Über Kampf und Pflege

Ein Debattenanstoss, basierend auf „Russisches Kriegsschiff, fick dich“ von Constantin Seibt

    Am 14.04.2020 veröffentlichte Constantin Seibt den Text „Russisches Kriegschiff, fick dich!“ im Online-Magazin "Republik". Der Titel geht auf die Reaktion von 13 Grenzsoldaten der ukrainischen Armee zurück, welche mit diesem Satz auf die Aufforderung eines russischen Kriegsschiffes, sich zu ergeben, antworteten. Für Seibt stellt dieser Satz die Quintessenz eines erneut entflammten Kampfes zwischen der „Freien Welt“ und dem aufkeimenden Faschismus und Autoritarismus in Russland, aber auch anderen Regionen der Welt dar: Bürger:innen müssen sich für eine Seite – entweder Demokratie oder Faschismus – entscheiden. Die Konstellation des Kalten Krieges erlebt eine Wiedergeburt.

    In seinem beeindruckenden und pointierten Plädoyer für die Verteidigung demokratischer Freiheiten ist es Seibt gelungen, nicht nur beim offensichtlich militärischen Angriff auf demokratische Systeme stehen zu bleiben. Er verbindet diesen gekonnt mit autoritären Tendenzen, die sich ebenfalls in westlichen Ländern bemerkbar machen. Von Donald Trump, über Marine Le Pen, zu Victor Orban: überall betreten Figuren die öffentliche Bühne, die sich zum Ziel gesetzt haben, demokratische Prozesse und Institutionen zu untergraben und Schritt für Schritt abzubauen. Ihr grosses Vorbild dabei: Wladimir Putin.

    Der Angriff von autoritären Kräften auf die Demokratie wird im Kern unter anderem als ein Kampf gegen die Wahrheit geführt. Flood the zone with shit“, wie Steve Bannon, Chefstratege von Donald Trump, sich ausdrückte, ist das Credo dieses Propagandastils: Der öffentliche Diskurs wird mit allen möglichen anzweifelnden, sich widersprechenden oder schlicht offensichtlich falschen Meldungen überflutet, so dass relevante Informationen kaum mehr an die Oberfläche dringen können. Dabei spielt die ideologische Ausrichtung der gemachten Aussagen prinzipiell keine Rolle. Verwirrung stiften, ist das eigentliche Ziel. Diese Strategie, die wohl Donald Trump perfektionierte, die aber auch bei den Querdenker:innen eine wichtige Rolle spielt, scheint sich nun auch im Lager der Putin-Zugewandten in Europa auszubreiten.

    Diesen Umwälzungen müssen „wir“ – Menschen, die bereits in Demokratien leben – entgegentreten, indem wir uns aus der politischen Lethargie der letzten Jahrzehnte befreien. Konkret bedeutet dies: Bündnisse schmieden, den europäischen Zusammenhalt stärken, Demokratie und Kapitalismus neu erfinden: „Tatsächlich haben Freiheit und Kapitalismus schon ein paar Mal gegen autoritäre Systeme gesiegt – Wie? Durch das, was autoritäre Systeme nicht hinkriegen: sich neu erfinden.“

    So scharf die Analyse von Seibt auch ist, sie birgt durch ihre Zuspitzung auf eine einfache Entscheidung zwischen zwei politischen Systemen doch auch Gefahren: Sind die existierenden Institutionen wirklich demokratisch genug, dass es reicht, die „Freie Welt“ gegen ihre (äusseren) autoritären Feinde zu verteidigen, um Demokratien nachhaltig zu schützen und  zu stabilisieren?



    Bedrohung (nur) von Aussen?

