1. Einleitung
Im Essay vertrete ich die These, dass virtuelle Realität ohne einen Körper nicht funktionieren kann. Dabei orientiere ich mich am enaktivistischen Ansatz in der Wahrnehmungsforschung und an der Emotionstheorie von Matthew Ratcliffe. Auch die Malerei führe ich als ein Bei- spiel an, um zu zeigen, dass die Komplexität der menschlichen Interaktion mit der Umwelt nichtmal annähernd in der virtuellen Realität wiedergegeben werden kann.
Meine Motivation zum Verfassen des Essays ist, dass die Philosophie, als eine argumentativ verfahrende, analytische Methode, einen Einblick in die grundlegenden Probleme der virtuellen Realität gewähren kann. Virtual reality Gadgets bleiben an einen blinden technischen Fortschritt gebunden, solange die Grundbegriffe, die die menschliche Erfahrungswelt bestimmen, nicht erläutert werden. Eine Diskussion über virtuelle Realität bedarf der Philosophie, um die Richtung der wissenschaftlichen Forschung zu bestimmen und die theoretischen Probleme der wissenschaftlicher Arbeit zu bewältigen. Ohne ein folgerichtiges Denken und Argumentieren, hat der wissenschaftliche Fortschritt keine Orientierung.
2. Der enaktivistische Ansatz in der Wahrnehmungsforschung
Virtuelle Realität wird durch das “Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache’’ in folgenden Worten definiert:
[M]ittels Computerprogrammen erzeugte grafische Simulation einer realistisch erscheinenden Umgebung, in die der Nutzer (mit Hilfe von elektronischen Geräten wie Joystick, Datenbrille oder Datenhandschuh) interaktiv eingebunden ist. (DWDS 2023)
Zugang zu dieser Simulation ermöglicht eine VR-Brille, die die audiovisuelle Wiedergabe einer virtuellen Realität erzeugt (ebd.). Durch die VR-Brille erhaltet die Person Zugang zu dem Cyberspace, der von Computerprogrammen erzeugten virtuellen Welt, die beim Betrachter die Illusion der Räumlichkeit erzeugt (ebd.). Das bedeutet, dass die virtuelle Realität ausschließlich audiovisuell ist. Lediglich das Ohr und das Auge können im Cyberspace stimuliert werden. Unsere Wahrnehmung kann jedoch nicht ausschließlich auf Sehen und Hören reduziert werden. Infolgedessen argumentiere ich für die Bedeutung des Körpers und des Tastsinns bei der Interaktion des Menschen mit der Umwelt.
Ein theoretischer Ansatz, der die Rolle des Körpers bei der Wahrnehmung hervorhebt, ist der Enaktivismus. Nach diesem Ansatz, so Briscoe und Grush, hängt die räumlich-inhaltliche Wahrnehmungserfahrung, die die Welt repräsentiert, von implizitem Wissen über die Art und Weise ab, wie sensorische Reize in Abhängigkeit von der Körperbewegung variieren (Briscoe and Grush 2015, The Enactive Approach, para. 1). Wahrnehmung ist nicht etwas, das uns passiert, oder das in uns geschieht, so Alva Nöe (Nöe 2004, 1). Wahrnehmung ist “something we do’’, schreibt er (ebd.). Infolgedessen ist die Wahrnehmung kein Prozess im Gehirn, son- dern eine erlernte Tätigkeit (ebd., 2). Nicht das Gehirn, sondern unsere “aktiven Leben’’ (ac- tive lives), in den Worten von Nöe, konstituieren unser Bewusstsein (ebd., 231). Das bedeutet, dass ein Körper erforderlich ist, um sich in der Welt zurechtzufinden.
Virtuelle Realität wirkt jedoch nicht tatsächlich auf den Körper ein. Während man die VR- Brille aufhat, ist man sich der Tatsache bewusst, dass man sich nicht wirklich in einer anderen Welt aufhaltet. Im Cyberspace spürt man weder den Wind auf der Hand noch die Wärme der Sonne im Gesicht. Eine VR-Brille stimuliert ausschließlich unser Gehirn. Wie der Neurowissenschaftler Andrew Huberman schreibt, bilden unsere Augen den sichtbaren Teil unseres Gehirns (Huberman 2023). Infolgedessen nimmt unser gesamter Körper nicht wahrhaftig an der virtuellen Realität teil. Lediglich das Gehirn, stimuliert durch die Netzhaut, partizipiert an der virtuellen Realität, die uns durch eine VR-Brille präsentiert wird. Unsere Körper bleiben weiterhin im selben Raum, in dem wir die VR-Brille aufgesetzt haben. Das Gefühl, das wir von dem Raum haben, in dem wir die VR-Brille aufsetzen, bleibt auch während des Tragens der Brille bestehen. In keinem Moment ist man überzeugt, dass man durch die VR-Brille ei- nen Zugang zu einer Realität bekommt, die sich außerhalb der Realität befindet, in der unser Körper verortet bleibt. Wir können nicht, der enaktivistischen Argumentation folgend, aktiv an der virtuellen Realität teilnehmen, denn die virtuelle Realität widerfährt uns lediglich, sie spielt sich vor unseren Augen ab.
