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Die Probleme der Psychologie

Eine Einsendung im Rahmen des Essaywettbewerbs zum Thema "Philosophische Fragen der Psychologie und des Psychologiestudiums"

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    Freud, Jung, Guattari und wie sie alle heißen mögen – Die Psychoanalyse wird den Ansprüchen der modernen Naturwissenschaften nicht gerecht. Empirische Evidenz, klare Versuchsanordnungen, Falsifikation von Hypothesen, kontrollierte Laborbedingungen. Darauf basieren die Errungenschaften der modernen Technologien, darauf kann die Psychologie zu einer ernstzunehmenden Wissenschaft erwachsen. Was die Psychoanalytiker vollbracht haben, war nicht mehr als glorifizierte Spekulationen, Denkanstöße im besten Fall.

    Solche Sentiments kann man heutzutage häufig antreffen. Sieht man von der Idealisierung der wissenschaftlichen Methode und der unterkomplexen Betrachtung der Wissensgeschichte ab, so lautet die Kernaussage: Je näher die Methoden der Psychologie an denen der Naturwissenschaften sind, desto besser können wir die menschliche Psyche verstehen. Diese grundlegende Einstellung zieht sich durch den akademischen Betrieb weltweit.

    Doch liegt hier wirklich der Weisheit letzter Schluss? Kann es nicht sein, dass das Fach Psychologie sich nicht an den Methoden der Naturwissenschaften orientieren sollte? Ja, dass im Gegenteil diese methodische Voreingenommenheit uns daran hindert, substanzielle Fortschritte in der Erforschung der Psyche zu erzielen. Und woran will man überhaupt erkennen, dass signifikanter Fortschritt in der Psychologie gemacht wurde? Psychologie, wie sie heute verstanden und betrieben wird, steht vor drei grundlegenden Problemen: Das Problem der nicht-technischen Begriffe, die Fixierung auf ein bestimmtes Bild der menschlichen Psyche und der Anspruch auf wissenschaftlichen Fortschritt.

    Egal, ob es um Emotionen, den autoritären Charakter, Intelligenz, Bewusstsein oder etwas anderes geht; die untersuchten Konzepte wurden nicht neu für diese Forschung geschaffen. Im Gegenteil, der Anspruch besteht darin, die grundlegenden Elemente zu untersuchen, die unser Denken und Leben leiten. Doch hierin besteht eine gewisse Gefahr beziehungsweise Unsicherheit. Wissenschaftliche Untersuchungen erfordern klare Definitionen der untersuchten Konzepte. Doch unsere Alltagssprache ist von Vagheit durchdrungen, die für unsere Kommunikation wesentlich ist. Doch genau diese Vagheit müsste für die Forschung ausgeschaltet werden. Damit gehen jedoch ein Bedeutungsverlust und eine Bedeutungsverschiebung einher; der Gegenstand, den wir untersuchen, spiegelt nur noch teilweise das prä-theoretische Konzept, das unsere Untersuchung ursprünglich motiviert hat.

    Wir behaupten ein allseits bekanntes Konzept zu untersuchen, forschen aber mit einem mehr oder weniger willkürlichen Konstrukt, das so nur begrenzten Wert in der Vermehrung unseres Verständnisses hat.

    Ein Beispiel für diese Problematik findet sich in der Debatte um die Intelligenzforschung. Der Begriff "Intelligenz" steht mit verschiedenen Vorstellungen und Konzepten in Verbindung: Klugheit, Abstraktionsfähigkeit, Problemlösung, Wissen, Kreativität. Der Begriff ist an Vagheit und Zusammengesetztheit kaum zu überbieten. Der Versuch, einen solchen Begriff klar zu definieren und sogar zu quantifizieren, führt unweigerlich zu unbefriedigenden und kontroversen Ergebnissen. Begriffe wie "emotionale Intelligenz" oder "soziale Intelligenz" zeugen davon, dass der Begriff viel zu vage ist, um sich einer einheitlichen Definition anzubieten, geschweige denn einer, die unser Verständnis erweitert. Quantifizieren wir Intelligenz in Form eines IQ, so können wir damit Untersuchungen anstellen, gewisse Zusammenhänge aufdecken. So mögen wir etwa feststellen, dass ein höherer IQ mit grösserem Erfolg im Leben korreliert. Doch dieselbe Korrelation lässt sich zwischen Schulnoten und Erfolg finden, doch würde man nicht behaupten, dass Schulnoten die Quantifikation einer grundlegenden Qualität von Menschen darstellt. Wir messen am Ziel vorbei; das Wesentliche, die Essenz der Intelligenz wird nicht dadurch greifbar, dass wir irgendwelche standardisierte Tests entwickeln.

    Weiterhin orientiert sich die gesamte Psychologie an bestimmten Bildern, die das Psychische verständlich machen sollen. Ich spreche von grundlegenden Vorstellungen, die die Grundlage unserer psychologischen Untersuchungen bilden. Damit meine ich beispielsweise, dass wir von psychischen Zuständen sprechen oder von psychischen Störungen. Doch indem diese Sprache, diese Bilder als angemessen betrachtet werden, lenken wir unsere Untersuchung bereits in eine bestimmte Richtung.

