Aristoteles und das Problem kontingenter Zukunftsaussagen

Wenn wir über Handlungsoptionen nachdenken, setzen wir gewöhnlich die Offenheit der Zukunft voraus. Nur wenn wir zwischen echten Alternativen wählen können und nicht feststeht, was in Zukunft geschehen wird, begreifen wir uns als genuin Handelnde.

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    1. OFFENHEIT DER ZUKUNFT Wenn wir über Handlungsoptionen nachdenken, setzen wir gewöhnlich die Offenheit der Zukunft voraus. Nur wenn wir zwischen echten Alternativen wählen können und nicht feststeht, was in Zukunft geschehen wird, begreifen wir uns als genuin Handelnde. Die Offenheit der Zukunft steht im Kontrast zu der Abgeschlossenheit der Vergangenheit. Die Ereignisse in der Vergangenheit stehen unabänderlich fest. Eine Deterministin würde jedoch behaupten, dass es keine Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt:

    The determinist looks at events taking place in the world as if they were a film drama produced in some cinematographic studio in the universe.We are in the middle of the performance and do not know its ending, although each of us is not only a spectator but also an actor in the drama. But the ending is there, it exists from the beginning of the performance. (LUKASIEWICZ 1970, 113)

    Warum sollte man glauben, dass die Zukunft bereits determiniert ist? In De Interpretatione 9 diskutiert Aristoteles ein in der Philosophiegeschichte ungemein einflussreiches Argument, in dem von der Wahrheit die Zukunft betreffender Aussagen auf die Unausweichlichkeit dessen, was ausgesagt wird, geschlossen wird.

    2. WAHRHEIT UND NOTWENDIGKEIT Das deterministische Argument basiert auf dem Gesetz des ausgeschlossenen Dritten (GaD): Von zwei kontradiktorischen Sätzen p und nicht-p ist genau einer wahr und einer falsch. P steht hierbei für einen beliebigen Aussagesatz, z.B. „Maria wohnt in Bern“, und nicht-p für die Negation des Satzes, „Maria wohnt nicht in Bern“. Laut GaD ist entweder der Satz „Maria wohnt in Bern“ oder der Satz „Maria wohnt nicht in Bern“ wahr. Nach Aristoteles besteht Wahrheit in einer Korrespondenz zwischen Sätzen und dem, was der Fall ist. Der Satz „Maria wohnt in Bern“ ist genau dann wahr, wenn Maria tatsächlich in Bern wohnt. Falls Maria nicht in Bern wohnt, ist der Satz „Maria wohnt in Bern“ falsch und seine Negation entsprechend wahr. Verallgemeinert: Der Satz „p“ ist genau dann wahr, wenn p (der Fall) ist. Das Weglassen der Anführungszeichen bedeutet, dass wir nun nicht über sprachliche Ausdrücke, sondern Tatsachen und Ereignisse in der Welt sprechen, d.h. nicht über den Satz „Maria wohnt in Bern“, sondern die Tatsache, dass Maria in Bern wohnt. Ein Argument für den Determinismus ergibt sich, wenn wir annehmen, dass das Prinzip auch für Sätze, die sich auf die Zukunft beziehen, gilt (De Int. 18b10-18). Aristoteles’ berühmtes Beispiel hierfür ist die morgige Seeschlacht. Angenommen, Maria sagt heute, dass morgen eine Seeschlacht stattfinden wird, und Peter, dass morgen keine Seeschlacht stattfinden wird. Sofern GaD gilt, ist entweder Peters Aussage oder Marias Aussage wahr. Wenn einer der beiden Sätze heute schon wahr ist, muss bereits heute feststehen, ob morgen eine Seeschlacht stattfindet oder nicht. Falls Marias Aussage wahr ist, dann ist es determiniert, dass morgen eine Seeschlacht stattfindet. Man kann das Zukunftsargument so rekonstruieren: (Quelle 1)

    (1) Für jede Aussage „p/t“ (p/t= es ist zum Zeitpunkt t der Fall, dass p) gilt: entweder „p/t“ oder „nicht-p/t“ ist wahr. (2) Wenn „p/t“ wahr ist, dann p/t. (Korrespondenztheorie der Wahrheit) (3) Wenn „p/t“ wahr ist, konnte schon zu jedem Zeitpunkt t’ früher als t wahrheitsgemäß behauptet werden, dass p/t. (4) Wenn zu t’ t wahrheitsgemäß behauptet werden konnte, dass p/t, dann ist unmöglich, dass nicht-p/t. (5) Es ist notwendig, dass p/t.

    Dasselbe Argument ließe sich offensichtlich auch für „nicht-p“ konstruieren. Welches der beiden Ereignisse— Seeschlacht oder keine Seeschlacht— eintritt, wissen wir vielleicht nicht. Gleichwohl ist objektiv festgelegt, welches Ereignis eintreten wird, da bereits heute einer der beiden Sätze wahr ist.

