Liebe und Gemeinschaft – das sind wichtige, vielleicht sogar unverzichtbare Elemente eines guten, glücklich-gelungenen menschlichen Lebens. Kaum jemand würde bestreiten wollen, dass die funktionierende Beziehung mit einem Lebenspartner (oder auch mehreren) ein enormes Glückspotential birgt. Und ein Leben mit anderen in einer Gemeinschaft ermöglicht das Ausbilden und die Kultivierung sozialer Bindungen, den Austausch und das Verfolgen gemeinsamer Interessen und, mindestens ebenso wichtig, den freundschaftlichen Halt in sorgenschweren Zeiten.
Das sind nur einige der Gründe, warum Liebe und Gemeinschaft für die allermeisten Menschen Werte darstellen, die um ihrer selbst willen erstrebenswert sind – und die eben deswegen oftmals herangezogen werden, um die Unplausibilität des Hedonismus als Theorie des guten Lebens zu erweisen: Der Hedonismus sei nämlich, so eine prominente Kritik, nicht in der Lage, der Bedeutung, die Liebe und soziale Bindungen für unser Leben haben, in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Diesen Einwand finden viele so überzeugend, dass er mit verantwortlich dafür ist, dass der Hedonismus heute unter Philosophen gemeinhin als überholte Theorieform gilt. Doch muss der Hedonismus im Hinblick auf Liebe und Gemeinschaft wirklich seinen Bankrott erklären?
Die Wurzeln des Hedonismus reichen weit in die Antike zurück.i Ihm zufolge ist die Lust (gr. hêdonê) das höchste Gut, das Menschen anstreben können. Als eine Theorie des guten Lebens besagt er, dass sich das menschliche Glück durch möglichst viel Lust, bzw. Freude, bestimmt, bei gleichzeitiger Abwesenheit von Schmerz, bzw. Leid. Während dies zunächst eine Beobachtung ist, der vermutlich wenige widersprechen würden, ist für den Hedonismus entscheidend, dass sich ein gutes menschliches Leben ausschließlich an diesen beiden Faktoren bemisst.ii
Und genau hier setzt die Kritik an, die ihren Ausgang bei Liebe und Gemeinschaft nimmt. Denn indem der Hedonismus das menschliche Glück nur vom Lustgewinn abhängig macht, so das Argument, rede er einem radikalen Egoismus das Wort und degradiere andere Menschen – auch diejenigen, die mir am nächsten stehen – zu bloßen „Lustbeförderern“. Dies stehe aber in einem eklatanten Widerspruch sowohl zu unserem Verständnis von Liebe als partnerschaftlicher Beziehung mit Selbstwertcharakter, als auch zu unserer Vorstellung von wechselseitigen sozialen Bindungen auf gleicher Augenhöhe.iii
Bedeutet unsere Wertschätzung von Liebe und Gemeinschaft also das Ende des Hedonismus? Oder vermag der Hedonismus doch mehr dazu sagen, als ihm seine Kritiker zugestehen?
Als erstes kann der Hedonismus auf den Egoismus-Vorwurf reagieren, indem er auf die Perspektive verweist, um die es hier geht: Die Frage nach dem guten Leben ist immer zunächst die Frage danach, was für ein bestimmtes Subjekt sein Leben zu einem guten Leben macht. Vor diesem Fragehorizont erscheint es nicht als verkehrt, zu überlegen, welche positiven – und ggf. negativen – Empfindungen Liebe und soziale Bindungen für das Subjekt bereithalten, nach dessen Glück gefragt wurde. Dies impliziert noch keinerlei Aussage darüber, ob egoistisches Handeln berechtigt ist, oder nicht, und legitimiert auch noch keine Instrumentalisierung Anderer als reine „Lustbeförderer“.
Zweitens vermag die hedonistische Perspektive im Hinblick auf Liebe und Gemeinschaft einen Aspekt zutage treten zu lassen, der bei einer uneingeschränkten Wertschätzung unterzugehen droht, der aber direkt glücksrelevant ist: Im selben Maße, in dem sie glücksförderlich sind, bergen Liebe und Gemeinschaft nämlich auch erhebliche Unglückspotentiale. Es mag kaum Schöneres geben als eine glückliche Paarbeziehung – aber es gibt auch wenig, das unglücklicher macht, als eine aus dem Gleichgewicht geratene, womöglich sogar zerstörerisch gewordene Beziehung. Man mag dies für selbstverständlich halten. Aber der Hedonismus plädiert dafür, diese Kehrseite ernst zu nehmen: Liebe und Gemeinschaft sind gerade nicht uneingeschränkt glücksförderlich, sondern bedürfen ihrerseits der Abwägung.iv
Wie sieht es aber mit dem aus, was viele für den Kern des Problems halten: mit unserer Intuition, dass Liebe und Gemeinschaft Dinge sind, die wir um ihrer selbst willen erstreben, und die eben daraus ihren Wert gewinnen? Der Hedonismus kann darauf auf mindestens zwei Weisen antworten.
Eine Möglichkeit besteht darin, den Selbstwertcharakter von Liebe und Gemeinschaft zu bestreiten, und zwar mit Verweis auf die eben schon angesprochene Ambivalenz, die sie für das menschliche Glück bereithalten. Wir tun aus dieser Perspektive sogar gut daran, sie nicht als Selbstzwecke zu sehen. Denn so verringern wir die Gefahr, uns „blind“ in etwas zu verrennen, das unserem Glück womöglich überhaupt nicht förderlich ist.
