen und Verbesserungen für alle Bereiche der Gesellschaft: von der Organisation des Alltags, über die Arbeits- und Produktionsabläufe bis hin zum smart home reicht die Palette von technischen Lösungen. Aber erstreckt sich das Angebot digitaler Problembewältigung auch auf den Bereich der Politik?

    Im politischen System gibt es eine ganze Reihe von Veränderungen, die mit der digitalen Technik verbunden werden können: Die Kommunikationsbedingungen in der digitalen Öffentlichkeit haben sich gegenüber dem analogen Zeitalter radikal gewandelt. Nicht nur Beschleunigung und Öffnung gegenüber einer Vielzahl von Kommunikationsteilnehmern, auch Polarisierung und Fragmentierung der öffentlichen Diskussion nehmen zu. Hinzu kommen neue Formen des digitalen e-voting, sowie der digitalen Umstellung staatlicher Verwaltung. Neben diesen Neuerungen wird aber auch immer mehr über digitale Überwachungstechniken und Kontrollmechanismen gesprochen. Während diese Entwicklungen in autoritären Regimen wie China auf dem Vormarsch sind, wird auch in Demokratien mit Hilfe von digitalen Technologien der Versuch unternommen, Wissen über Vorlieben und Verhaltensmuster zur Grundlage politischer Entscheidungen zu machen.

    Das bekannteste Beispiel diese Entwicklung findet sich in der kommunalen Utopie der smart city. Im Zusammenspiel großer Digitalunternehmen und politischer Akteure wird die intelligente Stadt als eine neue Ordnung gepriesen, in der zentrale Aspekte des Zusammenlebens durch technische Formen autonom reguliert werden können. Der kritische Einwand gegen solche Vorstellungen argwöhnt dann zumeist, dass damit eine Verlagerung von demokratisch legitimierten Entscheidungen hin zu hierarchischer Steuerung verbunden sein könnte. Damit zeichnet sich in der Digitalisierungsdebatte eine Befürchtung ab, dass die demokratische Ordnung durch eine Herrschaft technisch-spezialisierten Expertenwissens untergraben werden könnte. Müssen wir uns also auf eine Steuerung durch Wissenschaft statt durch Politik einstellen? Wird die Zukunft der Demokratien durch Expertenherrschaft statt durch öffentliche Willensbildung und Mehrheitsentscheidung geprägt?

    Nicht nur die Digitalisierungsdebatte, auch die Diskussion über Rolle der Wissenschaft in der Pandemiebewältigung und der Klimakrise hat diese Fragen kontrovers gestellt. Nun ist das Verhältnis von Wahrheit und Demokratie komplizierter, als man zunächst vermuten würde. Moderne Gesellschaften sind zwar stark durch das wissenschaftliche Weltbild und die wissenschaftliche Problemlösung geprägt – gleichzeitig aber wird eine demokratische Teilhabe der Vielen an den allgemein verbindlichen Entscheidungen gefordert. Mehrheitsentscheidungen aber sind keineswegs immer durch wissenschaftliche Wahrheitsansprüche determiniert. Diese Spannung ist dabei mitnichten Ausdruck einer der Demokratie innewohnenden Unvernunft. Vielmehr zeigt sich darin die Autonomie demokratischer Politik, die mit dem Mehrheitsprinzip und der repräsentativen Organisation politischer Willensbildung ihre Unabhängigkeit von anderen gesellschaftlichen Teilsystemen – der Religion, der Wirtschaft, aber eben auch der Wissenschaft – demonstriert und deren unterschiedliche Macht- und Geltungsansprüche allgemeinverbindlich abwägen und miteinander in Einklang bringen muss. Dies bedeutet nicht, dass wissenschaftliche Wahrheiten keine Entscheidungsgrundlage darstellen. Es heißt aber, dass eben nicht der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages – oder einer der zahlreichen wissenschaftliche Beratungsgremien in den Ministerien –, sondern die gewählten Abgeordneten die Entscheidungen treffen und dafür auch die politische Verantwortung tragen.

    Der Traum von einer wissenschaftlich begründbaren und durch die Erkenntnis der Wahrheit determinierten Ordnung ist jedoch so alt wie die moderne Wissenschaft selbst und wird bereits in der neuzeitlichen Utopietradition geträumt. Eine besondere Rolle spielt dabei stets die Vorstellung, das politisch vermittelte Zusammenspiel verschiedener Interessen, Macht- und Wahrheitsansprüche ließe sich ersetzen durch eine zweckrationale, instrumentelle Ordnung der Technik. Nicht politisches Handeln führt dann zu den allgemeinverbindlichen Entscheidungen, sondern eine allumfassende Planung durch technisch geschulte Experten des Wissens.