Im zweiten Abschnitt meines Essays argumentiere ich dafür, dass sich unser Körpergefühl im Cyberspace nicht verändert. Wir bleiben weiterhin am Ort, an dem wir die VR-Brille auf- gesetzt haben. Körperlich befinden wir uns nicht in der von Computerprogrammen erzeugten virtuellen Welt. In der grafischen Simulation einer Umgebung, sind wir passive Betrachter.
3. Körpergefühl im Cyberspace
Matthew Ratcliffe definiert eine bestimmte Art von Emotionen, die er als “existenzielle Gefühle’’ (existential feelings) bezeichnet (Ratcliffe 2009, 179). Für ihn handelt es sich um die “Strukturen der Verwandtschaft’’ (structures of relatedness) zwischen dem Selbst und der Welt, die einen veränderbaren Sinn für “Realität’’ (reality), “Situiertheit’’ (situatedness), “Verortung’’ (locatedness), “Verbundenheit’’ (connectedness), und “Bedeutung’’(significance) umfassen (ebd.). In den Worten von Ratcliffe: “Like touches, they are feelings of the body that do not have ‘the body in isolation from the world’ or ‘the world in isolation from the body’ as an object’’ (ebd., 187). Dementsprechend argumentiert Ratcliffe dafür, dass “existen- zielle Gefühle’’ entscheidend für unseren Umgang mit der Welt sind. Sie konstituieren ein “variables Zugehörigkeitsgefühl’’ (variable sense of belonging), wie er schreibt (ebd.), das eine “distinktive Role in der Erfahrung’’ (distinctive experiential role) hat (ebd., 188). Ratcliffe zeigt, dass Körperlichkeit eine unentbehrliche Funktion in der individuellen Erfahrung der Welt hat. In seinen Worten zusammengefasst: “[...] all experience involves a touch-like sense of belonging’’ (ebd., 192).
Im Cyberspace gibt es kein genuines Körperbewusstsein. Das bedeutet, dass der Körper nicht tatsächlich an der virtuellen Realität teilnimmt. Ein Joystick, oder ein Datenhandschuh, funktioniert als eine artifizielle Erweiterung der eigenen Hand. Infolgedessen ist die Haut nicht ein Teil der simulierten Welt. Im Cyberspace kann kein Zugehörigkeitsgefühl entstehen, weil sich die Person nicht wirklich in einer anderen Welt befindet. Das bedeutet, dass zwischen der Person und der Welt im virtuellen Raum eine Barriere vorhanden ist, die mit der gegenwärtigen Technologie nicht überwunden werden kann. Zwischen dem Selbst und der virtuellen Welt entstehen keine, im Vokabular von Ratcliffe, “Strukturen der Verwandtschaft’’. Infolgedessen hat die Person, obwohl sie eine VR-Brille aufhat, nicht das Gefühl, dass sie sich in einer anderen Welt vorfindet. Die menschliche Erfahrungswelt kann nicht auf audiovisuelle Eindrücke reduziert werden. Eine VR-Brille und ein Headset können den Träger in keine neue Welt versetzen. Bild und Ton sind nicht ausreichend, um eine reiche Erfahrungswelt zu produzieren. Solange Körpergefühle nicht in das Cyberspace inkorporiert werden, kann virtuelle Realität nicht funktionieren. Der Mensch erfährt erst dann eine Verbundenheit mit der Welt, wenn sein Körper ein Teil dieser Welt wird. Nicht das Auge, sondern die Haut ist das grüßte Organ des Menschen. Unsere Fähigkeit, durch Berühren, Streicheln, Druck, Tritt, Stoß oder Vibration wahrzunehmen, weist uns einen Platz in der Welt zu.
Bilder können die Vielschichtigkeit der menschlicher Erfahrung nicht vollständig erfassen. Obwohl die Bildqualität durch technische Mittel immer besser wird, bedeutet das nicht, dass dadurch die Bilder auch wahrheitsgetreuer geworden sind. Könnte Fotografie die Wirklichkeit aus der subjektiven Perspektive abbilden, wäre Malerei nicht mehr erforderlich. Weder Kubismus noch abstrakte Kunst würde in den Museen hängen. Das bedeutet, dass in der Malerei etwas erscheint, das die Fotografie nicht wiedergeben kann. Gegenwartskunst erfüllt ein Bedürfnis des Menschen, das er in dieser Form nicht in der Fotografie wiederfindet. Picassos Bilder werden immer noch hoch geschätzt, weil sie etwas darstellen, das nicht technisch re- produziert werden kann. Form und Farbe benötigen eine Leinwand, um den Inhalt der Kunst ausdrücken zu können. Kunstwerke erfordern Materialität, um die aktive Aufmerksamkeit der Rezipienten zu erwecken. Infolgedessen kann eine genuine Kunsterfahrung im Cyberspace nicht stattfinden.