    Vor dem Hintergrund des brutalen Krieges in der Ukraine wirken die Mängel westlicher Demokratien klein und unbedeutend. Es rücken die unglaublichen Privilegien und Freiheiten, die ‚wir‘ hier geniessen, in den Vordergrund. Nur natürlich erscheint es, diese gegen die autoritären und faschistischen Angriffe verteidigen zu wollen. Doch so rosig, wie einigen von uns das Leben in Demokratien vorkommen mag, ist es dann doch nicht. Und vor allem kommt es vielen Menschen nicht in gleicher Weise zu.

    Auch demokratische Gesellschaften sind durchsetzt von Gewalt und Einschränkungen der Freiheit. Soziale Ungleichheit und struktureller Rassismus führen beispielsweise in den USA, aber auch weit darüber hinaus dazu, dass jedes Jahr Hunderte Menschen ihren Tod finden. Solche Dinge mögen vergessen gehen, wenn man nicht selbst davon betroffen ist und gerade die Bilder von ungeheuerlichen Kriegsverbrechen vor Augen hat. Wer aber die Demokratie als etwas anruft, das es zu verteidigen gilt, muss sich mit ihrer eigenen, inneren Gewalt auseinandersetzen, die nicht alleine auf ein Wiederauftreten des Faschismus zurückzuführen ist – auch wenn sich die Situation dadurch sicherlich nicht verbessert.

    Diskussionen darüber, welche Gewalt und welches Leid nun grösser und darum in irgendeiner Weise legitimer sind, machen im besten Fall wenig Sinn, sind aber vermutlich in erster Linie zynisch und verletzend – so als wollte man etwa mit Putin ein ernsthaftes Gespräch über Menschenrechte führen. Eine demokratisch gesinnte Haltung sollte darauf ausgelegt sein, Gewalt und Leid in allen Formen nach Möglichkeiten zu bekämpfen, um demokratische Prozesse zu stärken und diese allen Menschen gleich zugänglich zu machen. Auch wenn im akuten, politischen Tagesgeschäft eine Entscheidung gefällt werden muss, darf diese nie dazu führen, dass man den Rest vergisst oder ihn als unwichtig abtut.

    Interne Gewalt von Demokratien ist hierbei nur die erschreckende Spitze des Eisbergs. Es gibt unzählige Untersuchungen, Kritiken und Proteste, die Mängel an der Funktionsweise unserer Demokratien aufzeigen. Vom Umgang mit geflüchteten Menschen bis hin zur Gefährdung demokratischer Deliberation durch die Monopolisierung von Medien. Eine Debatte, die den Kampf um die Demokratie einzig auf die ‚äussere‘ – durchaus ernstzunehmende – Bedrohung durch den Faschismus verengt, läuft Gefahr, die vielen notwendigen – im Vergleich zur Weltpolitik und dem Krieg vielleicht „kleineren“ – Anpassungen, welche zur Demokratisierung unserer Gesellschaft beitragen würden, zu verkennen.



    Freiheit und Kapitalismus“?

    Der Kapitalismus nimmt in Seibts Analyse eine merkwürdige Doppelrolle ein: auf der einen Seite beschreibt er den Untergang des neoliberalen Paradigmas als die gescheiterte, „fast rührende“ Annahme, dass der Markt ohne staatliche Regulation Fortschritt und Wohlstand mit sich bringen könnte. Wobei er die erneute Erstarkung des Politischen gegenüber den Marktimperativen durchaus begrüsst.

    Auf der anderen Seite stellt für ihn der Kapitalismus aber auch eine wichtige Quelle der Innovation dar, auf welche in der Erhaltung unserer demokratischen Gesellschaften Bezug genommen werden muss – notfalls auch, indem der Autoritarismus mit quietschbuntem Zeug“ bekämpft wird.