    3. ARISTOTELES’ ANTWORT AUF DAS ZUKUNFTSARGUMENT Aristoteles hält die Konklusion (5), dass alles mit Notwendigkeit geschieht, für falsch. Da aber die Konklusion (5) von (1)-(4) impliziert wird, muss eine der Prämissen falsch sein. Ich folge der „traditionellen Interpretation“ (Quelle 2) und nehme an, dass Aristoteles Prämisse (3) Wenn „p/t“ wahr ist, konnte schon zu jedem Zeitpunkt t’, der früher als t ist, wahrheitsgemäß behauptet werden, dass p/t kritisiert. Sein Argument in De Int. 19a23-39 ist wie folgt: Im Falle kontingenter Ereignisse, wie der morgigen Seeschlacht (=p), gilt zwar GaD in dem Sinne, dass entweder „p/t“ oder „nicht-p/t“ wahr sein wird, d.h. zum Zeitpunkt t (t=morgen) entweder p oder nicht-p der Fall ist. Das heißt aber nicht, dass damit bereits zu t’ (t’=heute) festgelegt wäre, welches der beiden Ereignisse stattfinden wird.Wir können uns die dahinterstehende Auffassung der Zukunft so vergegenwärtigen:

     Wir befinden uns bei W/t’. W/t’ ist der gegenwärtige Zustand der Welt. W1/t und W2/t sind zwei mögliche Alternativen, wie unsere Welt W in Zukunft aussehen könnte, wobei in W1 eine Seeschlacht stattfindet, in W2 hingegen nicht. Durch die gepunkteten Linien wird angedeutet, dass die Zukunft offen ist und noch nicht determiniert ist, welchen Verlauf unsere Welt nehmen wird. P ist nur in einigen, aber nicht allen möglichenWeltverläufen der Fall.Weil dies so ist, ist „p“ heute weder wahr noch falsch.

    Nehmen wir nun an, dass sich unsere Welt gemäß W1 entwickelt:

     Zu t findet die Seeschlacht statt und „p“ ist wahr. Aber: „p“ ist wahr geworden. Um Aristoteles’ Annahme zu plausibilisieren, ist es hilfreich, auf die Korrespondenzthese zurückzukommen. Sätze, die sich auf kontingente Ereignisse in der Zukunft beziehen, können nicht mit den Tatsachen korrespondieren, weil diese Tatsachen noch nicht existieren. Die zukünftige Seeschlacht existiert heute noch nicht.

    Diese Auffassung wird growing block theory gennant. Vergangenheit und Gegenwart sind in einerWeise real, in der es die Zukunft nicht ist. Wenn Zeit vergeht, beginnen immer mehr Tatsachen und Ereignisse zu existieren. Das Inventar der Welt, die Menge ihrer Tatsachen, wächst. Erst wenn die Seeschlacht stattfindet, existiert sie und erst dann können Sätze, die sich auf die Seeschlacht beziehen, wahr oder falsch sein. Die Welt, in der wir nach Aristoteles leben, ist eben kein „film drama“. Es ist noch offen, ob eine Zukunftsaussage oder ihre Negation wahr sein werden.

     

    Weiterführende Literatur: Moderne Beiträge und formale Darstellungen der oben besprochenen Zeitauffassung bieten PRIOR (1967); THOMASON (1970); MACFARLANE (2003). Für die growing block theory siehe TOOLEY 1997; BROAD 1923.

    Quellen:

    1. Eine ausführlichere Darstellung, auf die ich mich stütze, gibt WEIDEMANN 2002, 234-235 und 248- 249.
    2. FREDE 1970, 1985; dagegen FINE 1984. Einen ausführlichen Überblick über die Interpretationsgeschichte bietet WEIDEMANN 2002, 302-328.

    REFERENCES BROAD, C. D. (1923): Scientific Thought, Routledge and Kegan Paul. FINE, G. (1984): Truth and Necessity in De interpretatione 9, in: History of Philosophy Quarterly, 1(1), S. 23–47. FREDE, D. (1970): Aristoteles Und Die "Seeschlacht" Das Problem der Contingentia Futura in de Interpretatione 9, Vandenhoeck & Ruprecht. FREDE, D. (1985): The Sea-Battle Reconsidered: A Defense of the Traditional Interpretation, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy, 3(n/a), S. 31–87. LUKASIEWICZ, J. (1970): On Determinism, S. 110–128, North-Holland Publishing Company. MACFARLANE, J. (2003): Future Contingents and Relative Truth, in: Philosophical Quarterly, 53(212), S. 321–336. PRIOR, A. N. (1967): Past, Present and Future, Clarendon Press, Oxford. THOMASON, R. H. (1970): Indeterminist Time and Truth-Value Gaps, in: Theoria, 36(3), S. 264–281. TOOLEY, M. (1997): Time, Tense, and Causation, Oxford University Press. WEIDEMANN, H. (2002): Aristoteles. Peri Hermeneias., 2. Aufl., Akademie Verlag, Berlin, Übersetzt und erläutert.