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Man hatte sowas kommen sehen. Der über siebzig jährige Verleger des linken Trikont-Musikverlags, Achim Bergmann, machte an der Frankfurter Buchmesse lauthals seinem Unmut über die rechtsextremen Parolen eines Redners am Stand der Zeitschrift „Junge Freiheit“ Luft. Nicht gerade diskursiv gestimmt, soll er gerufen haben, der Redner solle „die Klappe halten“. Statt dass dies nun aber zu einem Wortgefecht führte (man kann die Klappe auch nicht halten), knallt ein bodygebildeter Saalordner dem weisshaarigen Verleger die Faust ins Gesicht. Da weiss man, was Sache ist. Ein Gespräch, auch ein lautes, wird nicht gewünscht.
Soll man daraus nun die Konsequenz ziehen, dass jetzt genug geredet ist, wie jüngst Sibylle Berg in einer kunstvoll wütend formulierten Parteinahme für den Schwarzen Block auf Spiegel online sagte, und nun den Rechten gezeigt werden muss, dass Antifa „Handarbeit“ ist? So dass dann also nicht nur dem Verleger des Trikont-Verlags, sondern etwa auch den geschniegelten Herren der „Jungen Freiheit“ die Lippen blutig aufplatzen würden? Oder soll man, wie angeblich auf der Messe auch geschehen, nachts und heimlich die Bücherregale des rechtsextremen Manuscriptum-Verlages leerräumen – mit dem Effekt, dass ein AfD-Politiker dies umgehend mit den Bücherverbrennungen der Nazis verglichen hat? Womit auch dem Hinterletzten einleuchten soll: nicht wir, die Linken sind die neuen Nazis… An der Buchmesse verharrten die erwähnten Kontrahenten übrigens im Hass vereint, brüllten gegenseitig und im Takt: „Nazis raus!“…
Der impotente König
In der Tat, es fliegen die Fetzen. Dass Fäuste gar nicht gehen, bedarf keiner weiteren Begründung. Fäuste und Schlimmeres müssen jenseits der Grenze des auch nur ansatzweise Akzeptablen bleiben. Doch wie sieht es diesseits dieser Grenze aus? Denn die Fetzen fliegen ja auch metaphorisch, als Worte. Ist „halt die Klappe“ schon schlimm genug? Oder der zynische Nazi-Vergleich? Sind die Linken „totalitär“ (wie mir kürzlich auf Twitter von einem Journalisten der Basler Zeitung angedichtet wurde)? Oder sind die rechten Recken, die Buchmesse-Schläger wie auch die feinsinnigen Rilke-Leser von den „Identitären“, der „Saatboden für einen neuen Faschismus“, wie Jürgen Habermas sagte?
Nun, vielleicht. Vielleicht sollte man aber auch mal kurz die Luft anhalten und dann ruhig ausatmen. Wie war denn das in den heroischen Frühzeiten der modernen Gesellschaften, im späten 18. Jahrhundert? Achtung, spoiler: Das, was wir heute erleben, ist alles andere als neu, sondern war von Anfang an Teil dessen, was man „bürgerliche Öffentlichkeit“, „Pressefreiheit“ und „demokratische Auseinandersetzung“ genannt hat. Öffentlichkeit war und ist kein Ponyhof. Und sie war auch im 18. Jahrhundert kein gepflegtes Kaffeehaus, in dem Kaufleute zuerst über Preise und dann, in aller Ruhe, über die politischen Angelegenheiten debattiert hätten. Auch die vielbemühte „Aufklärung“ war nicht bloss ein gepflegtes Salongespräch gepuderter Damen und Herren. Für einmal abgesehen davon, dass die Kritik an den herrschenden Verhältnissen sich damals zu einer blutigen Revolution steigerte – und daher mit unserer Lage nicht vergleichbar ist –: In den Formen dieser Kritik lässt sich durchaus Gegenwärtiges erkennen. Auch damals flogen die Fetzen. Die öffentliche Kritik am Absolutismus wurde, wie Robert Darnton kürzlich gezeigt hat, roh und ungeschminkt vor allem in unzähligen Flugschriften und kleinen Zeitungen, in schnell produzierten Broschüren und Blättchen geäussert, die alles andere als gesicherte Nachrichten und wohlabgewogene Argumente verbreiteten.
