Ulrike Mueller fragt: "Wozu lebt man?" Antwort von Sebastian Muders, Ethik-Zentrum Zürich:
Wozu lebt man?
Viele Wozu-Fragen sind Fragen nach Zwecken von Handlungen und Verhalten: Wer sich fragt, wozu er sich jeden Morgen aus dem Bett quält, möchte als Antwort Gründe, die sein Handeln als zweckmäßig ausweisen. Andere Wozu-Fragen betreffen Dinge, die von uns instrumentell genutzt werden oder wurden: Wozu gebraucht man eine Bohrmaschine? Oder: Wozu dienten die Pyramiden? Wieder andere Wozu-Fragen sind auf biologische Gebilde gerichtet: Wozu ist das Herz eines Säugetiers gut? Oder: Wozu haben Giraffen so lange Hälse?
Je nachdem, in welche Rubrik von Zweck-Fragen man Ihre Frage einordnet, ergeben sich zunächst also unterschiedliche Alternativen. Vielleicht ist nach einem Zweck gefragt, der die unterschiedlichen Handlungsvollzüge, die unter dem Oberbegriff „man lebt“ gefasst werden können, mit Sinn erfüllt. Oder man betrachtet sein Leben und fragt nach dem instrumentellen Wert – was wird seinem Träger dadurch ermöglicht? –, den es mit sich führt. Oder aber man möchte wissen, welchen Zweck „man“ als Gesamtorganismus Mensch – im Unterschied zu seinen einzelnen Organen – hat.
Je nach Blickpunkt und angesetztem Begründungsaufwand kann man nun versuchen, diese drei Alternativen zueinander in Beziehung zu setzen. Die größten Vorbehalte bestehen dabei zunächst sicherlich gegenüber der Auffassung, der Mensch als solcher habe einen Zweck; das entspräche der dritten gerade angebotenen Lesart Ihrer Frage. Wird man dieser Überzeugung außerhalb theologisch gerechtfertigter Glaubenssätze überhaupt Kredit einräumen können? – Eine philosophische Möglichkeit der Aufklärung bestünde in dem Versuch, aus der unbezweifelten Zweckmäßigkeit vieler unserer Bestandteile – Herz, Gehirn, etc. – auf die Zweckmäßigkeit des Menschen als Ganzem zu schließen: Ebenso wie die Zweckmäßigkeit der Bestandteile eines Autos – seine Reifen, sein Motor, die Scheibenwischer – nur vor dem Hintergrund einsichtig erscheinen, dass das Auto auch als Ganzes für etwas gut ist – wir können damit fahren –, ebenso können wir Bau und Funktionsweise unserer Organe nur vor dem Hintergrund des Gesamtorganismus „Mensch“ angemessen verstehen: Sie dienen im Minimum dazu, unser Leben und Überleben zu sichern und andere Geschöpfe unserer Art ins Leben zu führen.
Damit sind wir bei der zweiten der oben aufgeführten Möglichkeiten angelangt, Ihre Frage zu lesen. Vieles am Menschen dient dazu, ihn am Leben zu erhalten. Wozu aber ist das Leben selbst gut? Welchen Nutzen hat es für uns? – Eine Möglichkeit, diese Frage positiv zu beantworten, bestünde darin, Leben als Selbstzweck herauszustellen: Wir sollten leben, weil Leben eben an sich gut ist. Diese Antwort, so verschroben sie zunächst auch klingen mag, scheint tatsächlich nicht rundheraus unplausibel zu sein: Viele Menschen weisen lebendigen Dingen einen höheren Wert zu als solchen, die es nicht sind. Wer seine Kinder mit einem Wasserschlauch einen herrenlosen Sandhaufen nassspritzen sieht, wird darin kaum etwas Schlechtes erkennen; stellt sich der vermeintliche Sandhaufen dann aber als Ameisenhaufen heraus, spüren wir normalerweise zumindest ein leichtes Unbehagen ob derartigen Tuns.
Menschen sind nun aber keine Ameisen. Auch wenn wir ebenso wie Ameisen lebendig sind, leben wir doch nicht wie die Ameisen. Einfaches Überleben erscheint den meisten von uns als vergleichsweise kärgliche Ausbeute angesichts des riesigen Aufwands, den die Natur (in Form der langen evolutionären Entwicklung aus unseren Vorfahren) und wir selbst (in Gestalt unserer alltäglichen Bemühungen) in unser Leben gesteckt haben und noch stecken.
