Was hätte Wittgenstein zu Psychosen gesagt?

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    Im Stationszimmer der Abteilung für Psychosen wird gerade rapportiert. Rund um einen Tisch sitzend, tauschen sich PsychiaterInnen und PsychologInnen über die Ereignisse der vergangenen Tage aus. Etwas abseits, auf einem leicht angewinkelten Stuhl an der Wand angelehnt, sitzt ein Mann, dessen Gesicht wir kennen: Ludwig Wittgenstein.

    Es ist bereits der dritte Tag, an dem er das stationäre Geschehen beobachtet. Das psychiatrische Personal erlebt ihn dabei als still, in sich zurückgezogen bisweilen gar als „dissoziativ“. Wittgenstein selbst sieht sich in der Auseinandersetzung mit dem klinischen Alltag mit Ambivalenzen konfrontiert: Auf Phasen höchster Stimuliertheit folgen Phasen des Nicht-Verstehens, die wenig später von Phasen der Empörung abgelöst werden. Der wesentliche Bezugspunkt der drei Phasen scheint dabei der Begriff der „Psychose“ zu sein. Durch die vergangenen Rapportsitzungen wurde deutlich, dass es sich hierbei um einen Sammelbergriff für unterschiedliche Syndrome handelt. Auch wenn sich anscheinend drei Syndromkategorien unterscheiden lassen – Halluzinationen, Wahn und Störungen der Ich-Umwelt-Grenze –, kann auf die Beeinträchtigung des Realitätsbezugs als gemeinsamer Nenner verwiesen werden.

    Während dem Rapport spricht ein Psychotherapeut von „Störung des Ich-Bezugs“, eine Psychiaterin weist hingegen auf eine „Pathologie des Weltbezugs“ hin. Es sind diese und ähnliche Äusserungen, die Wittgenstein ins Grübeln bringen. Ein Nachhängen seiner aufkommenden Gedanken wird aber jäh unterbrochen. Er hört eine Stimme sagen: „Was willst du? Diese Patienten sind rational einfach nicht zugänglich!“ Die Gewissheit und Bestimmtheit dieser Äusserung irritiert Wittgenstein. Er würde ihr gerne einige seiner in den letzten Monaten verfassten Aufzeichnungen entgegenhalten (die posthum unter dem Titel „Über Gewissheit“ erscheinen werden). Die Frage, wie er seine Einsichten didaktisch am geschicktesten vorbringt, hemmt diesen Impuls jedoch augenblicklich. Immerhin, so wird ihm klar, enthalten seine Aufzeichnungen – gerade auch durch die Vermittlung des psychiatrischen Kontextes – eine revolutionäre Note, mit der es mit Bedacht umzugehen gilt. Wer seinen Überlegungen folgt, wird unweigerlich die eben gehörte These, dass Psychosen rational per se nicht zugänglich seien, nicht nur unter ein neues Licht stellen, sondern dadurch konsequenterweise auch andere therapeutische Annäherungesmethoden suchen müssen. Das hiesige Therapieprimat der medikamentösen Behandlung würde ergo an Autorität verlieren. Diese Überlegungen versetzen Wittgenstein in einen leidenschaftlich-bewegten Gefühlszustand, den er mit didaktischem Kalkül etwas zu zähmen versucht: Wie beginnen?

    Wer sich auf der Station bewegt, sieht PatientInnen, die von Zweifel regelrecht befallen scheinen: Zweifel, der es ihnen verunmöglich, sich selbst als lebens- und sozialfähig wahrzunehmen und als stabile und handlungsfähige Persönlichkeiten aufzutreten. Dieser Zweifel, der sowohl den Welt- als auch den Ich-bezug gänzlich für sich zu vereinnahmen scheint, wird als Zweifel verstanden, dem man regelrecht ausgeliefert ist. Diese Analyse, so ist sich Wittgenstein nach drei Kliniktagen sicher, hat fraglos ihre Berechtigung. Wer auf der Station das Leiden der PatientInnen erfährt, versteht intuitiv, weshalb der Blick für die 

    Zweifelsanfälligkeit der Dinge hier nicht eigens gefördert wird. Der Zweifel tritt hier als destabilisierende Energie mit unbestreitbaren Ohnmachtsfolgen auf. Aus didaktischer Warte gilt es, um eine Basis des Einvernehmens zu schaffen, diesen Gedanken vorauszuschicken.