Vielmehr wurde hier unter anderem mit einer wahren Flut von offen pornographischen fake news farbenfroh und detailliert über das Sexleben am Hof spekuliert, die angebliche Impotenz des Königs verspottet und genüsslich über die ebenso angebliche Verruchtheit der Königin Marie-Antoinette gelästert. Diese Vorstadtpublizistik war nicht einfach ein pittoreskes Detail am Rande der „eigentlichen“, „seriösen“ Diskussion über die Legitimität der Monarchie, sondern war genau diese Diskussion im Format der damaligen social media. Wenn doch die Legitimität des Königtums nicht zuletzt von der Frage abhing, ob der Monarch in der Lage sei, einen Nachfolger zu zeugen – warum sollte man dann nicht öffentlich und en détail diskutieren bzw. in Kupfer stechen, ob sein Glied auch anständig erigiert und nun endlich zum Akt mit seiner Königin bereit sei…? Und warum sollte man sich nicht die Ausschweifungen von Aristokraten und Klerikern hämisch vors lüsterne Auge führen, wenn man sie damit auch gleich der Lächerlichkeit preisgeben konnte?
Ok, man könnte sagen, das ist aber doch eine Weile her, und in Sachen Pornographie brauche unsere Epoche keine Belehrung von Historikern. Mag sein, aber festzuhalten ist doch: Zartbesaitet sollte man in jenen Heldenzeiten, als die „Aufklärung“ und die „bürgerliche Öffentlichkeit“ sich „entfalteten“, nicht gewesen sein, und es wäre ein leichtes (wenn auch Platz raubendes) Unterfangen, dasselbe für das gesamte 19. Jahrhundert nachzuweisen. Springen wir hier stattdessen in die jüngere Vergangenheit des Kalten Krieges. Zweifellos, das war eine Zeit, in der durch die ideologisch aufgeheizte Blockkonfrontation die Worte messerscharf wurden und der Verdacht, als linker Kritiker im „Solde Moskaus“ zu stehen, Karrieren, ja Leben zerstören konnte. Mit dem Aufkommen der durchaus wortgewaltigen Neuen Linken und der 68er Bewegung entstand zwar eine gewisse diskursive Waffengleichheit zwischen Kritikern und Verteidigern des Status quo, zugleich aber steigerte sich der Ton der Auseinandersetzung zuweilen ins Apokalyptische. Als in den 1970er Jahren in Deutschland und in Italien bewaffnete Gruppen und ein sich polizeilich hochrüstender Staat gegenüberstanden, wurden politische Gegner ohne Zögern als „Sympathisanten“ des Terrors oder als Wegbereiter eines neuen „Faschismus“ denunziert – und zwar nicht nur am Stammtisch und in Szenekneipen, sondern in der honorigen Presse und von hochangesehenen Intellektuellen.
Das alles kann uns nicht ganz fremd vorkommen – genau so scheint es auch heute zu sein. Vielleicht das Wichtigste, was uns der Blick zurück in die Geschichte lehren kann, ist daher, dass wir uns sagen sollten: Nun denn, geschähe nichts Schlimmeres – was sich hier abspielt, halten wir gut aus. Demokratisch und vor allem rechtsstaatlich verfasste Gesellschaften – ich spreche hier nur von diesen (und hoffe, dass sie es bleiben…) – kennen genügend Sicherheitsmechanismen, damit der Streit der Parteien und Gruppen nicht im Bürgerkrieg mündet. Vielleicht genauer noch: Demokratie braucht nicht nur müde Parlamentsdebatten über den Standort der neuen Kläranlage, Demokratie braucht den Streit über Grundsätzliches. Das ist der Streit über existenzielle Interessen und Ängste, über Werte oder die zynische Verachtung von Werten, über Ideologien und Weltanschauungen, und dieser Streit lebt halt auch ein Stück weit von den Bösartigkeiten, die man dem politischen Gegner anhängt. Das ist noch lange kein untrügliches Zeichen des drohenden finalen Unheils und Grund zur äussersten Empörung. Sondern eher der Anlass, mal ein wenig die Luft rauszulassen und den Gegner nicht grösser erscheinen zu lassen, als er ist.
