Wenn im Alltag von „platonischer Liebe“ die Rede ist, dann ist damit in der Regel eine freundschaftliche, aber enthaltsame Beziehung zweier Menschen gemeint. Diese umgangssprachliche Bedeutung gründet auf wissenschaftlichen Interpretationen, wonach Platon unter „Liebe“ einen rein intellektuellen Akt versteht, der sich nicht auf konkrete Personen, sondern auf sogenannte Ideen, also abstrakte Begriffe, bezieht. Eine so verstandene „platonische Liebe“ scheint zugegeben recht lieblos, aber ist diese Einschätzung auch zutreffend?
In der Tat prägt Platon den Begriff der „Philosophie“, was nichts anderes heisst als „Liebe zur Weisheit“. Ein Philosoph ist gemäss Platon also ein Weisheitsliebender. Daher verwundert es nicht, dass er seinen Lehrer Sokrates im Dialog Symposion sagen lässt, er – also Sokrates – wisse nichts ausser Liebesdinge.[1] Dies scheint bemerkenswert für einen Mann, der für sein bewusstes Nichtwissen in die Geschichte eingegangen ist.[2] Eros, so führt Sokrates aus, verweist auf die Bedürftigkeit des Menschen. Der Liebende begehrt stets etwas, das er noch nicht hat oder das er nicht verlieren will. Daraus folgert er, dass Eros als personifizierte Liebe philosophisch ist: Er strebt nach Weisheit, weil er eben weiss, dass er sie noch nicht erlangt hat.[3] Die Einsicht in den eigenen Mangel und der starke Wunsch, ihn zu beheben, zeichnen demnach den Philosophen aus.
Auch wenn das Streben nach Weisheit vor allem geistige Tätigkeit ist, heisst das noch lange nicht, dass Philosophieren gefühllos vonstattengeht. Tatsächlich bezeichnet Platon in der Politeia den Philosophen als einen Liebhaber, der „nicht eher Befriedigung findet für seine Liebe, bis er die Natur eines jeden, was ist, aufgefasst hat.“ Mehr noch: erst, wenn er Vernunft und Wahrheit erzeugt, „wird er erkennen […] und so seiner Schmerzen Ende finden.“[4] Die Philosophie lässt den Menschen also nicht kalt, sondern erfasst, wie jede andere Leidenschaft auch, sein ganzes Wesen.
Wie steht es nun um den Vorwurf, sein Liebesbegriff richte sich nicht auf konkrete Menschen, sondern nur auf abstrakte Konzepte? Auch hier räumt eine sorgfältige Lektüre mit diesem Vorurteil auf. So erklärt Sokrates weiter im Symposion, dass derjenige, der sich auf den Weg macht, das Schöne selbst zu schauen, bei der – zunächst körperlichen, dann seelischen – Schönheit eines Menschen beginnt und „solche Reden erzeugt und aufsucht, welche die Jünglinge besser zu machen vermögen“.[5] Die Liebe zur Wahrheit ist eng an die Liebe zur Person gebunden, denn in der Sorge um den Geliebten ist der Liebende bemüht, sich selbst zu bessern, sprich: nach Erkenntnis zu suchen.[6] Wie dies konkret vonstattengeht, zeigt der Dialog Alkibiades I. Sokrates präsentiert sich zu Beginn als glühender Verehrer seines Gesprächspartners Alkibiades. Dieser, soeben volljährig, beabsichtigt, die Geschicke seiner Heimatstadt Athen zu lenken. Der Aristokrat ist reich, schön, intelligent – und über alle Massen arrogant und ehrgeizig. Was also liebt Sokrates an ihm? Es ist Alkibiades‘ vages Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, die dieser zunächst auf seine noch fehlende politische Macht zurückführt. Daher ist sein erklärtes Ziel nichts Geringeres als die Weltherrschaft.[7] Doch im Verlauf des Gesprächs zeigt sich, dass Alkibiades gar nicht weiss, was er eigentlich will. Anscheinend fehlt ihm vor allem eines, nämlich Selbsterkenntnis. Hier setzt Sokrates‘ Fürsorge als Liebender ein: Er versucht, den jungen Athener zu bessern, indem er ihm einen Weg zur Selbsterkenntnis aufzeigt. Sokrates identifiziert das Selbst des Menschen mit dessen Seele, allen voran dem vernünftigen, also denkenden Teil. Damit sich die Seele nun selbst erkennt, muss sie metaphorisch in einen Spiegel blicken. Doch was wäre ein angemessener „Spiegel“ für die Seele? So wie ein Auge sich selbst in einem anderen Auge sehen kann, so kann gemäss Sokrates die Seele sich selbst in einer anderen Seele spiegeln und dadurch erkennen. Aber was ist damit gemeint? Einige Textpassagen legen nahe, dass das Gleichnis auf den Dialog selbst hinweist. Im Gespräch mit Sokrates gelingt es Alkibiades schrittweise, sich selbst besser zu verstehen. Indem er Sokrates‘ Fragen beantwortet, spiegelt er sich sozusagen in dessen Vernunft.
Es ist offensichtlich, dass dieser Erkenntnisprozess nur zwischen zwei Liebenden gelingen kann. Das sich Einlassen auf den Anderen setzt ein hohes Mass an Intimität voraus. Oder um das Bild des Augengleichnisses zu bemühen: Will man sich in der Pupille des Anderen tatsächlich sehen, muss man ihm sehr nahekommen. Sokrates‘ Liebesdienst an Alkibiades besteht somit darin, ihn zu einem rationalen Selbstverhältnis zu verhelfen. Dabei betont Sokrates wiederholt, dass sie die Untersuchung gemeinschaftlich durchführen müssen, denn auch er bedarf der Selbstprüfung.
Was lässt sich nun abschliessend über die „platonische Liebe“ sagen? Anscheinend hat sie auf Alkibiades eine ungeheure Wirkung, denn der ansonsten so überhebliche Beau stellt am Ende des Dialogs erstaunt fest, dass er und Sokrates die Rollen getauscht haben: Der Liebhaber wird zum Geliebten und umgekehrt. Alkibiades will fortan nicht mehr von Sokrates‘ Seite weichen. Dass sich Alkibiades im realen Leben von der Philosophie abgewandt hat und an seinen politischen und militärischen Abenteuern letztlich gescheitert ist, tut der platonischen Liebe keinen Abbruch. Im Gegenteil scheint Platon dadurch ein sehr realistisches Bild der Liebe zu zeichnen, das sich mit der Alltagserfahrung decken dürfte: Manche Liebesmüh, so gut die Absichten auch sein mögen, ist eben vergeblich.
[1] Platon, Symposion, in Platon. Werke, hg. von Gunther Eigler / Heinz Hofmann, 2011, Darmstadt, 177d
[2] Barbara Zehnpfennig, Einführung, in Platon. Symposion, hg. von ders., 2000, Hamburg, IX
[3] Platon, Symposion, 204b
[4] Platon, Politeia, in Platon. Werke, hg. von Gunther Eigler / Heinz Hofmann, 2011, Darmstadt, 490a/b
[5] Platon, Symposion, 210b
[6] Bettina Fröhlich, Die 'Kunst der Liebe': Zur Liebeskonzeption in Platons 'Phaidros', Perspektiven der Philosophie: Neues Jahrbuch 38 (2012), 60
[7] Platon, Alkibiades I, in Platon. Werke, hg. von Gunther Eigler / Heinz Hofmann, 2011, Darmstadt, 105c