Was Zeit (nicht) ist und wie wir sie erleben

Eine ganze Reihe von akademischen Disziplinen beschäftigt sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Zeit – unter anderem die Physik und die Psychologie.

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    Das Folgende ist eine gekürzte Fassung des Artikels „Haben wir wirklich Zeitnot? Und warum mögen wir keine defekten Uhren?“, erschienen im bso Journal (Berufsverband für Coaching, Supervision und Organisationsberatung) 4/2014, S. 6-10.

    Eine ganze Reihe von akademischen Disziplinen beschäftigt sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Zeit – unter anderem die Physik und die Psychologie. Und auch die Philosophie reflektiert seit mehr als zwei Jahrtausenden über die Frage, was Zeit denn eigentlich sei.

    Unstrittig ist vielleicht, dass sich Zeit beschreiben lässt als eine fundamentale Dimension, in der wir leben. Das gilt sowohl im physikalischen Sinne wie auch im Sinne des psychischen Erlebens (Sieroka 2015). Im ersten Fall mag man von einer objektiven Zeit sprechen, wie man sie üblicherweise mit mechanischen Uhren, Atomuhren oder dergleichen bestimmt. Im anderen Fall wäre die Bezeichnung wahrgenommene oder subjektive Zeit treffend – also diejenige Dimension, in der uns das Vorhandensein und Andauern von Dingen und Abläufen erscheint.

    Auch möchte ich kurz festhalten, was Zeit sicherlich nicht ist: eine Substanz oder ein Material, die oder das man anhäufen könnte. Auch die objektive Zeit, durch die oder in der wir uns als biologische Wesen bewegen, ist keine solche Substanz oder Ressource. Dementsprechend sind auch all die ökonomisch und materialistisch getünchten Redeweisen, wonach Zeit beispielsweise einen „Druck“ ausüben könne, es einem an Zeit „mangeln“ oder etwas Zeit „koste“ könne, irreführend.

    Man mag eine bestimmte Tätigkeit schneller beenden als erwartet. Doch das ist keine „Zeitersparnis“ in dem Sinne, wie man Geld sparen kann. Man kann die vermeintlich „ersparte“ halbe Stunde eben nicht „auf die hohe Kante legen“ und dann übernächste Woche „verzinste“ vierzig Minuten vom „Zeitkonto“ abheben. Umgekehrt mag eine gegebene Zeitspanne nicht genügen, um in ihr eine bestimmte Tätigkeit zu vollbringen. Aber das ist kein „Zeitmangel“ im strikten Sinne. Die objektive oder physikalische Zeit, die uns zur Verfügung steht, ist immer gleich bemessen: nämlich vierundzwanzig Stunden pro Tag. In diesem Sinne haben wir also immer „alle Zeit der Welt“ – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und da hilft es auch nichts, wenn man sich mehr Termine in seine Agenda stopft. Eine Geldbörse mag sich durch viele Münzen weiten, die Zeit tut nichts Derartiges.

    Ein wichtiges Ziel der philosophischen Auseinandersetzung mit Zeit kann es sein, auf solche irreführenden – und oft sogar Leiden verursachenden – Redeweisen aufmerksam zu machen und dazu anzuregen, sie aufzugeben (Lakoff und Johnson 1980). Denn so manches Mal, wenn man von „Zeitnot“ oder „Zeitdruck“ spricht, ist man vielleicht nur in eine schmerzhafte – aber keineswegs notwendige – Falle unserer Sprache getappt.

    Nun ist dies aber zugegeben nicht die ganze Antwort. Denn die gerade genannten Ausdrücke, scheinen doch auf eine Wirklichkeit in unserem Erleben zu verweisen.