Und ewig droht der Faschismus
Das also wäre die eher beruhigende Lektion aus der Geschichte der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ seit dem 18. Jahrhundert, und es wäre eine Lektion, die durchaus auch Linke und Liberale beherzigen könnten: So schnell geht nicht nur das „Abendland“, sondern geht auch die zivilisierte Menschheit nicht unter. Die in den 1970er Jahren notorische Rede vom drohenden „Faschismus“ in Deutschland war, im nüchternen Rückblick betrachtet, ziemlich hysterisch und zielte weit an der Realität vorbei. Man kann sich, wie damals gerade auf Seiten der Linken geschehen, seinen Lieblingsgegner auch herbeireden. Das ist heute, wie gesagt, eine Spezialität rechtsnationaler und rechtsextremer Publizisten und Politiker, die „den Linken“ eine Macht zuschreiben, die lachen machen würde, wenn die politische Absicht nicht so durchsichtig wäre. Denn wie sehr lässt sich die eigene Bedeutung steigern, wenn der Gegner nicht einfach ein anderer Demokrat mit lausigen Ideen ist, sondern ein übermächtiger, bösartiger Feind, ein Wiedergänger der Nazis, ein Kryptokommunist… Man muss sie entlarven, die Feinde! Denn ach, wie sehr wächst man doch an den Aufgaben des ideologischen Kampfes!
Allein, gibt es Grenzen in diesem Streit, abgesehen von den Fäusten? Ja, und man sollte, auch wenn man keine Mimose ist, doch sehr genau darauf achten, dass sie nicht überschritten werden. Die rote Linie ist alles, was auch in grosszügiger Auslegung als die Regeln der rechtsstaatlich verfassten Demokratie zu bezeichnen ist. Politische Positionen und Verhaltensweisen, die diese Regeln angreifen – von der offenen Sehnsucht nach dem autoritären Staat bis zur Hassrede, die auf die körperliche oder kulturelle Identität der Anderen zielt –, müssen exponiert und isoliert werden. Der Historiker Thomas Mergel hat vor einiger Zeit überzeugend argumentiert, dass die Weimarer Republik nicht einfach an den grundlegenden ideologischen Differenzen oder der Wirtschaftskrise zugrunde ging, sondern an der Weigerung von Nazis und Kommunisten, die Spiel- und Streitregeln der Demokratie zu befolgen.
Heute nennt man solche Leute Trolls. Sie machen sich einen bösen Spass daraus, auf Argumente der politischen Gegner nicht mit Gegenargumenten – oder „Gegenwerten“ – zu antworten, sondern mit höhnischem Lachen, mit aktiver Verweigerung von argumentativem Streit, mit bewusster Inkonsistenz und absurden Vergleichen, mit gezielter Falschheit und kalter Verachtung für das Bemühen des Gegners, etwas Sinnvolles zu sagen. Es hilft wohl wenig, den Troll zu bitten, die Diskursregeln des „vernünftigen“ Argumentierens einzuhalten. Doch falls dieser Troll kein irgendwo programmierter Algorithmus ist, sondern tatsächlich ein Sprecher, führt kein Weg am Versuch vorbei, ihm zumindest streitend beizubringen, dass man durchaus daran interessiert ist, mit ihm zu streiten, wenn’s sein muss heftig. Ratschläge dazu, wie das funktionieren könnte, stehen zur Verfügung. Denn die einzige Hoffnung ist, dass der gemeinsame Streit über Grundsätzliches uns doch noch gemeinsam weiterbringt.