Still. Die Welt schweigt. Und er? Horcht. Natürlich horcht er. Sein Tun ist aussichtslos, dessen ist er sich bewusst. Er besitzt weder Ohren noch einen auditiven Cortex. Wie also soll er etwas hören?
Dennoch kommt er nicht umhin, denkt er, am Hörsinn festzuhalten. Ist es das, was bleibt? Wünsche, Absichten, Gedanken? Denkt wer? Immerhin kann er eine Stimme hören. Immerhin kann er seine Stimme hören. Er ist sich unschlüssig, ob ihn das beruhigen oder beunruhigen sollte. Vermutlich geht es allen Neuankömmlingen so. Aus purer Gewohnheit und mit zunehmender Verzweiflung hoffen sie darauf, dass ein Außen existiert, darauf, dass etwas nach Innen diffundiert, lauern darauf, dass aus den Tiefen des Unbekannten irgendein Murmeln durch die Membran jenes Vakuums sickert, in dem sie sich jäh befinden. Aber jetzt hört er etwas! Schlurfende Schritte, die näherkommen. Wieder still. Eine Tür ächzt, fällt ins Schloss. Stille. Ein Kutter knattert von fern. Dann versiegt das Geräusch augenblicklich. Stille. Eine Möwe gackert und verstummt. Still. Totenstill. Die Geräusche sind nicht echt, denkt er. Er treibt bloß im Plankton seiner Erinnerungen. Er kann dabei zusehen, wie sie sich ausbreitet, die Stille, ein graues Tuch, ein rasend schnell wachsender Vorhang aus Nebel. Schluckt alles auf. Sitzt er denn nicht im Korbsessel am offenen Fenster und schreibt? Ist das dort drüben nicht eben Paco gewesen mit der Plastiktüte in der Hand, wie er sich durch die Tür
schiebt? Träumt er? Etwas reißt, zieht an ihm. Er hängt an einer langen Nabelschnur, schwebt durch ungefähre Weiten einer endlosen Dämmerung. Hinab? Hinauf? Er weiß es nicht. In der trüben Dunkelheit bemerkt er etwas Winziges. Es glimmt. Eine Art Docht. Ein Glühwürmchen, denkt er und muss lautlos lächeln.
Und jetzt?
"Hallo? Ist hier jemand?" Jemand außer ihm?
Natürlich ist hier nichts. Nichts hier ist natürlich. Kein Hier. Nicht einmal Dunkelheit. Keine Seele. Nur er.
"Hallo!"
"Ja, ja. Immer mit der Ruhe."
"Wer spricht?"
"Tut nichts zur Sache. Fangen wir an!"
"Anfangen? Womit?"
"Name?"
"Ist das Ihr Ernst?"
"Mein voller Ernst."
"Michael. Michael Sandb - "
"Michael genügt. Todesursache?" "Freitod."
"Aha. Selbstmord." "Freitod."
"Ja, ja. Meinetwegen. Was war Ihr Motiv? Versuchen Sie, so ehrlich zu antworten, wie es Ihnen möglich ist."
"Einverstanden."
"Hatten Sie von allem genug?"
"Sie meinen, ob ich lebensmüde war?"
"Ja."
"Nein. Das würde ich so nicht sagen."
"Waren Sie verzweifelt?"
"Nein."
"Waren Sie bereits todkrank?"
"Auch nicht."
"Fürchteten Sie sich davor im hohen Alter allmählich zu zerfallen?"
"Nein. Wobei das tatsächlich kein schöner Gedanke ist."
"Helfen Sie mir! Sie sind anscheinend ein besonderer Fall. Was war Ihr Motiv?"
"Es war die Perspektivlosigkeit. Das fiese Wissen, dass der Tod demnächst aufkreuzt. Wenn ich ihm so oder so nicht entkommen kann, dann nehme ich das Schicksal lieber selbst in die Hand. Einerseits."
"Verstehe. Und andererseits?"
"Neugier. Ich wollte nicht mehr länger spekulieren, sondern wissen, was danach kommt."
"So, so. Ein Forscher. Und wie haben Sie es gemacht?"
"Gift. Natrium-Pentobarbital." "Todeszeitpunkt?"
"Ich weiß nicht. Ich glaube - noch nicht lange."
"Ach ja?"
"Es war neblig! Ja, ein nebliger Mittwochmorgen, 23. Juli 2039."
"Ort?"
"Auf dem Kahn Siempre avante, etwa 500 Meter draußen vor dem Strand Mar da fora. Ich wurde assistiert von meinem Hausangestellten. Er half mir."
