Liebe dich selbst – wie du deinen Nächsten liebst

"Liebe in diesem Sinne ist kein Eigentum, sondern etwas, das man sich und dem anderen stets schuldig bleibt."

    Seit Thomas Hobbes steht der Begriff der Gemeinschaft in Konkurrenz zum Begriff der Gesellschaft. In der Moderne ist er so umfassend ideologisiert worden, dass er spätestens nach dem Ende des Nationalsozialismus (Stichwort ‚Volksgemeinschaft‘) keinen Sinn mehr machte. Das hat sich in den letzten drei Jahrzehnten geändert, aus verschiedenen Gründen. Und in gewisser Weise ist das heutige Bedürfnis nach Gemeinschaft die Quintessenz dieser Entwicklung: Man möchte dem arbeitsteilig organisierten Kapitalismus, der den Menschen vereinzelt und auf Produktion und Konsumtion trimmt, eine Alternative entgegenstellen.

    Ob die Liebe dazu taugt, ist fragwürdig. Schon deshalb, weil die Liebe ja nichts ist, das der kapitalistischen Ordnung fernsteht. Im Gegenteil: Sie ist ihr bevorzugter Gegenstand. Aber vielleicht, so wird man einwenden wollen, wohnt ihr ein Zauber inne, der den Menschen als solchen betrifft und sich von Natur aus nicht instrumentalisieren und zähmen lässt. Zumal Liebe ja etwas ist, das jedem Menschen zugetraut wird, als die „Konvergenz individueller Ziele“, die dem Begriff der Gemeinschaft vorbehalten sein soll.i Aber was für eine Liebe ist das und welches Menschenbild bringt sie hervor?

    Stellen wir uns die Liebe zwischen zwei Menschen vor, am Anfang und am Ende. Eine solche Liebe kann ungemein produktiv sein und zugleich zerstörerisch, allumfassend und exklusiv, voller Versprechen, voller Enttäuschungen. Eine solche Liebe kann Gemeinschaften stiften, aber nicht fortsetzen. So gesehen muss die Verbindung von Liebe und Gemeinschaft ein Irrtum sein, weil Gemeinschaften zwar temporär angelegt sind, kommen und vergehen, dabei aber immer ein Ewigkeitsversprechen in sich tragen, das sich dann – im Moment des Scheiterns – selbst zerstört.

    Wahrscheinlich stellt man sich unter Liebe und Gemeinschaft aber etwas anderes vor, etwa die Liebe zu seinen Eltern, Kindern, zum Leben, zur Natur usf. Also eine Liebe, die über sich selbst hinauswächst, indem sie die eigene Liebe als die Liebe des anderen begreift. Eine regulative Idee, die auf ein Ziel ausgerichtet ist, das „außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegt.“ii Hier findet sich eine glückliche Fügung der beiden Begriffe. Im Ursprung des Wortes communitas bedeutet munus unter anderem „Geschenk‘, ‚Gabe, ‚Bestimmung‘ oder auch ‚Schuld‘.iii In diesem Fall kann Liebe sehr wohl ein geeignetes Bindemittel der Gemeinschaft sein, weil sie dynamisch, nicht exklusiv und trotzdem auf Dauer angelegt ist. Liebe in diesem Sinne ist kein Eigentum (also auch nicht meine oder deine Liebe), sondern etwas, das man sich und dem anderen stets schuldig bleibt.

    Zum Schluss eine kleine Spekulation: Es gibt für diesen Begriff von Gemeinschaft ein prominentes Beispiel, das Gebot der Nächstenliebe. Im Neuen Testament, Markus 12, Vers 31, heißt es: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Liest man den Satz für einen Moment jenseits seiner historischen und christlichen Bedingungen, dann heißt dies nichts anderes, als dass die Selbstliebe der Grund jeder Nächstenliebe ist. Damit wird nun etwas ganz und gar Modernes zum Ausdruck gebracht: Dass die Liebe zu sich selbst die Natur des Menschen ausmacht und das Fundament jeder Beziehung oder auch Assoziation zum Nächsten oder anderen bildet. Ist sie darum selbstlos und daher schon immer nach außen gerichtet? Oder vielmehr hedonistisch? Adressiert sie im anderen also immer zuerst sich selbst? Oder ist sie als Medium zu verstehen, als etwas Drittes, das sich unter und zwischen den Menschen ausbreitet, um in sich selbst immer schon den anderen und im anderen immer schon sich selbst zu entdecken? Ist sie also jene Gabe, zu der sie der Begriff der Gemeinschaft auffordert?

    Versuchen wir die folgende Umkehrung: Liebe dich selbst wie du deinen Nächsten liebst. Damit ist nichts entschieden; und man wird skeptisch bleiben dürfen, ob die Gabe der Gemeinschaft die Selbstliebe als Resultat der Nächstenliebe vorsieht. Aber darüber nachzudenken lohnt sich.


    i Charles Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach [u. a.], aus dem Französischen von Hans Günter Holl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 13.

    ii Frei nach Immanuel Kant: „Dagegen aber haben sie [die Begriffe] einen vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziel zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen.“ Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann, Hamburg: Felix Meiner 1998, S. 710 (A 644/B 672).

    iii Dazu Roberto Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft (1998), aus dem Italienischen übersetzt von Sabine Schulz und Francesca Raimondi, Berlin: Diaphanes 2004.