    Soviel zu Wittgensteins didaktischem Kalkül. Dass in einer Psychiatrie ein umsichtiger Umgang mit dem Zweifel indiziert ist, gilt es also als unbestreitbar hinzunehmen. Dass der Zweifel in der Tendenz gar aber unter pathologischem Generalverdacht zu stehen scheint, führt bei Wittgenstein zu Irriration und Ärger. Wer in die Philosophiegeschichte blickt, wird feststellen, dass man den Zweifel auch als Handlung auffassen kann, der darüber hinaus gar selbstermächtigend wirken kann. Vielleicht vermag die Philosophie – kraft ihrer Autorität – legitime und auch funktionale Aspekte des Zweifelns anschaulich zu machen. Vielleicht kann dadurch der Zweifel auch abgesondert vom Störungsbild erfahrbar gemacht werden. So die ambitionierte Vorstellung Ludwig Wittgensteins.

    Beginnen wir mit Michel de Montaigne, der insofern auch den modernen Zeitgeist einfangen kann, als er als Vertreter eines skeptischen Individualismus gilt. In seinen Essais setzt er sich mit gesellschaftlichen und persönlichen Urteilen auseinander und deckt dabei die kontingenten Faktoren der Meinungsbildung auf. Mit seinem Skeptizismus zielt er aber nicht auf einen Platz in der Psychiatrie, sondern auf Seelenruhe ab. Eine weitere Form des Zweifelns lernen wir bei Descartes kennen. Der Zweifel wird hier methodisch-teleologisch eingesetzt und strebt nach einem für die Wissenschaft sicheren und gewissen Boden.

    Diese Ausführungen, so denkt sich Wittgenstein, könnten reichen, um den Zweifel salon- und anschlussfähiger zu machen. Wittgenstein stellt sich vor, wie er nun vor der Rapportgruppe seine Notizen der vergangenen Monate zückt, und referierend seinen Standpunkt klar zu machen versucht. Als Ausgangspunkt würde er sich da für den Paragraphen 71 entscheiden, der nochmals die gemeinsame Basis des Einvernehmens betonen soll:

    71. Wenn mein Freund sich eines Tages einbildete, seit langem da und da gelebt zu haben, etc. etc., so würde ich das keinen Irrtum nennen, sondern eine, vielleicht vorübergehende Geistesstörung.1

    Jetzt, so denkt sich Wittgenstein, könnte der Gruppe aber durchaus etwas Irritation zugemutet werden. Vielsagend würde er nun auf seine Metapher der „Türangel“ verweisen, die er in der Folge greifbar machen möchte: Es gibt Sätze, die haben den Status der Unbezweifelbarkeit. Ich heisse nun mal Ludwig.2 Aber auch die Aussagen, dass noch niemand auf dem Mond war3 oder ich jetzt gerade nicht am Träumen bin4, sind unbezweifelbar. Gleichzeitig – die Pointe kommt in einem paradoxen Gewand daher – kann die Gültigkeit dieser Sätze nicht theoretisch, sondern nur praktisch begründet werden. Dies heisst aber einerseits, dass da die Gültigkeit dieser Sätze nur durch die Praxis gestützt wird, die Sätze daher prinzipiell auch als fehlbar und grundlos angesehen werden können.

    253. „Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube.“5

    Andererseits wurde aber vorhin ja die Unzweifelbarkeit der „Angelsätze“ betont. Demzufolge scheinen die Angelsätze in der Tat eine „paradoxe Doppelrolle“6 einzunehmen. Wittgenstein tippt auf einen entsprechenden Paragraphen:

    204. „Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; - das Ende ist aber nicht, dass uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsererseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.“7

    Dieser prima vista kryptisch anmutende Angelbegriff wird fassbarer, wenn man sich vorstellt, dass wir in unserer Urteilspraxis immer einige bestimmte und feststehende Sätze vorfinden. Diese Sätze haben eine Art Scharnierfunktion und strukturieren das um sie rumdrehende Denken. Die Angelsätze sind dabei keine isolierten Entitäten, sondern bilden vielmehr ein sich reziprok stützendes Bezugssystem. Wenn wir den obigen Paragraphen 204 nochmals herbeiziehen und auf die Angelsätze anwenden, heisst das, dass sie letztlich durch die Praxis gehalten werden. Unsere Praxis dreht sich demzufolge rund um die Angelsätzen. Diese werden wiederum nur durch das wechselseitige Bezugssystem gestützt. Da unsere Praxis sich auf keine unabhängige Theorie berufen kann, befinden wir uns quasi in einem Schwebezustand.

