Philosophie studieren im Ausland: Meine Erfahrungen aus Wien

Rafaela Schinner hat im Bachelor Philosophie mit Nebenfach Ökonomie in Fribourg studiert. Ihren Master “Philosophy and Economics” absolviert sie an der Universität Wien. Im Artikel spricht sie über die Unterschiede im Philosophiestudium.

    Die Universität Wien ist riesig: mit über 90’000 Studierenden ist sie die grösste Hochschule im deutschsprachigen Raum und eine der grössten in Europa. Dies zeigt sich auch in der Philosophie. Während in Fribourg im Herbstsemester vielleicht zwischen 20 und 30 Hauptfachstudierende beginnen, sitzen in den obligatorischen Einführungsvorlesungen in Wien zwischen 300 und 500 Menschen (oder sind zumindest dafür angemeldet). Viele der Aspekte, in denen sich das Philosophiestudium in Wien von jenem in Fribourg unterscheidet, hängen hauptsächlich mit diesem Grössenunterschied zusammen. Ich denke deshalb, dass sich folgende Ausführungen gut auf andere grosse Philosophiedepartemente verallgemeinern lassen. 

    Zunächst einmal muss man aufpassen, nicht in der Menge unterzugehen. In den meisten Veranstaltungen sitzen sehr viele Studierende - und immer wieder andere. Dadurch wird es manchmal etwas unpersönlich. Insbesondere am Anfang des Studiums ist der Universitätsbetrieb primär Massenabfertigung. Es ist bedeutend schwieriger als in Fribourg, mit anderen Studierenden oder mit Dozenten und Professorinnen in Kontakt zu kommen - man muss sich aktiv darum bemühen (wobei letzteres sicherlich auch teils einem kulturellen Unterschied geschuldet sein könnte).

    Wer sowieso kontaktfreudig ist, wird damit kaum Mühe haben, aber gerade für eher zurückhaltende Menschen scheint mir das eine Herausforderung. Das ist an einer kleinen Universität, wo zum Teil nur 10-15 Leute in einer Vorlesung sitzen (und in manchen Seminaren gar nur fünf…) bedeutend einfacher - zumal man auch schneller wieder auf dieselben Leute trifft.

    Im Gegenzug bietet die Universität Wien mit ihrer Fülle an Studierenden die Möglichkeit, sich “seine” eigenen Leute auszusuchen. Dies meine ich vor allem in Bezug auf philosophische Interessen. Fast für jedes spezifische Thema innerhalb des Fachs finden sich einige Leute, die sich ebenfalls dafür begeistern. So gibt es Lesegruppen zu allerlei Themen, die teils breiter (wie “Sprachphilosophie”), teils spezifischer (wie “praktische Rationalität”) und teils sehr spezifisch (wie “Hegels Phänomenologie des Geistes”) sind. Zudem gibt es auch institutionalisierte studentische Initiativen wie beispielsweise das “Wiener Forum für analytische Philosophie”, das sich jeden Freitag im Semester zur Textbesprechung oder Referaten trifft und sogar jeden Sommer eine Konferenz organisiert mit Referierenden aus aller Welt.

    Wer sich also über das Curriculum hinaus für spezifische Themen interessiert und weniger formelle philosophische Diskussionen schätzt, findet in Wien Entfaltungsmöglichkeiten, die es in diesem Ausmass an vielen kleineren Universitäten nicht gibt.

    Die Grösse des Departements führt natürlich auch dazu, dass sehr viele Veranstaltungen zu den unterschiedlichsten Themen angeboten werden (wobei man sich nicht einfach einschreiben kann, sondern ein fixes Kontingent an Punkten verschiedenen Veranstaltungen zuordnen kann, mittels derer dann bei Überbelegung entschieden wird, welche man besuchen darf).

    Die Breite an Veranstaltungen bezieht sich auch auf die “ideologische” und methodologische Ausrichtung. Damit meine ich, dass sie sich nicht nur inhaltlich unterscheiden, sondern auch stark darin, was sie unter Philosophie verstehen. So sass ich einmal in einem Seminar zu Hegels Phänomenologie des Geistes, das jeweils damit begann, dass die Studierenden ihre persönliche Leseerfahrung mitteilen konnten (was in diesem Fall vor allem aus Verzweiflungsbekundungen bestand). Assoziative Gedanken zu Textstellen waren sehr willkommen und ganz viele verschiedene (und teils sehr freie) Interpretationen wurden als “richtig” angesehen. Umgekehrt gibt es Seminare, bei denen es hauptsächlich darum geht, das essentielle Argument aus dem Text herauszuarbeiten und kritisch zu bewerten. Die sprachliche Ausarbeitung rückt in den Hintergrund und die Interpretationen sind viel stärker an den tatsächlichen Text gebunden. Der Vorteil von einer grossen Universität besteht darin, dass es sehr viele verschiedene Herangehensweisen an die Texte gibt und man mit verschiedenen Verständnissen davon, was (gute) Philosophie ist, in Berührung kommen kann.

    Aus Gründen der Grösse gibt es auch mehr Möglichkeiten für Studierende, an der Universität zu arbeiten. Pro Semester sind weit über 10 Tutorenstellen zu vergeben, dazu haben verschiedene Professorinnen Studienassistenzen und auch im administrativen Bereich existieren einige Jobs für Studierende. 

    Gerade im administrativen Bereich führt die Grösse der Universität aber auch zu einem gewissen Flexibilitätsverlust. Während in Fribourg meist eine kurze Mail ans Sekretariat genügte, um ein Seminar von einem Modul ins andere zu schieben, ist die erforderliche Geduld für dasselbe Problem in Wien deutlich höher. Aber auch hier gilt: der persönliche Kontakt kann viele Wege abkürzen.

    Das Fazit: eine kleinere Universität wie Fribourg ist sicherlich persönlicher und familiärer. Umgekehrt sind die Entfaltungsmöglichkeiten an einer grösseren Universität wie Wien riesig - sie wollen aber gesucht und erarbeitet werden. Wer dies zu schätzen weiss, kommt dort vollends auf seine Kosten.