Von Descartes und seinen bewusstseinsphilosophischen Nachfolgern wird ein privilegierter Zugang zu den eigenen Gefühlen unterstellt: Das Ich hat eine nicht hintergehbare Autorität, was die eigenen Gefühle angeht. Demnach kann nur ich selbst beurteilen, ob mein ich liebe dich der Wahrheit entspricht. Solange ich ehrlich bin, kann also nichts diese Behauptung dementieren. Selbsttäuschung ist in der Tradition der Bewusstseinsphilosophie begrifflich nicht vorgesehen. Genauso wie Descartes in der stilisierten Situation der ersten Meditation allein nachdenkend vor dem Kamin sitzt, so haben in seiner Philosophie soziale Einflüsse auf das Bewusstsein keinen Platz.
Gefühle sind jedoch nichts vor aller Interpretation Vorhandenes, als wenn sie bloß Ereignisse in unserem Innern wären, mit denen wir gar nichts zu tun haben. Es gehört zu den Irrtümern der Cartesianischen Tradition, dass wir uns vollkommen transparent sind. Gefühle gelten in dieser Tradition als selbst-verifizierend, das heißt, Gefühle haben immer Recht, weil sie Fakten unseres Innenlebens sind. Das Involviertsein der Gefühle lässt sich nicht einfach wie bei einer Maschine an- und abschalten; es ist aber auch nicht einfach ohne unser Zutun gegeben: Weder sind Gefühle willkürlich konstruiert noch einfach vor aller Interpretation authentisch gegeben.
Zur Präzisierung der Kritik an der Bewusstseinsphilosophie leistet Ludwig Wittgensteins Privatsprachenargument Entscheidendes, indem es den Zusammenhang von Gefühlen und der sozial verstandenen Sprache reflektiert. Für die Philosophie der Psychologie findet sich in den Abschnitten 243 bis 315 der „Philosophischen Untersuchungen“ das philosophische Gegenstück zu Sigmunds Freuds psychologischer Kritik einer reinen Bewusstseinsorientierung. Wie Sigmund Freud nämlich die einseitige Bewusstseinsorientierung der neuzeitlichen Philosophie in Hinblick auf das systematisch Unbewusste kritisiert, nutzt die Kritik Wittgensteins die Infragestellung einer traditionellen Sprachauffassung. Die von ihm kritisierte Bewusstseinsphilosophie muss – so wird bei Wittgenstein herausgearbeitet – ein Verständnis von Sprache unterstellen, die die wesentlich soziale Funktion der Sprache vernachlässigt. So privat können Liebe, Schmerzen und überhaupt Gefühle gar nicht sein. Da wüsste niemand, dass es Liebe, Schmerzen und Gefühle überhaupt gibt und was sich da so in einem regt. Deshalb ist die Vorstellung zurückzuweisen, dass Gefühle innere Gegenstände sind, die wir mit Wörtern nur sekundär benennen. Die Sprache der Gefühle greift vielmehr in die Welt der Gefühle selbst ein; in diesem Sinne gäbe es die Gefühle ohne die Sprache über sie gar nicht.
Damit geht Wittgenstein nicht so weit zu sagen, Gefühle seien frei für alle zugänglich. Das Haben von Gefühlen ist für ihn durchaus privat; eine Person hat jeweils ihre je eigenen Gefühle. Zwei Personen können nicht im Wortsinne dieselben Gefühle haben. In einer anderen philosophischen Tradition hat Martin Heidegger diesen Gedanken als Jemeinigkeit unseres Daseins bezeichnet. Trotz der Jemeinigkeit eines privaten Habens von Gefühlen ist die Identifikation von Gefühlen nur zu leisten über eine öffentlich geteilte Sprache. Sprache muss hier keineswegs nur verbale explizite Sprache bedeuten; Bild, Ton und Andeutungen sind ebenfalls mitgemeint. Ohne die prinzipielle Fähigkeit, Gefühle zur Sprache zu bringen, gäbe es sie als solche gar nicht. Wenn wir also nicht in eine öffentlich tradierte Sprache über Liebe einsozialisiert und kulturalisiert wären, könnten wir für uns nicht von Liebe sprechen. Dies bedeutet nicht, dass dann an dieser Stelle gar nichts wäre, denn die Basis eines involvierenden Fühlens selbst ist ja weiterhin vorhanden. Doch die Vorstellung eines Fühlens selbst, ohne jemals eine Sprache für Gefühle zu haben, lässt sich nicht denken – jedenfalls auf der Basis von Wittgensteins Sprachauffassung nicht. Zur Vermeidung eines Missverständnisses sei allerdings betont: Sprache muss nicht in jeder einzelnen Situation durch Sprechen realisiert werden. Die Sprache im Allgemeinen und die Gefühlssprache sind eine Art Hintergrundinstitution, die im Prinzip gegeben, aber nicht in jeder Situation auch benutzt werden muss. Es geht also nicht um das ständige Bereden von Gefühlen (womöglich um sie nicht haben oder nicht ausdrücken zu müssen). Wittgensteins Punkt richtet sich lediglich auf die prinzipielle Sprachlichkeit der Gefühle.
Wie verhält es sich mit der großen Liebe, die sich leider nur nicht ausdrücken kann? Mit Wittgenstein wäre hier eine Unterscheidung zu treffen. Schüchternheit ist zum einen kein Dementi der Liebe, denn es handelt sich quasi um ein anderes Verhalten. Schüchternheit ist eine Art Gehemmtheit im eigentlich gewünschten Gefühlsausdruck. In diesem Sinne gibt es auch für Wittgenstein Liebe ohne spezifischen Ausdruck. Zum anderen besteht Wittgenstein darauf, dass ein „ich liebe dich“, das sich nie in Verhalten manifestiert, irgendwann Selbst- oder Fremdtäuschung ist. Demgegenüber ist die schüchterne Unfähigkeit, die Liebe auszudrücken, durchaus ein Grenzfall der Manifestation von Liebe. Allerdings reicht es für die Liebe auf die Dauer nicht aus, ihr Vorhandensein – von außen unbeobachtet – immer nur für das eigene Innere zu behaupten.
Wenn die Zugänglichkeit zu Gefühlen im Medium der Sprache als eine soziale gedacht wird, heißt dies nicht, dass Gefühle wie die Liebe in ihrer sprachlichen Sozialität aufgehen. Das Involviertsein der Gefühle überschreitet vielmehr in seiner qualitativen Dimension (ebenso wie die Leiblichkeit des Menschen) die Sprachlichkeit. An dieser Stelle ist es wichtig, gedanklich Extreme zu vermeiden: Bei aller sprachlichen Zugänglichkeit, die für Gefühle ebenso wie für andere Teile der Wirklichkeit zu unterstellen ist, lässt sich diese nicht einfach durch andere Benennungen zum Verschwinden bringen. Wirklichkeit überhaupt hat genauso wie die der Gefühle ein Moment der Widerständigkeit. Nach ihrer Etablierung ist das Involviertsein der Gefühle sozusagen echt, obwohl in elaborierten Überlegungen die soziale Gewordenheit nachgezeichnet werden kann.
Der Beitrag folgt in Auszügen meinem Aufsatz „Das Soziale der Gefühle zwischen Involviertsein und Konstitution“. In: Karl Mertens, Jörn Müller (Hrsg.): Die Dimension des Sozialen. Neue philosophische Zugänge zu Fühlen, Wollen und Handeln. Berlin, Boston 2014, S. 65-80. Vgl. insgesamt Heiner Hastedt: Gefühle. Philosophische Bemerkungen. Stuttgart 2005.