Wie die meisten Kinder in meinem Umfeld hat meine 10-jährige Tochter schon mehrere Vegetarismusphasen durchgemacht. Die Hauptgründe dafür haben sich mit der Zeit verändert: standen anfangs ihr Mitgefühl mit und ihre Zuneigung zu grossen, vertrauten Tieren im Zentrum, wurde später die Qualität und -die Verkürzung des Lebens der Tiere wichtiger. Als wir auf dem biologischen Bauernhof La Coué am Zelten waren, wo wir die Black Angus Rinder aus nächster Nähe beobachteten, die wir am Abend auf den Grill bestellten, wurde ein weiterer Gedanke zentral: wenn wir diese Rinder nicht essen würden, gäbe es sie gar nicht (und auch keinen Bauernhof an diesem Ort). Trotzdem blieb ein Zweifel: auch wenn die Tierhaltung in diesem Fall in keiner Weise zu beanstanden ist, ist es nicht trotzdem so, dass die Rinder "schlecht behandelt" werden, einfach nur deshalb, weil sie zur Fleischproduktion gehalten werden?
Der amerikanische Philosoph Tom Regan vertritt eine solche Ansicht: Tiere, die «empfindende Subjekte eines Lebens» sind, dürfen seiner Ansicht nach nicht als Nutztiere gehalten werden, weil sie damit auf eine bestimmte Funktion reduziert, instrumentalisiert und nicht mit Respekt behandelt werden. Stattdessen hätten Tiere Rechte, in etwa dem gleichen Sinn in welchem Menschen Menschenrechte haben (daher der Name “Rechts-Ansatz”). Regan schreibt in einer Kurzdarstellung seiner Theorie:
In bezug auf die kommerzielle Nutztierhaltung nimmt der Rechts-Ansatz eine ähnlich radikale Position ein [wie zu den Tierversuchen]. Das moralische Grundübel hier ist nicht, dass Tiere in engen Käfigen oder Isolation gehalten werden oder dass ihre Schmerzen und ihr Leiden, ihre Bedürfnisse ignoriert oder abgetan werden. All das ist natürlich falsch, aber es ist nicht das Grundübel. Es ist vielmehr Symptom und Effekt eines tieferliegenden, systematischen Unrechts, das es gestattet, diese Tiere als ohne unabhängigen Wert, als Ressourcen, sogar als erneuerbare Ressourcen für uns zu betrachten und zu behandeln. (SS. 45-46 der Übersetzung)
Worin dieses systematische Unrecht besteht, führt Regan allerdings nicht aus. Zwei Möglichkeiten erscheinen denkbar:
- Entweder findet dieses systematische Unrecht jetzt und überall dort statt, wo Nutztiere gehalten werden. In diesem Fall stellt sich die Frage, wem das Unrecht angetan wird: den Black Angus Rindern auf dem Bauernhof in La Coué? Dies ist eine mögliche, aber schwierig zu verteidigende Position: auch wenn den jetzt tatsächlich existierenden Tieren ein historisches Unrecht angetan wurde und ihr Leben in anderen Verhältnissen besser wäre, ist doch die Umsetzung in konkrete Forderungen im Einzelfall schwierig, Wollen wir von der Familie Beck wirklich verlangen, die Tiere frei zu lassen (wohin?), oder sollten sie sie nicht schlachten, sondern bis zu ihrem natürlichen Tod füttern und pflegen? Ersteres wäre dem Tierwohl sicher nicht zuträglich, letzteres würde dazu führen, dass die Familie Beck nicht mehr von der Rinderzucht, sondern von einem Zoo lebte. Aber auch dann wären die Rinder immer noch Nutztiere.
- Wahrscheinlich meint Regan etwas anderes - ein Unrecht, das sich ereignet hat, als vor langer Zeit die Menschheit angefangen hat, Wildtiere zu domestizieren und mit ihnen in Gemeinschaft zu leben. Über die Jahrhunderte wurde dadurch eine gegenseitige Abhängigkeit geschaffen, die auf der Seite der nichtmenschlichen Tiere dazu geführt hat, dass ihre biologische Art, ihr Wesen und ihre Identität durch das Zusammenleben mit Menschen bestimmt sind. Kurz gesagt: nicht nur würde es die Rinder in La Coué nicht geben, wenn wir sie nicht essen würden, sondern es würde wohl gar keine Black Angus Rinder geben.
Eine solche zweite Ansicht ist durchaus vertretbar. Auch wenn in der Philosophie der Ökologie und der Biodiversität oft gesagt wird, dass jede Spezies als solche einen positiven Wert hat und damit das “Artensterben” an sich schlecht ist (auch wenn bspw. dabei die Gesamtanzahl an Lebewesen zunimmt), ist es vertretbar zu behaupten, dass die Welt besser wäre, wenn es bestimmte Arten von Lebewesen gar nicht gäbe oder sogar nie gegeben hätte. Dies vor allem auch, weil der moderne Artbegriff fluide ist und sich von der klassischen, essentialistischen Auffassung entfernt hat, dass die Artzugehörigkeit zum Wesen eines Lebewesens gehört, das konstituiert, was dieses Tier ausmacht und was es seiner Natur nach ist. Wenn beispielsweise die Neandertaler überlebt hätten und heute systematisch (ausnahmslos oder fast ausnahmslos) in Sklaverei gehalten würden, könnten wir argumentieren, dass es gar keine Neandertaler gegeben haben sollte oder dass es zumindest heute keine geben sollte. Ein solches Argument wäre natürlich angreifbar: warum sollte es in der Natur von Neandertalern liegen, dass sie nur als Sklaven leben können? Es kann sein, dass sie sich von uns so stark unterscheiden, dass für sie ein eigenständiges Leben in der modernen Gesellschaft nicht möglich ist - aber wäre dies nicht eher unser, als ihr Fehler? Was aber folgte daraus, wenn es unser Fehler ist, dass die Neandertaler heute nicht alleine überleben könnten?
Dass eine Auffassung, nach der es die Neandertaler gar nicht geben sollte, vertretbar ist, heisst nicht, dass sie plausibel oder gar richtig ist. Wäre es nicht doch besser, die Neandertaler zwar zu einem gewissen Grad zu bevormunden, ihnen aber doch ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen? Wäre dies kompatibel damit, ihre Arbeitskraft auszubeuten und aus ihrer Existenz einen Nutzen zu ziehen, der ihr Leben schlechter macht? Ist nicht das Artensterben an sich etwas Schlechtes, auch wenn es Arten betrifft, die es ohne unser Zutun gar nicht gäbe?
Zwischenpositionen sind möglich: Welche Art von Nutzen dürfen wir aus Tieren ziehen, die nur dank unserem aktiven Zutun überleben können? Handelt es sich um einen Art Vertrag, den wir mit ihnen eingehen und der beiden Seiten einen Vorteil bringen sollte? Sind die Neandertaler deshalb ein schlechtes Beispiel, weil wir mit ihnen zusammenleben und sogar Kinder haben können? Wenn die Möglichkeit und Art des Zusammenlebens ein Kriterium ist, dann erlaubt es uns vielleicht, in dieser Frage zwischen verschiedenen Arten von Tieren einen Unterschied zu machen.
Das sind interessante Fragen, die uns von einem kruden “Rechts-Ansatz” à la Regan relativ weit wegbewegen.