    Während Wittgenstein sich seine bisherigen Ausführungen zu seiner Position – dass es hinter der Praxis keine theoretische Rechtfertigungsstütze gibt – durch den Kopf gehen lässt, wird ihm klar, dass die naturwissenschaftlich geschulten ZuhörerInnen weitere Erklärungen dazu bedürfen werden. Er muss ihnen klar machen, dass Urteilen immer etwas Un- bezweifeltes voraussetzt. Ohne Angelsätze ist ein Urteil nicht möglich. Ja, auch der Zweifel setzt immer ein Urteil, welches selbst nicht bezweifelt wird, voraus. Ohne eine stille Urteilsvoraussetzung kann kein Zweifel formuliert werden.

    Als Wittgenstein mögliche Fragen der Rapportmitglieder zu antizipieren versucht, wird er erst recht nachdenklich. Eine Frage, die sich aus dem bisher Gesagten förmlich aufdrängt, ist, wie sich die wittgensteinischen Ausführungen auf das Stationsgeschehen übertragen lassen. Dabei liegt die Folgerung auf der Hand, dass der fehlende Realitätsbezug der PsychotikerInnen mit einem ausgeprägten und destabilisierenden Bewusstsein der Beliebigkeit der Angelsätze zusammenhängt. Oder müsste man anstelle von „Bewusstsein“ von „Erleben der Beliebigkeit der Angelsätze“ sprechen? Ja, das triffts wohl eher. Hier muss sich Wittgen- stein jedoch auch eingestehen, dass er mit dem psychotischen Krankheitsbild und dem Klinikalltag noch zu wenig vertraut ist, um an beliebigen Punkten des vorliegenden Diskussionsterrains inhaltliche Tiefenbohrungen vornehmen zu können. Dennoch kann, ausgehend vom Erleben für die Beliebigkeit der Angelsätze, die berechtigte Frage gestellt werden, inwiefern ein Zusammenhang zu einem stabilen und handlungsfähigen Welt- und Ichbezug vermutet werden kann. Eine positive Korrelation scheint erstens dadurch begünstigt, wenn das Erle- ben der Beliebigkeit der Angelsätze auf eine Person trifft, die wenig Unterstützung und in ihren sozialen Rollen kaum Selbstwirksamkeit erfährt. Die vermeintlich tragende Handlungspraxis verliert an Tragfähigkeit. Falls die Annahme stimmt, dass die Psychiatrie die Tendenz hat, den Zweifel (und damit auch das Bewusstsein oder das Erleben für die Beliebigkeit der Angelsätze) zu pathologisieren, ist das psychiatrische Standardvorgehen insofern kontraproduktiv, als sie die Geltung der „psychotischen Angelsätze“ in Abrede stellt (wir erinnern uns, dass die Gültigkeitszusprechung von Angelsätzen ausschliesslich durch die Praxis erfolgt).

    Der zweite typisierte Moderator, der den Zusammenhang zwischen dem Erleben für die Beliebigkeit der Angelsätze und psychotischen Episoden zu verstärken scheint, kann bei einer Persönlichkeitsdisposition vermutet werden, die sich primär fragend und suchend zeigt und potentiell sicherheitsstiftende Habituationen ablehnt. Um es zugespitzter und eindringlicher zu formulieren: Diejenigen, die ein ausgeprägtes Sensorium für die Verschiebungen ihrer Scharniere des Welt- und Ichbezug haben, gleichzeitig über wenig sozialen Rückhalt verfügen und kaum auf individuelle Habitiuationen zurückgreifen (können), scheinen, so die These, für einen psychotischen Schub besonders gefährdet zu sein. Das eben Gesagte lässt sich mit der Metapher des Flussbettes weiter illustrieren: Vermeintlich feste Sätze haben stets die Möglichkeit flüssig zu werden, wohingegen flüssige Sätze plötzlich erstarren können.

    96.   „Man könnte sich vorstellen, dass gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und dass sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden.“8

    97.   „Die Mythologie kann wieder in Fluss geraten, das Flussbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flussbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.“ 9

    Zeit für ein Résumé: Unser Denken ist auf ein Flussbett angewiesen. Dieses Flussbett erhält seine Geltung durch die soziale Praxis. Ob gewisse Dinge nun als richtig oder als falsch eingeschätzt werden, wird immer aus der Optik gewisser Vorannahmen beurteilt, die durch eben diese Praxis bestimmt werden.