    In ihrer einzig sinnvollen Form haben Ausdrücke wie „Zeitnot“ und „Zeitersparnis“ mit einer Diskrepanz oder Differenz zwischen Zeiten zu tun – also zwischen der objektiven und subjektiven Zeit, oder, um ein leicht anderes Beispiel zu geben, zwischen der Zeit unserer intersubjektiven Wirklichkeit (oft als „Weltzeit“ bezeichnet) und einem jeweils eigenen Zeitempfindung in Form einer „Lebens-“ oder „Eigenzeit“. Auch hier ist es immer eine Diskrepanz oder Differenz zwischen diesen Zeiten, die mich eine vermeintliche „Zeitnot“ oder einen „Zeitdruck“ empfinden lässt und die leidvolle Konsequenzen haben kann (Blumenberg 1986).

    Ein Vorauseilen meiner Eigenzeit gegenüber der Weltzeit beispielsweise bedeutet zunächst einmal Langeweile. Ich bin mit dem Mittagessen schon fertig, muss aber noch warten, bis die anderen ebenfalls aufgegessen haben. Ein solches Vorauseilen kann sich im Extremfall bis zum pathologischen Zustand der Manie steigern, in dem ich dann „immer schon weiter“ bin, „immer schon meiner Zeit voraus“. Umgekehrt, wenn meine Eigenzeit der Weltzeit hinterherhinkt, erlebe ich dies als Stress oder „Zeitnot“. Um bei dem eher harmlosen Beispiel zu bleiben: Nun bin ich es, auf den die Kollegen in der Mensa warten müssen und der die restliche Pasta deshalb gehetzt verschlingt. Die pathologische Form dieser Diskrepanz wäre dann die Depression, das Gefühl „immer schon zu spät“ zu sein und deshalb an den Dingen nie etwas ändern zu können (Theunissen 1991, Fuchs 2001).

    Idealerweise sollten beide Zeiten sozusagen ohne gegenseitige Verschiebungen oder Unruhen verstreichen. Das bedeutet mitnichten, dass sich nichts ereignen darf. Die Wirklichkeit um mich herum soll nicht zu einem unveränderlichen Stillleben werden, sondern ich möchte lediglich nicht aus dem gemeinsamen Takt geraten, möchte nicht das Gefühl haben, zu spät oder zu früh zu sein.

    Eine andere Möglichkeit, Unterschiede oder Disharmonien zwischen Eigenzeit und Weltzeit zu vermeiden, besteht darin, der Weltzeit komplett zu entfliehen. Doch das ist, zumindest als Dauerlösung, nur schwer möglich, weil die Abkehr von Weltzeit ja zugleich auch die Abkehr von allen intersubjektiven Aktivitäten bedeutet. Ein zeitweises Anstreben eines solchen Zustands gibt es in der Meditation. Wenn hier manchmal davon gesprochen wird, es werde „der Moment zur Ewigkeit“, so kann das genau im Sinne der Abkehr von der Weltzeit verstanden werden. Es gibt dann nur noch die subjektive Zeit oder Eigenzeit, die als ein einziges, anhaltendes Jetzt erlebt wird (Koch 2010).

    Wohlbefinden in und mit der Zeit setzt also voraus, dass keine Diskrepanz zwischen Eigen- und Weltzeit empfunden wird. Dies ist sozusagen die Schraube, an der man drehen muss – und es ist etwas anderes, als das Streben und Hinterherlaufen nach vollgestopften Agenden, „Zeitersparnissen“ und dergleichen.


     

    Literatur:

    Blumenberg, H. (1986): Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

    Fuchs, T. (2001): Die Zeitlichkeit des Leidens. In: Phänomenologische Forschungen, Heft 2001, S. 59-77.

    Koch, A. (2010): Glück und Zeit. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, 52, S. 219-231.

    Lakoff, G., und Johnson, M. (1980): Metaphors We Live By. Chicago: University of Chicago Press.

    Sieroka, N. (2015): Leibniz, Husserl, and the Brain. Basingstoke: Palgrave Macmillan.

    Theunissen, M. (1991): Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

     

    Über den Autor

    Beitrag von PD Dr. Dr. Norman Sieroka, ETH Zürich