Die Liebe atmen lassen

Liebe ist nicht die einzige Methode, Sinn zu finden, aber eine sehr wirksame. Aufgrund der Zusammenhänge, die sie aufspüren und festigen kann, wird sie in der modernen Epoche der Suche nach Sinn, in der so viele Zusammenhänge zerbrechen, zur großen Sinnstifterin.

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    Anders als in früheren Zeiten können moderne Menschen problemlos alleine leben. Für diese Lebensform spricht, dass sie viel Ärger erspart. Und was spricht für die Liebe? Lange Zeit in der Geschichte war das keine Frage: Liebe war Pflicht, oft sogar ein Zwang auf Lebenszeit. Das sollte Liebe sein? Man nannte es so. Wer hat die Macht, Menschen in einer solchen Verbindung festzuhalten? Die Religion, solange Menschen an Gottes Wort glauben, dass sie, was er verbunden hat, nicht trennen sollen. Die Gesellschaft, sofern sie diejenigen, die sich dennoch trennen, mit sozialer Ächtung bestraft. Und die Natur, die die Menschen seit jeher mithilfe von Hormonen zusammenzwingt, um die Fortpflanzung zu gewährleisten, auch wenn sie gar nicht gewollt ist. Die Befreiung von all diesen Zwängen wirft die Frage auf: Warum und wozu überhaupt noch Liebe? Glück ist die romantische Antwort darauf. Vor allem die leidenschaftlichen Gefühle, denen nicht widerstanden werden kann, sollen Menschen glücklich machen. Es liegt nahe zu sagen: Das ist eine Wahnsinnsidee, auf die in der langen Geschichte der Liebe kaum jemand gekommen ist. Aber einstweilen gibt es keine bessere. Entscheidend ist, was genauer unter Glück verstanden wird. Jede Liebe ist zunächst angewiesen auf das Zufallsglück. Zufälligerweise bin ich in diesem Moment an diesem Ort, zufälligerweise ein Anderer auch, sodass zwischen uns ein Funke überspringen kann. Solche Zufälle können nicht produziert, immerhin jedoch provoziert werden. Die Wahrscheinlichkeit, interessanten Menschen zu begegnen, wird deutlich größer, wenn ich Anderen in irgendeiner Form signalisiere, dass ich mich für Begegnungen und Erfahrungen interessiere. Sollte das Zufallsglück tatsächlich günstig ausfallen, heißt das allerdings nicht, dass dies auch so bleibt. Der günstige Zufall verbessert nur die Bedingungen für das Zustandekommen einer Beziehung, verschlechtert aber häufig die Bereitschaft zur Arbeit an ihr, da das Glück vermeintlich schon da ist. In moderner Zeit geht ein gemeinsames Leben allzu rasch wieder verloren, wenn es an Anstrengungen dafür fehlt, es zu bewahren.
    Haben zwei sich schließlich glücklich gefunden, kann ein zweites Glück in der Liebe fraglos das Wohlfühlglück sein: Die Liebenden können sich wohlfühlen miteinander, Freude aneinander haben, sehr viel Sinnlichkeit gemeinsam genießen, Verständnis und Geborgenheit beieinander finden. All dies vorsätzlich zu suchen, gehört zur Arbeit am Glück in der Liebe, denn anders als das Zufallsglück kann das Wohlfühlglück nicht nur provoziert, sondern auch produziert werden. Die Liebenden sollten lediglich in Erfahrung bringen und mit immer neuen Experimenten erkunden, wie und womit sie sich wechselseitig gut tun können. Das kann ein köstliches Mahl sein, ein langes Gespräch, eine hingebungsvolle Zärtlichkeit, ein wundervoller Abend, eine leidenschaftliche Nacht und vieles mehr.
    Soll die Liebe von Dauer sein, ist jedoch ein drittes Glück hilfreich: Das Glück der Fülle. Gemeint ist die gesamte Fülle der Erfahrungen, positive wie negative. Auch für dieses Glück kann jeder und jede selbst etwas tun, es hängt allein von der geistigen Haltung ab, die er oder sie im Denken gewinnt und einübt, ausgehend von der Frage: Was ist charakteristisch für das Leben und die Liebe? Ist es nicht die Polarität, die Bewegung zwischen Gegensätzen, die sich in allem zeigt? Ist es mir möglich, sie grundsätzlich zu akzeptieren? Erscheinen mir das Leben und die Beziehung in aller Polarität dennoch bejahenswert? Dann ist ein Glück möglich, das atmen kann, sodass ich nicht mehr verkrampft an schönen Zeiten festhalten muss, die nicht vergehen dürfen, sondern auch die anderen Zeiten des gemeinsamen Lebens hinnehmen kann.
    Das dreifache Glück ist wichtig für die Liebe, am wichtigsten aber ist, dass sie eine starke Erfahrung von Sinn vermittelt, die die verschiedenen Arten von Glück in sich birgt. Sogar dann können Menschen Sinn in der Liebe finden, wenn sie in keiner Weise glücklich sind. Sinn ist dort, wo ein Zusammenhang ist, und für einen starken Zusammenhang sorgt die Liebe zwischen zweien: Sich mit unterschiedlichen Stärken wechselseitig zu beschützen und gemeinsam stärker zu sein als einer für sich allein. Da ist ein Mensch, den ich kenne, der mich etwas angeht und dem ich nicht egal bin, einer, mit dem ich Gedanken austauschen kann und für den ich etwas empfinde, wenngleich im Moment vielleicht nur Ärger. Liebe ist nicht die einzige Methode, Sinn zu finden, aber eine sehr wirksame. Aufgrund der Zusammenhänge, die sie aufspüren und festigen kann, wird sie in der modernen Epoche der Suche nach Sinn, in der so viele Zusammenhänge zerbrechen, zur großen Sinnstifterin: Der Sinn der Liebe ist die Schaffung von Sinn. Viele sehen in ihr den einzigen Sinn des Lebens, allerdings mit der Gefahr, dass ihr Scheitern dann zu einer Sinnlosigkeit führt, die das Leben in Frage stellt.
    Auf mehreren Ebenen können die Liebenden Sinn füreinander erschließen und miteinander erleben: Körperlich, seelisch, geistig und transzendent. In der Reihenfolge kommt keine Abwertung oder Hochschätzung einzelner Ebenen zum Ausdruck. Je nach der Deutung, von der die Liebenden sich leiten lassen, kann ihre Liebe einzelne oder mehrere Ebenen bespielen, abhängig von ihrer Antwort auf die Frage, was grundlegend sein soll: Die körperliche Begegnung, die seelische Empfindung, der geistige Austausch? Um die Beziehung mit ebenso großer Stabilität wie Flexibilität auszustatten, erscheint es sinnvoll, sie auf mehr als einer Ebene zu begründen: Schwierigkeiten auf einer Ebene können dann durch den Wechsel auf eine andere aufgefangen werden. Die Liebe kann am besten atmen, wenn sie zwischen den verschiedenen Ebenen hin- und herwandern kann und einer dem Anderen auch mal auf dessen Ebene entgegenkommt, denn eine Schwierigkeit der Liebe liegt darin, dass die Bedürfnisse der Liebenden nicht immer auf derselben Ebene angesiedelt sind. Die Liebe neu erfinden, das ist gleichbedeutend damit, die Liebe atmen zu lassen.