Das Private und das Öffentliche: Wie patriarchale Strukturen Liebe und Gemeinschaft deformieren

Zunächst sollten wir uns darüber bewusst werden, dass wir alle – Frauen, Männer und alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten – unter den Wunden patriarchaler Machtstrukturen leiden.

    Philosophische Fragen zu Liebe und Gemeinschaft richten sich oft auf die Bedingungen einer gelungenen Partnerschaft und damit auf die theoretischen und praktischen Aspekte von privaten Liebesbeziehungen. Wie steht es aber mit den öffentlichen Aspekten von Partnerschaft? Wie verhalten sich gesellschaftliche und soziale Bedingungen zu der Art und Weise, wie wir Gemeinschaft erfahren und gestalten? Dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen massiv auf Liebe und Gemeinschaft einwirken, kann man gut am Beispiel der Geschlechterverhältnisse sehen. Ansichten darüber, was männlich und was weiblich ist, oder darüber, wie wir eine Gesellschaft gestalten können, in der jede und jeder die gleichen Chancen bekommt, werden von gesamtgesellschaftlichen Diskursen geprägt, denen man sich nur schwer entziehen kann. 
     
    Die philosophische, kulturwissenschaftliche und soziologische Geschlechterforschung hat in den letzten Jahrzehnten viel erreicht. Auch die feministischen Anstrengungen zur Bewusstmachung von Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und von patriarchalen gesellschaftlichen Stereotypen haben Früchte abgeworfen. Und doch: Schaut man sich in heutigen Gesellschaften um, auch und gerade in Europa, zeigt sich ein enttäuschendes Bild. Frauen haben noch immer schlechtere Karrierechancen, werden schlechter bezahlt für gleiche Arbeit, sind unzähligen Formen sexueller Nötigung und Gewalt ausgesetzt und stoßen auf Unverständnis, wenn sie die Missstände anprangern. Und was das Ganze noch problematischer macht: Die systemimmanenten Ungleichheiten scheinen so stark verinnerlicht zu sein, dass es oftmals sogar an Problembewusstsein mangelt. In meinen Einführungsveranstaltungen zu gender studies erlebe ich es zum Beispiel immer wieder, dass Studierende in ihrem ersten Studienjahr denken, der Feminismus sei ein alter Hut und wir würden heute im „postfeministischen Zeitalter“ leben, in dem jede Frau dieselben Chancen hat wie ein Mann. In vielen Bereichen der öffentlichen Diskussion können wir beobachten, dass Errungenschaften feministischer Kritik heutzutage ignoriert oder lächerlich gemacht werden. Bisweilen fallen wir sogar zurück in Zustände, die wir als längst überholt betrachtet hatten. 
     
    Man kann viele Gründe anführen, die das Fortbestehen oder gar Erstarken patriarchaler Strukturen trotz feministischer Reflexion erklären könnten. Einen der Gründe sehe ich in dem, was man die Biologisierung von Geschlechterstereotypen nennen kann. Vor gut einhundert Jahren wurden Doktorarbeiten an europäischen Universitäten verteidigt, die nachweisen wollten, dass die Gehirne von Frauen für ein Universitätsstudium ungeeignet seien und Frauen deshalb nicht zum Studium zugelassen werden sollten. Das finden die meisten Menschen heute grotesk und empörend. Doch die inzwischen wieder salonfähige Annahme, die Evolution des Menschen habe Frauen und Männer mit unterschiedlichen Gehirnen ausgestattet, ist eigentlich nicht weniger empörend. Wir werden bombardiert mit Werbung, die bärtige Männer beim Grillen oder beim groben Handwerken zeigt, da dies erst den Mann zum Mann zu machen scheint; und Frauen gehen in ihrer Rolle als sorgende Mutter auf. Komplexe Rollenbeschreibungen, die das ganze Spektrum von Geschlechteridentitäten darstellen, sucht man vergeblich. Auch wird im öffentlichen Diskurs völlig unterschlagen, dass selbst die Gehirnforschung eine Trennung von nature und nurture als abwegig betrachtet.[1] Unser Gehirn ist ein Organ, das sich im Austausch mit unserer Umwelt fortwährend verändert. Die Rede von einer evolutionären Vorbestimmung ist deshalb Unsinn und dient lediglich der Stabilisierung heute gültiger Geschlechterordnungen. 
     
    Was können wir tun? Zunächst sollten wir uns darüber bewusst werden, dass wir alle – Frauen, Männer und alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten – unter den Wunden patriarchaler Machtstrukturen leiden. Um eine Gesellschaft aufzubauen, in der „Liebe und Gemeinschaft“ mehr als leere Worte sind, brauchen wir einen radikalen Systemwandel. Und einen radikalen Systemwandel erreichen wir nur, wenn wir gemeinsam die Mitarbeit am alten Diskurs verweigern und ein Vokabular entwickeln, das nichtpatriarchale Parameter des Zusammenlebens definiert, Parameter, die nicht den binären Konstruktionen von „männlich“ und „weiblich“ folgen. Auch und gerade als Männer sollten wir uns aktiv gegen patriarchale Strukturen auflehnen und es nicht zulassen, dass Menschen in unserem Umfeld, sei es öffentlich oder privat, aufgrund von Geschlechterstereotypen an der vollen Entfaltung ihrer Möglichkeiten gehindert werden. Und wenn wir es schaffen, unsere physische und mentale Umgebung zu verändern, werden auch unsere Gehirne bald ganz andere Dinge „normal“ finden als jetzt.

    [1] S. zum Beispiel Lise Eliot, Pink Brain, Blue Brain: How Small Differences Grow Into Troublesome Gaps – And What We Can Do About It, New York: Houghton Mifflin Harcourt 2009; Cordelia Fine, Delusions of Gender: How Our Minds, Society, and Neurosexism Create Difference, New York & London: W.W. Norton & Co. 2010.