Interkulturalität und Andine Philosophie
Ist die Idee der Universalität eigentlich selbst universell, d.h. in mehreren oder allen Kulturregionen, auffindbar? Wo endet die Ethnologie, die Religions-, Sprach- und Geschichtswissenschaft, und wo beginnt die Philosophie; wo also liegen disziplinäre, epistemische und “kulturelle Grenzen”, wenn es um Begriffe und Konzepte wie “Universalität”, “Partikularität”, “Logik” oder gar “Kultur” selbst geht? Da wir heutzutage in mehreren philosophischen und sozialwissenschaftlichen Subdisziplinen mit global-ethischen Vorstellungen hantieren, z.B. bei Fragen der globalen Gerechtigkeit, der Menschenrechte oder utilitaristischen Vorstellungen von Entwicklung, sind diese Fragen allesamt hochgradig politisch.
In diesem kritischen Feld bewegt sich die Interkulturelle Philosophie (Fornet-Betancourt 1996, 2015; Paul 2008; Wimmer 2004), die ausgehend von einer kulturgesellschaftlichen Begrenzung der europäischen Philosophie, auf der ziemlich gut belegbaren Prämisse beruht, dass Philosophie – wie im Übrigen auch die Demokratie – eben keine originär europäische Errungenschaft darstellt (z.B. des antiken Griechenlands), sondern, dass sich die philosophische Reflexion in verschiedener, aber stets systematischer Form, in verschiedenen Weltgegenden entwickelt hat (Wimmer 2004, 34-42). Karl Jaspers etwa sprach von der „Achsenzeit“ (Jaspers 1964), also einem Zeitraum zwischen 800 und 200 v. Chr., in dem sich sowohl im Nahen Osten, dem antiken Ägypten, in Indien, aber auch in China relativ zeitgleich die philosophische Reflexion als eigenständige Denk- und Schriftform etabliert hatte. In einigen gängigen Interpretationen zielt Interkulturelle Philosophie aber weniger auf Vergleichsstudien philosophischer System ab, als vielmehr auf das Reflektieren und Testen von Methoden, um echten interkulturellen Austausch zu ermöglichen und gleichzeitig die eigene Philosophie situativ zu verorten. Was mitunter „Polylog“ (Wimmer 2004) genannt wird, möchte damit zum einen erreichen, interkulturelle Begründungen zu erarbeiten. Der interkulturelle Imperativ kann etwa dahingehend formuliert werden, dass man nur dasjenige für wahr – bzw. ausreichend glaubhaft oder gesichert – halten sollte, was durch ein Abwägen mehrerer kultureller Betrachtung zustande kam. Eine wichtige Einschränkung zur Vermeidung von mono-kulturellen Einschätzungen, die als „universelle Wahrheit“ anderen aufgezwungen oder übergestülpt werden.
Andererseits soll dieser interkulturelle Austausch dazu dienen, das dunkle koloniale Kapitel der europäischen Philosophie – die rassistischen und abschätzigen Bemerkungen eines Hegels, Kants, Lockes, etc. über aussereuropäische Völker sind gut bekannt – durch Reflektion auf das Eigene aufzuarbeiten, und zusätzlich von jenem Universalitätsanspruch abzurücken, welcher den europäischen Kolonialismus erst legitimiert und im weiteren Sinne möglich gemacht hatte. In diesem Beitrag geht es genau um diese wichtige Schnittstelle, die leider in der politischen Philosophie des Westens, wie in den Wissenschaften generell, nach wie vor relativ geringe Aufmerksamkeit findet.
Einen Sonderfall der interkulturellen Begegnung stellt die Kolonialisierung der Amerikas dar, welche zu jener Zeit unter ganz anderen Namen bekannt waren. Hier trafen Europäer auf andere, die sie verallgemeinernd „Indios“ nannten – also vom Spanischen „(s)in-dios“ bzw. „Gottlose“. Diese vermeintlich Gottlose wurden von Anfang an als Geringere betrachtet (der sogenannte Disput von Valladolid zwischen Sepúlveda und de las Casas über die Frage, ob die Indios als freie Menschen zu behandeln seien, ist berühmt), und zwar weil die Kolonisierten eben keine Philosophie, keine Wissenschaften, kein Entwicklungsstreben und keine Form von Privatbesitz kannten. Ihr Land war nicht nach Kriterien der individuellen Produktivitätssteigerung ausgelegt und organisiert, weshalb John Locke etwa den britischen Kolonialismus dahingehend legitimierte, dass das Land demjenigen gehöre, der es produktiv nütze (Arneil 1996). Indigene Wissens- und Daseinsformen wurden somit von Beginn weg als minderwertig und nutzlos abgewertet und gleichzeitig die Universalität europäischen Denkens als allgemeingültig verklärt und gewaltsam durchgesetzt.
