„Ueberhaupt aber beruhen 9/10 unsers Glückes allein auf der Gesundheit. Mit ihr wird Alles eine Quelle des Genusses: hingegen ist ohne sie kein äußeres Gut, welcher Art es auch sei, genießbar, und selbst die übrigen subjektiven Güter, die Eigenschaften des Geistes, Gemüthes, Temperaments, werden durch Kränklichkeit herabgestimmt und sehr verkümmert. Demnach geschieht es nicht ohne Grund, daß man, vor allen Dingen, sich gegenseitig nach dem Gesundheitszustande befrägt und einander sich wohlzubefinden wünscht: denn wirklich ist Dieses bei Weitem die Hauptsache zum menschlichen Glück.“(Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 23)
Schopenhauer gibt in seiner Einschätzung die Eigentümlichkeit des Guts ‚Gesundheit’ gut wieder: Gesundheit scheint einerseits von überragendem Interesse für uns zu sein („Hauptsache zum menschlichen Glück“), andrerseits aber nicht das Glück selbst (nur wenige 1/10 fehlen dafür in Schopenhauers Berechnung). Wie bringt man aber diese Aspekte auf einen Punkt? Um was für ein Gut handelt es sich eigentlich bei der Gesundheit? Oder mit Hans-Georg Gadamer ausgedrückt: „Aber was ist nun eigentlich die Gesundheit, dieses geheimnisvolle Etwas, das wir alle kennen und irgendwie gerade gar nicht kennen, weil es so wunderbar ist, gesund zu sein?“ (Gadamer 2010: 141)
Gesundheit als Lebensvoraussetzungsgut
Schopenhauer macht auf eine wichtige Eigenschaft von Gesundheit aufmerksam: Ihm zufolge ist Gesundheit die Voraussetzung für den Genuss anderer Güter. Dies dürfte uns prima facie einleuchten: Wenn wir krank sind und Schmerzen haben, dann rücken all die Dinge, die uns ansonsten erfreuen, in den Hintergrund. Wir können uns nicht mehr auf sie einlassen und sehnen uns zuallererst nach der Wiederherstellung unserer Gesundheit.
Der politische Philosoph Wolfgang Kersting hat diese Abhängigkeit anderer Güter von der Gesundheit pointiert beschrieben, indem er Gesundheit als ein Lebensvoraussetzungsgut bezeichnet (Kersting 2012: 241-245). Ihm zufolge ist ein Lebensvoraussetzungsgut (dazu zählen neben der Gesundheit u.a. auch Freiheit, Frieden, Sicherheit) durch seinen Ermöglichungscharakter bestimmt. Erst der Besitz eines solchen Lebensvoraussetzungsguts ermöglicht es uns überhaupt Lebensprojekte mit einer Aussicht auf gewissen Erfolg zu verfolgen. Charakteristisch für ein Lebensvoraussetzungsgut ist, dass es uns in Zeiten der Normalität kaum auffällt bzw. wir es als gegeben annehmen. Sobald es aber fehlt oder gefährdet oder knapp ist, verblassen andere Interessen. Mit der Einschätzung von Gesundheit als einem Lebensvoraussetzungsgut verknüpft Kersting eine Gerechtigkeitsforderung: Ihm zufolge darf die Versorgung Gesundheit qua Lebensvoraussetzungsgut nicht ausschliesslich nach Marktkriterien erfolgen, da jedes Individuum einen gleichen Anspruch darauf habe – zumindest im Hinblick auf eine Grundversorgung.
Den besonderen Stellenwert von Gesundheit als einem Lebensvoraussetzungsgut kann man nun in zwei Hinsichten verfehlen: Entweder man unterschätzt oder überschätzt ihn.
Gesundheit ist nicht zu unterschätzen
Obwohl Gesundheit qua Lebensvoraussetzungsgut als ein hohes Gut einzuordnen ist, ist sie gleichwohl – zumindest der Mehrheitsmeinung der Philosophen zufolge – nicht das höchste Gut. In diesem Kontext gibt Ulrich Diehl zu bedenken, dass uns die fehlende Anerkennung von Gesundheit als höchstem Gut nicht dazu verführen sollte, den besonderen Stellenwert von Gesundheit zu unterschätzen. Ansonsten drohe eine Idealisierung oder Verharmlosung von Leiden (im Sinne von ‚Gesundheit ist nicht alles’) und eine mögliche Entsolidarisierung mit Kranken und Schwächeren (Diehl 2005: 123-127). Gegen Diehl könnte man aber einwenden, dass das Bestreben, Gesundheit nicht zu unterschätzen wiederum in eine zu starke Betonung des Guts ‚Gesundheit’ münden könnte, die von Nicht-Gesunden als eine Zumutung empfunden werden könnte. Doch diese Entgegnung weist er mit Verweis auf die Differenz zwischen Gesundheit und dem höchsten Gut zurück. Demnach könne ein gutes Leben auch von Nicht-Gesunden geführt werden. Ob diese Antwort letztlich befriedigt, hängt u.a. vom jeweiligen Gesundheitsbegriff ab und kann an dieser Stelle nicht vertieft werden.
Gesundheit ist nicht zu überschätzen
Der Boom von Fitness-Apps und Schlafmessgeräten sowie die mit heiligem Eifer geführten Diskussionen um die richtige Ernährungsweise lassen vermuten, dass wir derzeit das Gut der Gesundheit womöglich weniger unterschätzen als überschätzen. Die Beschäftigung mit dem eigenen Körper dürfte wohl noch nie so viel Zeit und Aufmerksamkeit in Teilen der Bevölkerung beansprucht haben wie heute. Robert Crawford hat dafür bereits in den 80ern den Terminus ‚healthism’ geprägt, womit er die übermässige Auseinandersetzung mit der eigenen Gesundheit meinte – in der Annahme, dass das Wohlergehen ausschliesslich durch Gesundheit definiert ist (Crawford 1980: 368). Symptomatisch für den ‚healthism’ ist ihm zufolge, dass Krankheiten nicht mehr als komplexe Phänomene verstanden werden, sondern als Symptome individuellen Fehlverhaltens. Neben der Überhöhung von Gesundheit (er spricht von super value) droht damit auch eine Privatisierung von Gesundheitsanstrengungen, obwohl eine effektive Gesundheitspolitik auch kulturelle und soziale Bedingungen berücksichtigen müsse.
Was die übermässige Auseinandersetzung mit dem eigenen Gesundheitszustand betrifft, wäre im Sinne von Kerstings Aussagen zur Gesundheit als Lebensvoraussetzungsgut daran zu erinnern, dass uns ein solches Gut in Zeiten der Normalität kaum auffällt. Es gibt keinen Grund, sich selbst unnötig permanent in einen Ausnahmezustand zu versetzen.
Bibliografie:
- Crawford, Robert (1980): Healthism and the medicalisation of everyday life, in: International Journal of Health Services 10 (3), 365-388.
- Diehl, Ulrich (2005): Gesundheit – hohes oder höchstes Gut? Über den Wert und Stellenwert der Gesundheit, in: H. A. Kick, J. Taupitz (Hrsg.): Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit, Münster, LIT Verlag, S. 113-135.
- Gadamer, Hans- Georg (2010): Über die Verborgenheit der Gesundheit, in: Ders.: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Aufsätze und Vorträge, Frankfurt am Main, suhrkamp, 133-148.
- Kersting, Wolfgang (2012): Wie gerecht ist der Markt? Ethische Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft, Hamburg (Murmann Verlag).
- Schopenhauer, Arthur: Aphorismen zur Lebensweisheit (1851), online abrufbar unter: http://d-nb.info/1041219032/34