Ein Lederball rollt über eine Linie. Zehntausende jubeln im Stadion. Ebenso viele sind enttäuscht, wütend, deprimiert. Wenn man eine langwierige Ausbildung abschließt, wenn man heiratet, wenn eine geliebte Person stirbt, wenn man ein Kind bekommt: dann ist meist unmittelbar verständlich, warum jemand traurig oder glücklich. Aber wenn ein Lederball eine willkürlich auf einem Rasen aufgetragene Linie in einem Tor überquert? Ein Ball, der auf unsäglich künstliche Weise nur mittels Bein, Kopf oder Rumpf bewegt werden darf? Warum kann ein derart belangloses Geschehen eine solche Faszination ausüben? Diese Faszination ist, aus-gehend von England, in nur gut 150 Jahren erdumspannend geworden. Irgendetwas Menschlich-Fundamentales muss durch Fußball angesprochen werden – aber was?
Die Antwort lautet: Fußball stellt das Drama des Lebens nach. Im Fußballspiel finden wir die Elemente, die das wirkliche Leben dramatisch machen – aber in Spielform. Ich werde dies begründen, indem ich drei Funktionen für die Regeln des Fußballspiels analysiere:
- Die Regeln sorgen für gleiche Bedingungen für beide Mannschaften,
- Die Regeln stellen die Analogien zum Drama des Lebens her,
- Die Regeln sichern die Distanz des Spiels zum Ernst des realen Lebens.
Zunächst: Ohne die Regeln, die gleiche Bedingungen für beide Mannschaften herstellen (z. B. gleich große Tore, Seitenwechsel nach der Pause etc.) würde kein Wettbewerbsspiel gespielt, weil dann die Chancen ungleich verteilt wären. Allerdings: Das alleine erklärt die Faszination des Spiels nicht.
Diese Faszination lebt von den Analogien des Spiels mit dem Drama des Lebens. Worin besteht das Drama des realen Lebens? Dramatisch wird es in unserem Leben, zumindest in Ansätzen, wenn etwas unsere Absichten durchkreuzt, wenn Umstände eintreten, mit denen wir nicht gerechnet haben und die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Dramatisch oder zumindest spannend sind unsere Aktionen auch, wenn wir wissen, dass ihr Erfolg von Umständen ab-hängt, die wir nicht in der Hand haben. Dramatische Episoden unseres Lebens sind eine Mischung von gewollten Handlungen und Glück und Pech. Um trotz solcher Umstände unsere Ziele zu erreichen, können wir verschieden vorgehen: im Alleingang oder im Team, direkt oder auf Umwegen, auf faire oder unfaire Weise, durch harte Arbeit oder ein geniales Manöver, usw. Dabei müssen wir Gesetze einhalten, sonst drohen Strafen. Aber wie immer wir es anstellen: eine einigermaßen glückliche Partnerschaft haben, bei einer Flutkatastrophe mit dem Leben davonkommen, Kinder aufziehen, eine Firma gründen, auswandern, ein Projekt mit einem Team durchziehen: das sind dramatische Episoden, bei denen wir immer auch auf Umstände angewiesen sind, die nicht in unserer Hand liegen. Dabei gelingt manchmal einem etwas, der sich ziemlich dumm anstellt, und manchmal schafft es einer nicht, der eigentlich alle Fähigkeiten mitbringt. Aber typischerweise begünstigt die eigene Leistung den Handlungserfolg, nur garantiert sie ihn nicht. Das ist es, was ich mit dem Drama des realen Lebens meine.
Und genau so ist es beim Fußball. Was dort als Spiel gelingt oder nicht, hat tausendfache Analogien zum Ernst des Lebens, sowohl was einzelne Spielzüge als auch das Spiel als Ganzes anlangt. Es ist die Mixtur der eigenen Handlungen, die man mehr oder weniger gut ausführt, mit den unkontrollierten äußeren Umständen, die man vielleicht grob vorweg nehmen kann, die das Drama des Lebens wie das Drama des Spiels ausmachen. Viele Fußballregeln sorgen genau dafür, dass die Mixtur von Können und Unkontrolliertem „stimmt“. Ein Tor erzielen ist vom eigenen Können und von vielen Unwägbarkeiten beeinflusst. Die Regeln sorgen dafür, dass diese Unwägbarkeiten zwar so stark sind, dass etwa der Angriff aufs Tor auch den Besten misslingen kann, gleichzeitig aber nicht derart stark sind, dass es reiner Zu-fall wird, ob man Tore schießt oder nicht. Aber die Regeln lassen offen, wie sich in einer Spielepisode oder dem ganzen Spiel die Mixtur von Können und Unwägbarkeit einstellt: Es gibt „gerechte“ Ergebnisse, wo die Leistung zum Erfolg geführt hat, und auch bloß „glückliche“. Vor dem Spiel weiß man nicht, welche Mixtur einen erwartet, und so ist es in vielen Situationen des Lebens auch. Schon die Grundregeln, wie man den Ball bewegen darf, zeigen diesen Zug. Mit dem Fuß oder Kopf einen Ball zu kontrollieren, ist in viel geringerem Grad möglich als mit den Händen: es braucht mehr Kunstfertigkeit, zugleich aber wird das Zufallselement stärker. Wie im realen Leben gibt es eine Rechtsprechung, die neutral sein soll, den Schiedsrichter. Und wie im realen Leben gibt es auch hier Fehlurteile. Ihre Endgültigkeit im Fußball erhöht das Drama des Spiels.
Die dritte Hauptfunktion der Regeln ist das Einhalten der Distanz des Spiels zum Ernst des realen Lebens: Das Spielgeschehen darf nicht in Ernst umschlagen, sonst zerstört es sich selbst. Natürlich kann es einem sehr ernst um das Spiel sein – einem Spieler oder einem Zu-schauer –, aber bestimmte Regeln sorgen für die Einhaltung der Distanz von Spiel und Ernst des Lebens. So stehen Aktionen, die für Gegenspieler real gefährlich sind, unter Strafandrohung. Die Distanz des Spiels zum realen Leben wird auch durch die Art der Strafen markiert, die bei Übertretung der Spielregeln drohen. Sie sind Spiel-Strafen, das heißt sie haben nur innerhalb des Spiels ihren Sinn: sie bringen einen Spielnachteil, keinen realen Lebensnachteil (natürlich können Vereine Spielstrafen mit Realstrafen kombinieren). Weil das Spiel so viele Analogien zum Drama des Lebens hat und darum leicht in dieses Drama übergeht oder zumindest mit ihm verwechselt wird, gerade darum müssen Regeln für die Distanz des Spielgeschehens zum Ernst des Lebens sorgen.
Das ist das Geheimnis des Fußballspiels: Dass es das Drama des Lebens in einer solchen Vielfalt und zugleich Einfachheit nachstellt.
Ausführlichere Fassungen dieses Artikels sind „Das Drama des Lebens. Warum Fußball fasziniert“. Unimagazin Hannover, Heft 1-2, 2006, pp. 22-24 und “Why Is Football So Fascinating?”. In T. Richards (ed.) Soccer and Philosophy: Beautiful Thoughts on the Beautiful Game. Chicago: La Salle, 2010, pp. 7-22.