Dem Verteidiger des Hedonismus steht aber auch eine zweite Antwortmöglichkeit offen: denn auch in einem hedonistischen Theorierahmen kann es durchaus Dinge geben, die wir um ihrer selbst willen erstreben (und eben nicht nur, weil wir und von ihnen einen Lustgewinn versprechen).
So hat etwa schon Epikur die Freundschaft, die er für das „bei weitem Größte“ hielt, „was die Weisheit für das Glück des ganzen Lebens zur Vefügung stellt“, als eine Beziehung beschrieben, die zwar zustande kommt, weil zwei Personen nach ihrer eigenen Lust streben, die sich dann aber, indem sie sich verstetigt, zu einem Selbstzweck ausbildet.v Diese Überlegung würde auch einen Ansatzpunkt bereitstellen, um auf den Instrumentalisierungseinwand („bloße Lustbeförderer“) zu reagieren.
Eine ergänzende Argumentation ließe sich ausgehend von einer anthropologischen Beobachtung führen: Wir sind Wesen, die auf Ziele hinarbeiten. Dabei verschafft uns auch schon der Prozess des Hinarbeitens Freude. Ebenso kann der Umstand, dass man ein Ziel erreicht hat, eine starke Lustempfindung bewirken, die ganz unabhängig davon ist, worum es bei diesem Ziel inhaltlich geht. Es scheint also, als könnte die Überzeugung, dass bestimmte Ziele einen von unserer Lustempfindung unabhängigen Wert, einen Selbstzweck, haben, unsere Freude an der Verfolgung dieser Ziele noch verstärken – und damit wäre sie selbst in unserem hedonistischen Interesse.vi
All dies ist freilich sehr skizzenhaft. Aber es deutet womöglich darauf hin, dass Liebe und Gemeinschaft keineswegs das Ende des Hedonismus bedeuten – und dass er sogar weit mehr dazu zu sagen hat, als viele es ihm zutrauen.
Endnoten:
i Der Hedonismus wurde philosophiegeschichtlich wohl zuerst von Aristipp und seinen Schülern, den Kyrenaikern, vertreten. Die philosophisch ausgearbeitetste Theorie des Hedonismus findet sich in der griechischen Antike zweifelsohne bei Epikur, insbesondere in seinem Brief an Menoikeus. Für eine konzise Übersicht über den Hedonismus in der Philosophiegeschichte, s. Catherine Wilson: Epicureanism. A very short introduction, Oxford 2015. Eine aufschlussreiche kritische Diskussion des Hedonismus als Theorie des guten Lebens findet sich in Annemarie Pieper: Glückssache. Die Kunst gut zu leben, Hamburg, 2001, Kap. 2. Zur neueren anglophonen Debatte, s. Dan Weijers Artikel „Hedonism“ in der Internet Encyclopedia of Philosophy: http://www.iep.utm.edu/hedonism/ [26.10.2017].
ii Es ist für ein angemessenes Verständnis des Hedonismus wichtig, sich vor Augen zu halten, dass er seinen Grundbegriff als terminus technicus sehr umfassend versteht: „Lust“ steht hier für ein breites Arsenal an positiven Empfindungen, das neben dem – im Deutschen recht eng verstandenden und vor allem oft allein auf körperliche Empfindungen reduzierten – Ausdruck „Lust“ auch Freude, Vergnügen, Genuss und Spaß umfasst.
iii Eine prägnante Form dieser Kritik formuliert etwa Annemarie Pieper: Sie attestiert dem Hedonisten, dass sein Leben „um nichts anderes als den Lustgewinn“ kreise. Dabei, so Pieper weiter, „verliert er ein anderes Maß aus den Augen, das ihn zur Solidarität gegenüber den Mitmenschen verpflichtet. Eine Gesellschaft [...], deren Mitglieder sich gegenseitig nur als potenzielle Genussmittel betrachten, ist menschenverachtend, da verantwortungslos und unsozial“. S. Annemarie Pieper: Glückssache. Die Kunst gut zu leben, Hamburg 2001, 98.
iv Schon der antike Hedonist Lukrez erörert diese Ambivalenz der Liebe: Über die Natur der Dinge, übers. u. komm. v. K. Binder, Berlin 2014,163–169. Für eine aufschlussreiche Diskussion der Ambivalenz von Gemeinschaft in Bezug auf das Glück von Individuen (wenn auch nicht aus dezidiert hedonistischer Perspektive, wohl aber damit vereinbar), s. Ralph Waldo Emerson: „Selbstvertrauen“, in: Ders., Die Natur. Ausgewählte Essays, übers. v. M. Pütz u. G. Krieger, hrsg. v. M. Pütz, Stuttgart 1982, 143-178.
v Epikur: Hauptlehrsätze, XXVII (Epikur: Ausgewählte Schriften, übers. u. hrsg. v. Chr. Rapp, Stuttgart 2010, 18.) Seine Überlegungen zur Freundschaft finden sich am ausführlichsten in Ciceros Darstellung der epikureischen Philosophie, s. Cicero: De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gute und das größte Übel, lat.-dt. übers. u. hrsg. v. H. Merklin, Stuttgart 1989, I 13–71, s. f. die Freundschaftsdiskussion bes. I 65–70.
vi Ein derartiges Argument formuliert z.B. Roger Crisp: Reasons and the Good, Oxford 2006, 120–1.