    Der Kapitalismus hat allerdings nicht nur „quietschbuntes Zeug“ und eine kritische Mittelklasse hervorgebracht, sondern ist ebenfalls für die radikale Ungleichverteilung von Freiheiten innerhalb westlicher Gesellschaften verantwortlich. Eine Entwicklung, die solche Ausmasse angenommen hat, dass gewisse Stimmen bereits darüber spekulieren, ob nicht eine neue Form des Feudalismus über die („freie“) Welt hereingebrochen ist.1

    Was nützen Freiheiten, wenn man ständig unter ökonomischen Zwängen steht, die verhindern, dass man diese voll ausleben kann? Natürlich ist dies immer noch besser als in einem mörderischen, despotischen Regime zu leben. Aber nur weil etwas besser ist, als sich verfolgen und brutal ermorden zu lassen, muss es noch nicht die einzige Welt sein, für die wir uns entscheiden können.

    Zumal nicht einmal klar ist, dass der Kapitalismus tatsächlich seine freiheitlichen Heilsversprechen einhalten kann. Wie das Beispiel China zeigt, funktioniert Kapitalismus auch herrvoragend mit einer autoritären Regierung zusammen. Er ist wohl bestenfalls eher indifferent gegenüber der Politik als notwendigerweise demokratiefördernd.

    Ein noch düstereres Bild kapitalistischer Tendenzen lässt sich zeichnen, wenn auf Entwicklungen rund um das Silicon Valley aufmerksam gemacht wird: bereits in den 90er Jahren machten Kritiker dort markt-autoritäre Tendenzenn ausfindig. Berühmt und berüchtigt ist wohl Peter Thiels – Gründer von Pay Pal und überzeugter Trump-Unterstützer – Aussage geworden, wonach Freiheit und Demokratie nicht mehr miteinander vereinbar sind, weshalb man sich völlig von der Politik verabschieden sollte. In der Online-Welt der amerikanischen Neuen Rechten nahmen solche Ideen einen klaren faschistischen Zug an, wo der Ausstieg aus der demokratischen Politik durch den autoritären, einem Unternehmen gleichen Staat garantiert wird.

    Überdies hat der Informationskapitalismus zu einem Umfeld geführt, in welchem die seriöse Verbreitung wichtiger Information schwerwiegend unter Druck geraten ist. Die faschistische und autoritäre Propaganda konnte sich nicht zuletzt auch deshalb festsetzen, weil aus Falschmeldungen und Fehlinformation Profit geschlagen wird.

    Auch sei angemerkt, dass einige der ersten Figuren, welche die heute so beliebte Propagandatechnik der Verbreitung von Zweifel und Fehlinformation anwandten, nicht etwa Anhänger:innen autoritärer Regierungen waren, sondern eine Gruppe ehemaliger Wissenschaftler und Marketingfachleuten, die sich um den freien Markt in den USA sorgten.2

    Sind wirklich Demokratie und Kapitalismus die Mittel gegen die Bedrohung der autoritären Regime? Oder muss man nicht viel mehr die Demokratie vor Faschismus, Autoritarismus und – zumindest Tendenzen des – Kapitalismus verteidigen?



    Demokratische Institutionen und demokratische Kultur

    Was macht eine Gesellschaft zu einer demokratischen? Sind es die Wahlen? Sind es gewisse Grundrechte? Oder eine unabhängige Justiz? Oftmals werden wohl eine Kombination dieser und anderer Institutionen angeführt, um einer Gesellschaft die Demokratie zuzusprechen.3 In welchem Mass genau unterscheidet sich von Land zu Land. Auch die Gewichtung der einzelnen Institutionen mag variieren – doch im Grossen und Ganzen scheint ein Konsens vorhanden zu sein.

    Dass man um solche Institutionen, im Notfall auch militärisch, kämpfen kann, scheint offensichtlich. Ein Parlament, oder ein Gericht kann gut verteidigt werden. Gesetze werden ja ohnehin schon von der Justiz und der (bewaffneten) Polizei durchgesetzt.