    Die Ursprünge des Steuerungsdenkens gehen zurück auf die antike politische Philosophie. Platons bekanntes Bild des Staatsmannes als Steuermann illustriert dieses durch ein besonderes Wissen geprägte Verständnis politischen Entscheidens. Platons Politeia ist die erste Staatsform, in der „das menschliche Miteinander technisch geregelt werden kann“.1 Hier sind es die Philosophen, die aufgrund ihrer höheren Erkenntnisfähigkeit des Gerechten und des Guten zum Herrschen bestimmt werden. Das utopische Genre hat sich daher auch nicht zufällig im Rahmen der frühneuzeitlichen Platonrezeption fortentwickelt.

    Der erste und genreprägende Entwurf der modernen Utopien stammt vom englischen Staatsmann Thomas Morus. Seine Utopia (1516) mag wohlmöglich nur als „Humanistenscherz“ gemeint gewesen sein.2 In ihr kam jedoch die Vorstellung zum Ausdruck, dass eine perfekte weltliche Ordnung denkbar sein könnte, und dass die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft in der Renaissance dabei eine tragende Rolle spielen könnten. „Wissenschaften“ meint dabei nicht mehr, wie in der aristotelischen und theologischen Tradition, philosophische Erkenntnis der Dinge in ihrem Wesen. Wissenschaft meint nun zunehmend die Erkenntnis der Natur und ihrer regelmäßigen Gesetze. Dies gilt mit Morus Utopia nun auch für die menschliche Gemeinschaft, die durch genaue Beobachtung des empirischen Verhaltens und der damit verbundenen kausalen Beziehungen zu einer perfekt optimierten Ordnung umgestaltet werden soll. Die enge Verbindung von politisch-sozialer Neugestaltung und wissenschaftlichem Ordnungswissen bewegt sich in der frühen Neuzeit damit zunehmend vom Humanismus zu den im Entstehen begriffene Naturwissenschaft. Allerdings erfolgt diese Verschiebung über zahlreiche Amalgame und Zwischenschritte.

    So fungiert beim Dominikanermönch Tommaso Campanella neben der Astrologie auch die esoterische Wissensform der Hermetik als Steuerungsressource für den perfektionierten Sonnenstaat (1602). Endzeiterwartung und Naturerkenntnis gehen dabei im hermetischen Chiliasmus eine unwahrscheinliche Verbindung ein.3 Neues Wissen dient aber auch hier als Grundlage für eine neue Ordnung. Der orbis pictus, der auf den Mauern der Stadt angebrachte Bilder-Kreis hält im Sonnenstaat alles verfügbare Weltwissen für die Einwohner visuell präsent.4 Damit wird in der Utopie die Welt dem menschlichen Wissen zugänglich und gestaltbar: Besonders deutlich wird dies hier im von Platon übernommenen Gedanken der Eugenik, die als zentraler Bestandteil der utopischen Ordnung durch instrumentelle Steuerung der Fortpflanzung und Partnerwahl zur Überwindung der christlichen Erbsünde beitragen sollen.5 Politische Diskussionen werden durch die epistemische Grundlage der Ordnung überflüssig, Entscheidungen werden auf Grundlage „astrologischer Deutungen der Konstellationen und kraft priesterlicher Unfehlbarkeit“ getroffen.6

    Eine ähnliche, auf dem Wissen von der Natur und ihren Gesetzen basierende Utopie hat Johann Valentin Andreae mit Christianopolis entworfen (1619). Auch aus diesem Ordnungsentwurf spricht deutlich die naturwissenschaftliche Polemik gegen die humanistische Philosophie, wenn sich der Erzähler mit dem Selbstvorwurf bezichtigt, „daß ich genötigt durch so lange Zeit, unter so viel Aufwand und mit Hilfe von Büchern, nichts von all diesen Dingen gelernt hatte, die man doch wissen müßte, und daß ich törichterweise das Aussehen der Natur vernachlässigt hatte“.7 Auch wenn diese strenge und minutiös-geometrisch entworfene Ordnung nicht von Philosophen oder Weisen, sondern von Priestern beherrscht wird, so wird doch deutlich der Anspruch erhoben, politische und soziale Ordnung als Funktion genauer Erkenntnisse über die Natur und das Wesen des Menschen zu definieren. Mit der Verschiebung zum neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis wird die Welt nicht mehr vermittels philosophischer oder theologischer Abhandlungen lesbar, sondern durch die experimentelle Lektüre im „Buch der Natur“:8 An die Stelle der Bibliothek als Wissenslieferant tritt das Labor, und das Experiment löst die philosophische Reflexion als primäre Quelle von Erkenntnis ab.