"Langsam! Kontinent? Land?" "Europa. Spanien. Galicia."
"Soll ich raten? Fisterra?" "Korrekt."
"Costa da morta."
"Ja."
"Geschmacklos."
"Wie bitte?"
"Na ja. Finden Sie nicht, dass Sie sich für Ihr Vorhaben eine reichlich bedeutungsschwangere Kulisse ausgewählt haben?"
"Das ist reiner Zufall."
"Sagt man dann."
"Ach, denken Sie was Sie wollen."
"Keine Sorge. Wobei war Ihnen Ihr Assistent denn behilflich?"
"Es zu tun. Mir das Leben zu nehmen. Zu zweit geht es einfacher. Hat gedauert. Sagen wir 17 Minuten, dann müsste der Tod eingetreten sein. So um den Dreh. Und nochmals fünf Minuten, bis Sem sorgfältig die Tests durchgeführt hat."
"Wozu Tests?"
"Um alle Zweifel auszuräumen, dass ich noch lebe."
"So, so. Darüber wissen Sie offensichtlich sehr
genau Bescheid. Beruf?"
"Schriftsteller."
"Ach so, das erklärt vieles. Fahren Sie fort."
"Womit?"
"Mit der Schilderung der genauen Umstände. Und lassen Sie allen Überschwang weg, bitte."
"Sem hat sich vermutlich daran gemacht, den Körper ..."
"Sem?"
"Sem, mein Butler."
"Okay. Warum sagten Sie vermutlich."
"Nun, ich bin mir nicht sicher."
"Gut. Sie haben zuletzt von einem Körper gesprochen. Welchen Körper meinen Sie?"
"Meinen Körper. Sem hat ihn ins Meer versenkt, was nicht leicht war, auch wenn wir zusammen genau diese Prozedur mehrfach geübt haben. Dafür habe ich ihn eigens erworben."
"Gekauft?"
"Ja, Sem ist ein Androide."
"Verstehe. Ein humanoider Roboter. Fahren Sie fort."
"Nach mehreren Anläufen hat er es endlich geschafft, Beine und Rumpf bis zum Bauchnabel über die Bordkante zu hieven, ohne dabei selbst das Gleichwicht zu verlieren und ins Meer zu fallen. Er hat sich viel Mühe gegeben, den erschlafften Körper so sanft als möglich ins Wasser gleiten zu lassen. Zuletzt hat er mich noch zwei, drei Sekunden mit beiden Händen am Kopf festgehalten, dann hat er losgelassen. Er ist sofort untergetaucht. Danach hat Sem wie vereinbart einen Moment lang abgewartet, ob er wieder auftauchen würde."
"Und?"
"Nein. Ist er nicht. Zuletzt hat er ihm den schweren Anker hinterhergeworfen. Der müsste die Leiche zuverlässig in die Tiefe gezogen haben. Nichts davon habe ich wahrgenommen. Ich war tot."
"Sie haben sich das alles hinterher bloß ausgemalt."
"Wie? Ich verstehe nicht."
"Sie waren längst nicht mehr bei Sinnen. Aber gut, lassen wir das. Klingt alles einigermaßen plausibel. Ist schließlich Ihr Geschäft."
"Wie meinen Sie das?"
"Fantasieren! Das tun doch Schriftsteller?"
"Ja."
"Und nun? Was glauben Sie wird nun passieren?"
"Jetzt?"
"Ja. Denken Sie, dass Sie jetzt tot sind?"
"Ja, das denke ich. Sie sind ein Witzbold! Weshalb fragen Sie mich das?"
"Nur so. Aus Interesse. Selbstmörder wie Sie hoffen gewöhnlich auf das absolute Ende. Und wenn das nicht zu haben ist, dann wenigstens auf eine Fortsetzung des Lebens unter neuen Vorzeichen, besseren. Machen Sie sich darauf gefasst, dass sich beide Hoffnungen als falsch erweisen könnten."
"Ich habe es mir wieder und wieder vorgestellt."
"Was?"
"Wie ich in die Tiefe sinken werde."
"Verstehe."
"Auch jetzt muss ich ständig daran denken."
"Ja? Dann tun Sie das! Tun Sie das!" "Sagen Sie mal. Wer sind Sie eigentlich?"
"Tut nichts zur Sache."
"Kennen wir uns?"
"Sagen wir so, ich bin ein Teil von Ihnen. Das sollte Ihnen genügen. In Wahrheit sind Sie allein. Mutterseelenallein."
Die Kurzerzählung ist eine Binnenerzählung des Romans SAOSEO.