    Wir könnten uns etwa fragen, wie oft sich eine Person in einem Zeitraum im Zustand der Trauer befunden hat. Die Frage scheint unschuldig, doch wie stellen wir fest, ob der Zustand der Trauer herrscht oder nicht? Welches Kriterium kann herangezogen werden? Man wäre wohl geneigt zu sagen, dass ein psychischer Zustand bedeutet, dass sich die Psyche in einer bestimmten Konfiguration befindet. Hier zeigt sich, dass die Vorstellung eines psychischen Zustandes ein Bild aus den Naturwissenschaften ist. Ein Muskel ist im Zustand der Kontraktion, wenn sich die Filamentproteine in einer bestimmten Konfiguration befinden. Bestimmte Anordnungen der Teile einer Maschine bedeuten, dass sie sich in einem guten Zustand befindet. Sind die Teile anders angeordnet, befindet die Maschine sich in einem unbrauchbaren Zustand. Aber solange die Teile in einer bestimmten Konfiguration zueinander stehen, lässt sich der Zustand beschreiben. Anders sieht es beim Zustand der Trauer aus. Was sind überhaupt die Elemente der Psyche? Und wie müssten diese konfiguriert sein, damit man vom Zustand der Trauer sprechen kann? Die Sprache von Zuständen wird unkritisch akzeptiert, obwohl sie uns nur weiter in Verwirrung treibt.

    Solche Fälle von nicht hinterfragten Bildern durchziehen die gesamte Psychologie und ihre Theorien. Es ist unglaublich schwierig, neue Erkenntnisse über die Psyche zu gewinnen, wenn unsere Untersuchungen auf ungeeigneten Bildern beruhen. Wir nehmen gewisse Arten und Weisen über einen Sachverhalt zu reden als natürlich und angemessen an, laufen jedoch unweigerlich in Probleme, sobald das Bild an seine Grenzen gelangt.

    Dies leitet über zum letzten Punkt: der Anspruch auf wissenschaftlichen Fortschritt. In der Physik finden wir neue Partikel, in der Chemie neue Elemente, in der Biologie neue Arten. Neue Eigenschaften von Teilchen, Elementen oder Lebewesen werden entdeckt. Die Medizin versteht neue Wirkungsmechanismen und identifiziert die Ursache für bestimmte Krankheiten. In der Psychologie gestaltet sich der Fortschritt schwieriger. Wir finden keine neuen Emotionen und beobachten keine neuen Charaktermerkmale. Der Versuch, psychische Gesetze zu finden, geht am Ziel vorbei. Wir wollen Wege finden, Menschen und ihr Verhalten zu verstehen. Wenn ich frage, warum eine Person in dieser und jener Weise gehandelt hat, bin ich nicht befriedigt, wenn ich die Antwort erhalte: Es wurde statistisch erwiesen, dass Menschen in ähnlichen Situationen ähnlich gehandelt haben.

    Der Fortschritt in der Psychologie sollte nicht in der Ansammlung von Fakten gesehen werden. Das Ziel sollte sein, Menschen und ihr Verhalten verständlich zu machen, sie in bestimmte Zusammenhänge zu stellen, die uns einleuchten. Danach wäre Psychologie eine konzeptuelle Beschäftigung, die danach strebt, neue Bilder für unser Denken zu schaffen. In diesem Sinne kann die Psychologie viel von der Psychoanalyse lernen. Denn in diesem Feld werden verschiedene Zusammenhänge postuliert, neue Vorstellungen entworfen und Bilder gezeichnet.

    Der große Philosoph Ludwig Wittgenstein sieht die Errungenschaften Freuds in dieser Hinsicht, auch wenn dieser nicht unbedingt dieses Selbstverständnis an den Tag gelegt hatte. Wittgenstein meint, dass Freuds Wirken in der Schaffung neuer Vorstellungen, neuer Bilder liegt. Freud findet nicht neue Gesetze, wie man das etwa in der Physik beabsichtigt. Aber seine Gedanken drücken eine gewisse Einstellung aus.1 Es wäre verfehlt von Freud als Entdecker des Unterbewussten zu sprechen, in dem Sinne, dass er ein Naturgesetz oder ein Element des Psychischen entdeckt hätte. Vielmehr bietet Freud eine neue Perspektive, um über das Psychische nachzudenken, eine neue Art und Weise der Erklärung. Gewisse Verhaltensweisen und Eigenschaften werden nun durch Rückgriff auf das Unterbewusste erklärt. Dies erlaubt uns Sinn aus Menschen zu gewinnen, die uns zuvor ein Rätsel waren. In dieser konzeptuellen Erweiterung oder Veränderung liegt die große Errungenschaft Freuds.

    In eine solche Richtung wäre eine Neuorientierung der Psychologie wünschenswert. Der Versuch, den naturwissenschaftlichen Logos zu übernehmen, scheitert an den begrifflichen Voraussetzungen, den ungeeigneten Bildern und einem unpassenden Selbstverständnis. Um die menschliche Psyche und das menschliche Verhalten verstehen zu können, brauchen wir konzeptuelle Fortschritte. In diesem Sinne kann sich die Psychologie ruhig an der Psychoanalyse orientieren, die neue Perspektiven, Vorstellungen und Zusammenhänge in den Diskurs einführt.


    1 Wittgenstein, Ludwig. Lectures and conversations on aesthetics, psychology & religious belief. Blackwell, 1978, S. 25f.