    Genau diese Perspektive wird auch bei Francis Bacon weitergeführt, der in seiner 1624 geschriebenen Utopie Nova Atlantis und auch in seinen Essays den Gedanken einer direkten Übersetzbarkeit von (naturwissenschaftlich-instrumentellem) Wissen in Macht entwickelt.9 So ist das erklärte Ziel von Nova Atlantis, „die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte der Natur und die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenze des überhaupt Möglichen“.10

    Diese frühen Utopien sind somit erste Zeugnisse eines neuzeitlichen, sozialtechnologischen Planbarkeits- und der Optimierungsglaubens. Politisches Handeln im Sinne einer an Freiheit und Autonomie orientierten aristotelischen Praxis wird damit nicht vollkommen verdrängt, tritt aber in ein Spannungsverhältnis zu einem an wissenschaftsbasierter Naturbeherrschung angelehnten Verständnis von Politik. Zumeist steht nicht die politische Staatsverfassung selbst im Mittelpunkt der utopischen Entwürfe, sondern die vielmehr die detaillierte Gestaltung aller – auch und gerade der privaten – Aspekte des gemeinschaftlichen Zusammenlebens: Organisation und Planung des Arbeitslebens, der Familienstruktur, der gemeinsamen Mahlzeiten, der arbeitsfreien Zeit etc., sowie der dazu notwendigen städtebaulichen Strukturen.

    Das Erbe dieser utopischen Wissenspolitik ist nicht nur in der europäischen Aufklärung und dem Glauben an den Fortschritt von Vernunft und Technik präsent. Während hier die Frage nach den Mitteln immer in einer engen Verbindung zu den ethischen Zwecken steht, so findet im neunzehnten Jahrhundert bereits eine Verselbständigung der technischen Utopie statt, in der die technische Regelung gesellschaftlicher Ordnung in ihrer Verabsolutierung einen selbstzweckhaften Zug erhält. Dies wird vor allem bei den Frühsozialisten wie Henri de Saint-Simon, Robert Owen, Charles Fourier und anderen deutlich, die mit ihren Reformentwürfen eine Blaupause vom Reißbrett für die komplette Gesellschaft vorgelegt haben.

    Dieser Traum von der umfassenden Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit der Gesellschaft wird dann zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erneut populär. Nicht nur in der kommunistischen Ordnungsutopie der Sowjetunion steigt die Herrschaft der Technik in der Hand von Ingenieuren zum neuen Leitbild auf. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs entsteht auch in den USA der Versuch, die vermeintliche Ineffizienz politisch-demokratischen Entscheidens in der Massengesellschaft durch eine effektive Planung zu ergänzen oder, in manchen radikaleren Entwürfen, auch zu ersetzen. Dieses Bedürfnis nach einer rationalen Organisation der Gesellschaft wird mit einem neuen Begriff beschrieben. Der kalifornische Ingenieur William Henry Smyth prägt 1919 den Neologismus „Technocracy“: Die amerikanische Kriegswirtschaft wird zum Leitbild erklärt, weil alle Anstrengungen der Gesellschaft auf einen gemeinsamen Zweck ausgerichtet wurde und eine bislang ungekannte Steigerung der Effizienz und der Produktivität möglich geworden sei. Die klassische Mehrheitsdemokratie wird als Herrschaft der ungebildeteten Massen beschrieben, die aber gleichwohl bereits den Kern autonomer Selbstregierung enthalte. Mit der koordinierten Anstrengung der Kriegswirtschaft sei dieses Projekt zu einer neuen Ordnungsform transformiert worden: Unter der Anleitung der Wissenschaft und eines gemeinsamen Industriemanagements hat sich die Demokratie zu einer „rationalized Industrial Democracy“ weiterentwickelt, der Smyth den Namen „technocracy“ gegeben hat.11