Auch darstellende Kunst, Literatur und Musik können im Cyberspace nicht wahrhaftig stattfinden. Virtuelle Realität schafft es nicht, die Komplexität der individuellen Interaktion mit der Umwelt zu reproduzieren. Somit ist die virtuelle Realität lediglich eine mittels Computerprogrammen erzeugte grafische Simulation, in die der Nutzer begrenzt eingebunden ist. Die beim Betrachter erzeugte Illusion der Räumlichkeit kann diesen nur in begrenztem Maße interaktiv in die simulierte Umgebung einbeziehen. Grund hierfür ist, dass der Körper der Betrachterin aus der virtuellen Welt ausgeschlossen wird. Es fehlt das Zugehörigkeitsgefühl, das für die Beziehung zwischen Individuum und Umgebung essenziell ist. Sich in der Welt zurechtfinden bedeutet, körperlich in diese eingebunden zu sein. Mit dem Aufsetzen der VR-Brille wird die Person zu einem körperlosen Auge, das sich orientierungslos im virtuellen Raum bewegt.
Wahrnehmung vollzieht sich in der Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt. Diese interdependente Beziehung zwischen Person und Welt, kann ohne einen Körper nicht funktionieren. Subjektivität lässt sich nicht auf ein Gehirn in einem Tank reduzieren. Infolgedessen erstellt die grafische Simulation einer realistisch erscheinenden Umgebung keine wirkliche Welt. Ohne den Körper einzubeziehen, bleibt die virtuelle Welt leer, trübe und abstrakt. Wirklichkeit ist weitaus mehr als eine audiovisuelle Stimulation des Gehirns.
4. Schluss
Virtuelle Realität kann ohne den materiellen Körper nicht funktionieren. Indem sie audiovisuell ist, werden ausschließlich Ohr und Auge stimuliert. Wahrnehmung kann jedoch nicht auf Sehen und Hören reduziert werden. Infolgedessen argumentiere ich für die Bedeutung des Körpers bei der Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt. Der enaktivistischen Argumentation folgend, wird die virtuelle Realität nicht aktiv mitgestaltet, da sie dem Betrachter lediglich widerfahren kann. Eine kreative Auseinandersetzung mit der Welt, und mit den Dingen in ihr, findet daher nicht statt. Solange Körpergefühle keine Komponente der virtuellen Erfahrung sind, kann virtuelle Realität nicht funktionieren. Der Mensch fühlt sich nur dann mit der Welt verbunden, wenn auch sein Körper ein Teil dieser Welt wird. Auch Kunsterfahrung er- fordern Materialität. Die Möglichkeit, das Bild mit den Fingern zu berühren, den Pinselstrichen des Künstlers taktil zu folgen, garantiert die Existenzberechtigung des Kunstwerks.
Die Diskussion zur virtuellen Realität muss die philosophische Theoriebildung einbeziehen. Technischer Fortschritt, der lediglich die Effizienz neuer Gadgets und Apparaturen im Blick hat, befasst sich nicht mit den Grundbegriffen menschlicher Erfahrung. Philosophie als Problemlösen und Komplexitätsreduktion muss sich am Diskurs über die virtuelle Realität beteiligen, um einen blinden technischen Fortschritt zu verhindern.
Literaturverzeichnis
Briscoe, Robert and Rick Grush. 2015. “Action-based Theories of Perception.’’ In Stanford Encyclopedia of Philosophy, edited by Edward N. Zalta Stanford University, Summer 2020 edition. Article published July 08, 2015. https://plato.stanford.edu/archives/sum2020/ent- ries/action-perception/#EnaApp
Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, s.v. “Cyberspace,’’ accessed June 15, 2023, https://www.dwds.de/wb/Cyberspace.
–––, s.v. “Virtual Reality,’’ accessed June 15, 2023, https://www.dwds.de/wb/Virtual%20Rea- lity.
–––, s.v. “VR-Brille,’’ accessed June 15, 2023, https://www.dwds.de/wb/VR-Brille.
Huberman, Andrew D. [@hubermanlab] 2023. “If this image doesn’t make clear to you that the eyes are an extension of the brain [...].’’ Twitter, February 14, 2023, 05:05 a.m. https://twitter.com/hubermanlab/status/1625707826659340288?lang=en
Nöe, Alva. 2004. Action in Perception. Cambridge: MIT Press.
Ratcliffe, Matthew. 2009. “Existential Feeling and Psychopathology.’’ In Philosophy, Psychiatry and Psychology 16 (2): 179–194.