Einige Jahrhunderte später haben lateinamerikanische DenkerInnen darauf hingewiesen, dass der transatlantische Sklavenhandel und Kolonialismus, welcher gleichzeitig Unmengen von Silber und Gold nach Europa brachte, nicht nur der Beginn des weltweiten Kapitalismus darstellte. Denn gleichzeitig wurden damit auch gesellschaftliche und rassische Hierarchien fixiert, die bis heute oftmals wirkmächtig sind (in Haiti z.B. unterscheidet man noch heute bis zu 24 verschiedene Hauttöne): an der Spitze der Weisse, und zwar männlich, in der rassischen Pyramide darunter Mischlinge (Mestizen), dann Indigene und zuletzt Schwarze, und als allerletztes schwarze Frauen. In diesem Zusammenhang ist Rassismus und die Wertigkeit von Kulturen und Geschlechtern, so das Argument der lateinamerikanischen PhilosophInnen, untrennbar mit dem Aufstieg des globalen Handels und Kapitalismus verbunden (Quijano und Ennis 2000; Mignolo 2005; Castro-Gómez 2005).
Diese Position der Nullsetzung des Eigenen, von wo aus die ganze Erde nach einem einzigen etablierten Schema beurteilt und eingeteilt wird, hat der kolumbianische Philosoph Santiago Castro-Gómez als die „Hybris des Nullpunktes“ (Castro-Gómez 2005b) bezeichnet. Ein sehr anschauliches Beispiel sind etwa die Zeitzonen, welche vom Nullpunkt Greenwich aus, die gesamte Welt einteilen und gleichzeitig subjektiv auf jedes Individuum weltweit Einfluss haben.
Dieses Schema der Einteilung der Welt von einem monokulturellen Nullpunkt aus, ist Teil der sogenannten „kolonialen Matrix der Macht“, welche der peruanische Historiker und dekoloniale Philosoph Ánibal Quijano beschrieben hatte (Walsh 2004). Diese bezieht sich auf die Bedingung der „Kolonialität“, welche im Unterschied zur historischen Epoche des Kolonialismus, weiterhin Bestand habe. Quijanos Überlegungen waren von früheren, post-kolonialen und dekolonialen Autoren inspiriert, wie z.B. Franz Fanon oder José Martí. Seine Arbeiten wurden in den letzten 25 Jahren von zahlreichen Autoren in den Amerikas weiterentwickelt, welche oftmals selbst pluralkulturelle Existenzen aufweisen. Dem transdisziplinären Autorenkollektiv „Modernität/Kolonialität“ (Escobar 2002) zufolge, setzt sich die koloniale Matrix aus den bereits beschriebenen Kolonialitäten zusammen, die allesamt aufs Engste mit der sogenannten Moderne verbunden sind: 1.) „Kolonialität des Wissens“ bezieht sich auf die Universal- und Superioritätssetzung einer einzigen Art- und Weise der Wissensgenerierung, welche gleichzeitig alle anderen, traditionellen oder indigenen Wissensformen abwerten muss. 2.) „Kolonalität der Macht“ bezieht sich auf die rassische, geschlechtsbezogene und kulturelle Pyramide, welche untrennbar mit dem Aufkommen und der Verbreitung des globalen Kapitalismus verbunden ist. 3.) Die „Kolonialität des Seins“ letztlich bezieht sich zum einen auf die allgemeine Existenzerfahrung unter den Bedingungen des modern-kolonialen Kapitalismus (ähnlich dem Beispiel der Zeitzonen). Zum anderen jedoch, insbesondere auf die Bedingungen der subalternen Existenz, welche den Auswirkungen der anderen Kolonialitäten subjektiv ausgeliefert ist und gleichzeitig oftmals gezwungen ist, mehrere kulturelle Prägungen in sich zu vereinen. Dies ist insbesondere der Fall von Migranten, von Afro-Amerikanern in den Amerikas, von Indigenen in post-kolonialen Staaten, etc.
Diese Menschen in existenziellen „Zwischenräumen“ sollten, nach der Meinung einiger zeigenössischer lateinamerikanischer Denker, sogenanntes „Grenzdenken“ anwenden, also interkulturell agieren, um sich von kolonialen Bedingungen zu emanzipieren (Grosfoguel 2009).