    Diese Ideen sind kurz darauf von Thorstein Veblen aufgegriffen worden: 1921 forderte er einen “Soviet of technicians”,12 der anstelle der politischen Regierung eine Steuerung der industriellen Produktion auf wissenschaftlicher Grundlage übernehmen sollte. Nach der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren erlangte diese Idee erneut Popularität und wurde von einer Gruppe um den Ingenieur Henry Smith propagiert: Die Vereinigung „Technocracy Inc.“ bildete den Kern der technokratischen Bewegung. Ziel war es, die Frage der Produktion und der Verteilung von Wohlstand der Leitung von Ingenieuren zu übertragen und auf der Grundlage exakter Berechnung und Planung zu einer rationalisierten Form der politischen Ordnung zu gelangen.13 In Europa sind ähnliche Ideen beispielsweise von Gunnar und Alva Myrdal in den fünfziger Jahren vertreten worden.14

    Wie hat nun das Silicon Valley diese Idee aufgegriffen? Die grundlegende Idee einer Steuerung gesellschaftlicher Ordnung durch Technik – und nicht in erster Linie durch demokratische Politik – hat auf die seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in den USA stark verbreitete Tendenz zurückgreifen können, durch fortschrittliche Technologien eine effiziente Steuerung menschlichen Verhaltens herbeiführen zu können, ohne dabei auf autoritäre Formen des direkten Zwangs angewiesen zu sein. Neben der Technokratiebewegung, die ihre Bemühungen vor allem auf den Bereich der wirtschaftlichen Produktion und Güterverteilung richtete, war es die Tendenz der behavioristischen Sozialpsychologie, in der die Idee einer weichen Steuerung durch positive Anreize entwickelt wurde. Bhurrus F. Skinner hat diese Vorstellung nicht nur wissenschaftlich vorangetrieben, sondern in seinem Werk „Walden Two“ zu einer umfassenden Sozialutopie ausgebaut.15 Auch hier sind es Planer und Manager, denen die Aufgabe der Perfektionierung des menschlichen Zusammenlebens anvertraut wird. In der neueren Verhaltensökonomie des „Nudgings“ wird dieses Ziel auf die Spitze getrieben.16

    Mit den Mitteln der digitalen Technik erscheint es daher erneut, als könne der Fortschritt des Wissens eine neue Macht über die Gestaltung der Gesellschaft ermöglichen – eine Macht, die nicht zwangsläufig demokratisch legitimiert sein muss, und die sich aufgrund ihrer wissenschaftlich-technischen Rationalitätsansprüche auch dem komplizierten Aushandeln von Interessen, Bedürfnissen und Geltungsansprüchen überlegen fühlen darf, wie sie kennzeichnend für eine demokratische Ordnung der politischen Konfliktbearbeitung sind. Dabei muss die Rolle der Wissenschaft und der gut begründeten Expertise heute vor allem gegen neue Formen des Populismus und des Autoritarismus verteidigt werden. Die letzten Jahre haben deutlich gezeigt, dass es insbesondere in Krisenzeiten wie Pandemien oder Kriegen auf den Rat von wissenschaftlich begründeter Expertise ankommt. Die aber mit der digitalen Revolution verbundenen Ansprüche, technische Problemlösungen zum vermeintlich effizienteren Normalzustand werden zu lassen, sollten jedoch eine Warnung vor überzogenen digitalen Heilsvorstellung sein.

     


    1 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 1981, S. 289.
    2 Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. Stuttgart 2006, S. 138.
    3 Zum Hintergrund der Hermetik bei Campanella siehe Ottmann 2006, S. 158: „Mit dem Ende der Tage kommt die Fülle des Wissens“.
    4 Tommaso Campanella, Der Sonnenstaat, in: Der utopische Staat. Hrsg. v. Klaus J. Heinisch. Reinbek 1960, S. 120.
    5 ebd., S. 131f.
    6 Ottmann 2006, S. 163
    7 Johann Valentin Andreae: Christianopolis. Stuttgart 1975, S. 30
    8 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M. 1983, S. 61.
    9 Ottmann 2006, S. 182ff.
    10 Francis Bacon: Neu Atlantis, in: Der utopische Staat. Hrsg. v. Klaus J. Heinisch. Reinbek 1960, S. 205.
    11 William Henry Smyth: Technocracy. Berkeley 1920, S. 13.
    12 Thorstein Veblen: The Engineers and the Price System. New York 1921, S. 166.
    13 Vgl. die Grundlagenschrift Technocracy Inc. (Hg.): Technocracy Study Course. New York 1934.
    14 Thomas Etzemüller: Die Romantik der Rationalität. Gunnar & Alva Myrdal – Social Engineering in Schweden. Bielefeld 2010.
    15 Bhurrus F. Skinner: Walden Two. Indianapolis, Cambridge 1976.
    16 Richard H. Thaler, Cass R. Sunstein. Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Berlin 2009.