Andererseits gestatten es uns unsere Befähigungen nicht nur, zu überleben und Leben weiterzugeben; jeder Einzeller ist unter entsprechend günstigen Bedingungen dazu in der Lage. Unsere Sinne, unser Fühlen, nicht zuletzt unser Denken erlauben es uns nicht einfach nur zu leben, sondern ein Leben zu führen. Tatsächlich sind wir den lieben langen Tag damit beschäftigt, unser Leben so zu gestalten, dass wir nicht nur den nächsten Tag erleben, sondern dabei Freude und Stolz empfinden können: Wir rackern uns aktiv ab, um schöne Erlebnisse zu haben, etwa in Gestalt angenehm verbrachter Abende oder Wertschätzungen, die wir vonseiten unserer Mitmenschen erhalten. Noch dazu sorgen wir uns um viele Dinge außerhalb unserer selbst und wollen sie zum Besseren wenden – oftmals auch über unser Leben hinaus: Unsere Kinder, unsere Freunde, unsere Katze, Tierarten, die vom Aussterben bedroht sind, den Welthunger, den Regenwald, das Ozonloch…
Damit stecken wir natürlich schon mitten in der ersten Lesart, die wir Ihrer Frage gegeben haben: Welche Zwecke verfolgen unsere Handlungen und warum? Bei aller Vielgestaltigkeit und Trubelhaftigkeit, die unser Tun auszeichnet, ist menschliches Streben doch nicht unsystematisch, sondern strukturiert: Wir tun dies, um das tun zu können, und das führt uns wiederum dahin… viele menschliche Tätigkeiten lassen sich in derlei Reihen einordnen. Und welchen Endpunkt haben diese? Haben sie überhaupt einen Endpunkt?
Viele verschiedene, aber nicht beliebige. Nehmen wir an, Sie treffen in der Stadt einen eiligen Freund und fragen ihn, was er gerade vorhat. Er erwidert Ihnen, dass er auf dem Weg zum Bahnhof ist. Sie fragen ihn daraufhin, wohin er denn von da aus möchte. Er erklärt, dass er den Zug in einen weiter entfernten Ort erreichen muss. Sie haken wiederum nach und möchten nun wissen, was er da vorhat. Er antwortet, dass er dort einen alten Freund besuchen will.
An dieser Stelle nun dürfte das Gespräch in der Mehrzahl der Fälle enden; zumindest scheint sich das Thema mit der letzten Antwort erledigt zu haben. Und zwar nicht deswegen, weil Sie nun allmählich ratlos werden, wohin das nur führen soll; auch nicht deswegen, weil Sie Ihren Freund aus Höflichkeit nicht noch länger aufhalten möchten; und auch nicht deswegen, weil Sie auf die letzte Antwort keine Frage mehr formulieren könnten; unsere Grammatik hätte nichts dagegen. Vielmehr scheint die letzte Aussage Ihres Freundes vollkommen hinreichend, um sein gegenwärtiges Tun zu erklären. Jegliche weitere Rechtfertigung hätte dem nichts hinzuzufügen.
Natürlich haben nicht alle unsere Handlungen das Besuchen von alten Freunden zum Ziel. Oben haben wir weitere Zwecke kennengelernt, die uns vertraut sind. Nicht alle eignen sich gleichermaßen als Fragenstopper im gerade erörterten Sinn: Die Sorge um das Ozonloch beispielsweise ist im Regelfall in der Sorge um die Lebewesen begründet, die unter ihm leiden. Gleiches gilt nun aber nicht für die Sorge um Ihre Katze: Weder benötigen Sie Ihre Katze für Ihr Überleben, noch treibt Sie die Sorge um die Nagetiere, die ihr vielleicht zum Opfer fallen würden, wenn Sie sich nicht mehr so ausufernd um Sie kümmerten wie zuvor. Sie schätzen sie einfach und das beinhaltet eben, dass Sie sich um sie sorgen, Punkt. Gleiches gilt für den angenehmen Abend. Und die Sorge um die Kinder. Dies und anderes mehr: Dazu lebt man.
Weiterführende Literatur
Chappell, Timothy D. J. (1998): „The Basic Goods“. In: Ders.: Understanding Human Goods. Edinburgh: Edinburgh University Press, 33-66
Korsgaard, Christine M. (2007): „The Metaphysics of Normativity“. In: Dies.: Self-Constitution. New York: Oxford University Press, 27–44.
Murphy, Mark C. (2001): „The Real Identity Thesis“. In: Ders.: Natural Law and Practical Rationality. Cambridge: Cambridge University Press, 6–45.
Nagel, Thomas (2013): „Einleitung“. In: Ders.: Geist und Kosmos. Berlin: Suhrkamp, 11–25.