    94. „Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der über- kommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“10

    Es scheint sich nun auf die Frage zuzuspitzen, inwieweit bei PsychotikerInnen die stützende Praxis – die ja die Gültigkeit der Angelsätze begründet – tatsächlich entfällt. Eingangs wurde ja die Position vertreten, dass man in der Praxis an den Angelsätzen nicht zweifeln kann. Aber vielleicht scheint ein Aspekt der Psychose gerade darin zu liegen, dass die Dynamik des Flussbettes mehr oder weniger unmittelbar erlebt wird. Der Anker findet keinen Grund und ein Grund vermag nur die Praxis zu schaffen (oder zu geben). Leute, die sich im Alltag von der Praxis getragen wissen, können sich hierbei vorstellen, dass wir uns ja auch in einem ganz anderen Flussbett beziehungsweise Denksystem bewegen könnten. Und dies macht deutlich, dass unsere Angelsätze in diesem Sinne durchaus fehlbar und grundlos sind.

    92. „Man kann aber fragen: «Kann Einer einen triftigen Grund haben zu glauben, die Erde existiere erst seit kurzem, etwa erst seit seiner Geburt?» –Angenommen, es wäre ihm immer so gesagt worden, – hätte er einen guten Grund, es zu bezweifeln? Menschen haben geglaubt, sie könnten Regen machen; warum sollte ein König nicht in dem Glauben erzogen werden, mit ihm habe die Welt begonnen? Und wenn nun Moore und dieser König zusammenkämen und diskutierten, könnte Moore wirklich seinen Glauben als den richtigen erweisen? Ich sage nicht, dass Moore den König nicht zu seiner Anschauung bekehren könnte, aber es wäre eine Bekehrung besonderer Art: der König würde dazu gebracht, die Welt anders zu betrachten. Bedenke, dass man von der Richtigkeit einer Anschauung manchmal durch ihre Einfachheit oder Symmetrie überzeugt wird, d. h.: dazu gebracht wird, zu dieser Anschauung überzugehen. Man sagt dann etwa einfach: «So muss es sein.»“

    Es sei mir noch ein vager Gedanke erlaubt: Dadurch, dass PsychotikerInnen aus der Praxis Gefallene zu sein scheinen, sind Sie auch keine eigentlicher Kinder des Zeitgeistes mehr. Die Philosophie tritt seit jeher auch im Duktus des Unzeitgemässen auf, was sich beispielsweise in einer kritischen Distanz zu Modeerscheinigungen zeigt. Wäre die Philosophie für PsychotikerInnen somit nicht eine Praxis, auf der sich etwas aufbauen liesse? Immerhin ist in der Philosophie ein Bewusstsein für die Beliebigkeit der Angelsätze ausgeprägter als anderswo. Ja, denkt sich Wittgenstein assoziativ, in der Philosophie ist hierbei der Begriff „Bewusstsein“ passender als der Begriff „Erleben“.

    Aus seinem tagtraumähnlichen Zustand erwacht, stellt Wittgenstein fest, dass er mittlerweile allein im Raum ist. Bevor er sich an einer Rapportsitzung einbringen wird, möchte er noch etwas an seinem didaktischen Schliff arbeiten.


    1 Wittgenstein, Ludwig (2020): S. 27 (71.)

    2 Wittgenstein, Ludwig (2020): S. 162 (628.)

    3 Wittgenstein, Ludwig (2020): S. 76 (286.)

    4 Wittgenstein, Ludwig (2020): S. 174 (676.)

    5 Wittgenstein, Ludwig (2020): S. 69 (253.)

    6 Gutschmidt, Rico (2014): S. 2

    7 Wittgenstein, Ludwig (2020): S. 59 (204.)

    8 Wittgenstein, Ludwig (2020): S. 34 (96.)

    9 Wittgenstein, Ludwig (2020): S. 34 (97.)

    10 Wittgenstein, Ludwig (2020): S. 33 (94.)


    Quellen:

    Gutschmidt, Rico (2014): Ludwig Wittgensteins praktische Gewissheit zwischen Skep- tizismus und Antiskeptizismus. (Vortrag am «XXIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie 2014 in Münster», 30.09.2014).

    Wittgenstein, Ludwig (2020): Über Gewißheit, Wien/Salzburg, Shurkamp.