Scheitern wir vor dem Widerspruch zwischen Mangel und Überfluss oder haben wir nur das Hoffen verlernt?
Ausgerechnet mit der Verwirklichung einer der bedeutsamsten politischen Utopien, nämlich dem Fall der Berliner Mauer, stürzt die Konjunktur der Utopien radikal ab. Der Triumph der Freiheit läutet für Joachim Fest ein nicht unwillkommenes „Ende des utopischen Zeitalters“ (1990) ein; für andere, wie die liberale Marion Gräfin Dönhoff, ist der Sozialismus „entehrt als Utopie, als Summe uralter Menschheitsideale“ wie soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Während wir erkennen, dass die Utopie durchaus ein zweischneidiges Schwert ist, wird über Nacht der Kapitalismus „alternativlos“; er hat seinen unangenehmen Konkurrenten los und die Märkte beginnen sich wie entfesselt auszutoben. Die Welt globalisiert, das Internet regiert, die Börse das Thermometer. Es entsteht unglaublicher Reichtum in der Sphäre, die die Welt den Westen nennt. Der Reichtum verteilt sich aber nicht von selbst. Stattdessen entstehen Blasen, die 2008/2009 platzen und auch Europa in eine finanzpolitische Depression drücken. Der internationale Terrorismus zerstört Weltkultur, bedroht Fußballspiele und greift die Freiheit an. Langsam ist es unbehaglich geworden in der Welt des Mangels und des Überflusses. In welche Zukunft gehen wir?
Der Verfall der Utopien geht auch auf Kosten der Orientierung. Schon Sigmund Freuds „Unbehagen in der Kultur“ (1929/30) bemängelt mit Macht, Erfolg und Reichtum „falsche Maßstäbe“ und die Unterschätzung der „wahren Werte des Lebens“. Noch der Mensch der Spätmoderne ist mehr denn je durch die Zeit gehetzt und zum Leistungssubjekt degradiert. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg kommt zum Befund vom „erschöpften Selbst“ (1998), das sich in den gestressten Biographien der Depressionen und Burnouts zu einem „Unbehagen in der Gesellschaft“ (2010) auswächst. „Im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten symbolisiert die Depression das Unbeherrschbare“, und eben dieses ist die Auswucherung der Freiheit. Sollen wir es so deuten, dass das von Nietzsche als Souverän ausgerufene Individuum heute vor den Freiheiten kapituliert, die ihm Technik und Wohlstand eingebracht haben? Der Philosoph Byung-Chul Han meint hier, dass Nietzsche in Wahrheit das ausgebeutete Leistungssubjekt vorwegnimmt und ihm Muße auferlegt. Genau dies kann der depressive und durch die Zeit gepeitschte Mensch nicht mehr beherzen. Er lässt sich von der Freiheit dopen und vom Wohlstand blenden. Die Welt liegt ihm im Smartphone zu Füßen und er kennt den Preis nicht, den er zahlt. Er ist weder Narzisst, noch Egoist, sondern Massenindividuum, totalgesättigt, bestvernetzt – und bleibt der einsamste. Das spätmoderne Leistungssubjekt ist nach Han zwar frei von der Repression von Herrschaft, dafür wendet sich die Gewalt depressiv nach innen. Um der „kulturellen Erschöpfung“ zu entkommen, hat die Gesellschaft sich den „therapeutischen Diskurs“ erfunden, versprengt auf eine verwirrende Vielfalt sozialer und kultureller Schauplätze, wie die Soziologin Eva Illouz konstatiert, ob Fernsehtalkshows, Consultingfirmen oder Selbsthilfegruppen. Das erschöpfte Selbst wird dadurch aber nicht stärker und sein Taumel zwischen Don Quichote und Münchhausen hört nicht auf.
Die Freiheit ist einfach da, frei zur Verfügung, aber macht sie auch glücklich? Der gute Verdienst, das beste Gesundheitssystem der Welt, das üppige Recht auf Urlaub, der weggeschaffte Müll, das reiche Kulturleben lassen uns – weltweit betrachtet – auf einer Insel der Glückseligkeit wähnen. So viele verwirklichte Utopien in Freiheit und Ordnung. So viele Privilegien? Aber genau hier keimen die Depressionen: denn was wir Privileg nennen, ist die Errungenschaft unserer Eltern und Großeltern – und macht uns noch nicht glücklich. Schon Albert Camus wusste, dass die Freiheit in erster Linie nicht aus Privilegien besteht, sondern aus Pflichten. Privilegien zu genießen und Nutznießer zu sein, mündet schleichend in Trägheit. So entsteht das Paradox der Wohlstandsdepression: „Erreicht der Mensch ein Einkommensniveau, das ihm die fundamentalen Annehmlichkeiten und Sicherheiten des Lebens beschert, beginnt sein Glück sich einzupendeln. Jeder weitere Zuwachs an Wohlstand führt zu abnehmenden Grenzerträgen hinsichtlich des Gesamtglücks“, so Jeremy Rifkin. Mit Besitzstandswahrung statt Innovation, mit Neid statt Kooperation, mit Gleichgültigkeit statt mit Liebe reagiert der von Wohlstand „erschöpfte“ Mensch auf die nicht selbst erkämpfte Freiheit.
In welche Zukunft wollen wir also gehen? Zukunft ohne Utopie hieße die Zeit anzuhalten und vom Fettpolster der Privilegien zu leben. Utopien zu haben heißt dagegen, dass wir der düsteren Weltentwicklung (Klimawandel, Armut, Terrorismus) eine Besinnung auf humane Werte entgegenstellen. Nicht nur frei zu sein im Sinne von unbeherrscht, sondern auch glücklich als von Depressionen freie Menschen. Die Utopie gelingt nur im Kampf, denn nur der erkämpfte Fortschritt bedeutet Freiheit. Der Optimist kämpft für etwas – und sein Motiv ist nicht der Nutz, sondern das Unrecht. Deshalb spricht Ernst Bloch vom „Unrecht des Pessimismus“ und der Pflicht, „scharf besorgt zu sein“. Der europaweit aufkeimende Rechtsruck kommt aus dem Hinterhalt der diffusen Ängste und der Bequemlichkeit der Menschen. Gegen die Angst steht die Hoffnung, ihr kämpferisches Gegenteil. Freiheit, die auch glücklich macht, ist die Frucht einer Vita activa, wie Hannah Arendt sie forderte, und Träger ihrer Utopien sind Menschen, die den aufrechten Gang üben, auch wenn dieser am letzten gelernt wird.
© Klaus Kufeld 2016