Im Falle des andinen Raums etwa wurde im letzten Jahrzehnt, unter anderem dank der Rehabilitation und Verbreitung indigenen Wissens, ein wichtiges Gegenprojekt zur westlichen Moderne entworfen, welches als interkulturelles Hybrid politischer Philosophie gelten kann. Das Prinzip des „guten Lebens in Harmonie zwischen Mensch und Natur“ (Qichua: sumak kawsay) oder (spanisch) Buen Vivir fand als oberstes Staatsprinzip Eingang in die Verfassungen Ecuadors und Boliviens. Im Gegensatz zum aristotelischen, individuellen „guten Leben“ (eudaimonia), welches nach Glückseligkeit strebt, sind im Buen Vivir kollektiv-dynamische Werte grossgeschrieben: Komplementarität, Reziprozität, Korrespondenz, Balance und Masshaltung; und zwar individuell wie gesellschaftlich, zwischen Geschlechtern wie auch Mensch und Natur. Dies beruht auf einer ontologischen Allverbundenheit, welches schlicht alles Seiende umfasst und prinzipiell auch miteinander kommunizieren und in gegenseitige Verantwortung treten lässt.
Diese früher eher wenig beachtete „andine Philosophie“ (Estermann 1999) beruht ebenso wie die europäischen Formen der Philosophie auf ontologischen und epistemologischen Prämissen, zeugt von Systematik und Logik und bietet eine in sich geschlossene und kohärente Weltsicht. Wichtiger jedoch als jede Klassifizierung nach allgemeinen Schemata – was nur einer Bewertung nach der Hybris des Nullpunkts gleichkäme – ist jedoch die Tatsache, dass durch die indigen-andine Philosophie somit auch die oftmals als universell postulierte Moderne, und ihre Schwestern, Entwicklung und Fortschritt, als allgemein gültige Paradigmata gesellschaftlicher Politik effektiv in Frage gestellt werden.
Im Sinne der Völkerverständigung, aber auch zum besseren Verständnis des eigenen subjektiven Kontexts, ist also die wichtige Aufgabe der interkulturellen Philosophie, grundlegende Begriffe, Sprachen und normative Vorstellungsweisen auf holistische Art und Weise zu diskutieren und, gegebenenfalls, neu zu bewerten. Im weiteren Sinne ist dies ein elementarer Baustein für die politische Philosophie, so sie nicht in den Kolonialitäten der Moderne verfangen bleiben will.
- Arneil, Barbara. 1996. “The Wild Indian’s Venison: Locke’s Theory of Property and English Colonialism in North America.” Political Studies, no. XLIV: 60–74.
- Castro-Gómez, Santiago. 2005a. “Aufklärung Als Kolonialer Diskurs: Humanwissenschaften und Kreolische Kultur in Neu Granada Am Ende des 18. Jahrhunderts.” Frankfurt am Main: Johann Wolfgang Goethe-Universität.
- ———. 2005b. La Hybris Del Punto Cero. Ciencia, Raza E Ilustración En La Nueva Granada (1750-1816). Bogotá: Pontifica Universidad Javeriana.
- Escobar, Arturo. 2002. “‘Worlds and Knowledges Otherwise’: The Latin American Modernity/coloniality Research Program.” presented at CEISAL, Amsterdam. http://www.unc.edu/~aescobar/text/eng/Worlds_and_Knowledges_Otherwise.doc.
- Estermann, Josef. 1999. Andine Philosophie. Eine Interkulturelle Studie Zur Autochthonen Andinen Weisheit. Vol. 5. Denktraditionen Im Dialog: Studien Zur Befreiung Und Interkulturalität. Frankfurt am Main: IKO.
- Fornet-Betancourt, Raúl, (Hg.) 1996. “Kulturen Der Philosophie. Dokumentation Des 1. Internationalen Kongresses Für Interkulturelle Philosophie.” Concordia Reihe Monographien 19.
- Fornet-Betancourt, Raul, (Hg.) 2015. Zur Geschichte Und Entwicklung Der Interkulturellen Philosophie. 39 vols. Denktraditionen Im Dialog: Studien Zur Befreiung Und Interkulturalität. Aachen: Wissenschaftsverlag Mainz.
- Grosfoguel, Ramón. 2009. “A Decolonial Approach to Political Economy: Transmodernity, Border Thinking, and Global Community.” Kult 6 - Special Issue. http://postkolonial.dk/artikler/GROSFOGUEL.pdf.
- Jaspers, Karl. 1964. Die Massgebenden Menschen. Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus. München: Piper.
- Mignolo, Walter D. 2005. The Idea of Latin America. Oxford: Blackwell.
- Paul, Gregor. 2008. Einführung in Die Interkulturelle Philosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
- Quijano, Aníbal und Michael Ennis. 2000. “Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America.” Neplanta: Views from South 1 (3): 533–80.
- Walsh, Catherine (Hg.) 2004. Pensamiento Crítico Y Matriz (de)colonial. Reflexiones Latinoamericanas. Quito: Abya Yala.
- Wimmer, Franz, Martin. 2004. Einführung in Die Interkulturelle Philosophie. Wien: UTB Verlag.