    Doch neben diesen „materiellen“ Bedingungen einer Demokratie, finden sich auch noch andere, weniger greifbare. Manchmal tauchen diese in verzerrter Form von rechter Seite im öffentlichen Diskurs auf. Dann wird meist von irgendwelchen christlichen, westlichen – oder was gerade sonst so passt – Werten gefaselt. Substanzieller kann dieses Argument so verstanden werden, dass eine Demokratie auch auf demokratische Gewohnheiten angewiesen ist. Debatten, das Prüfen von Argumenten, der sinnvolle Umgang mit Informationen, das Bilden eines (freien) politischen Urteils usw. sind alles Handlungen, die Menschen erlernen und immer wieder üben müssen4 – unabhängig davon, wo sie herkommen.

    Wie aber kämpft man um den Erhalt solcher Gewohnheiten? Natürlich kann und muss man vielleicht für den Erhalt öffentlicher Bildungseinrichtungen kämpfen. Sei dies, um den Lehrplan vor übermässigem Sparen zu schützen oder um im Falle eines militärischen Konfliktes die physische Existenz der Bildungseinrichtungen zu bewahren.

    Doch gibt es bei diesem Kampf auch eine Gefahr: Viele demokratische Gewohnheiten sind gewaltfrei, stellen Autoritäten in Zweifel und sollen selbständige Urteilsbildung ermöglichen. Dies ist nur schwer mit militärischen Strukturen vereinbar, wo ganz andere Gewohnheiten und Denkmuster von Vorteil sind: hierarchische Befehlsketten, Handeln ohne Zweifeln, (meistens) unhinterfragte Loyalität zu den Vorgesetzten usw.

    Das bedeutet nicht, dass eine Demokratie notwendigerweise auf alles Militär verzichten muss (oder kann). Dies ist wohl leider in der heutigen Welt nicht möglich. Allerdings muss klar gesehen werden, dass militärische Gewohnheiten mit genuin demokratischen im Konflikt stehen. Es ist wohl kein Zufall, dass fast alle autoritären Herrscher und Diktatoren die Instrumente ihrer Herrschaft in militärischen Kontexten erlernt und gefestigt haben.

    Es ist vielleicht der unüberbrückbare Widerspruch der nationalstaatlichen, liberalen Demokratie, dass ihr Erhalt als territoriales Gebiet in der aktuellen Welt an Einrichtungen geknüpft ist, die Gewohnheiten kultiviert, welche nicht restlos mit einer demokratisch organisierten Lebensform vereinbar sind.



    Pflege der Demokratie

    Die Demokratie als Form des Zusammenlebens ist in Gefahr. Dies ist überhaupt keine Frage. Nur scheinen die Bedrohungen nicht einzig vom wiedererstarkten Autoritarismus auszugehen. Eine Logik der zwei Systeme hilft dabei nur begrenzt weiter: Der Kampf um die Demokratie konzentriert sich zu stark auf eine Bedrohung von Aussen. Auch wenn dieses "Aussen" autoritäre Parteien in Demokratien mit einschliesst, bleiben doch die internen Probleme unserer Gesellschaften zu schwer greifbar, um nachhaltig darauf reagieren zu können.

    Demokratie scheint vielmehr etwas zu sein, das gepflegt werden muss. Natürlich müssen dafür auch äussere Angriffe, wie sie zur Zeit in der Ukraine geschehen, abgewehrt werden. Aber das ist nicht das einzige. Es muss darüber hinaus überlegt werden, wie Demokratie vertieft gelebt werden kann. Nur durch das Etablieren demokratischer Gewohnheiten können demokratische Gesellschaften auf lange Sicht überleben. Dazu müssen aber auch die vielen „kleinen“ Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.

    Ein solcher Aufruf bleibt, vielleicht notwendigerweise, offen und schwammig. Dieser Text soll deshalb auch eine Einladung an alle Lesenden sein, sich an einer Debatte über die Verteidigung, den Erhalt und die Weiterentwicklung der Demokratie zu beteiligen. Kommentieren Sie oder senden Sie uns Ihre Gedanken, Überlegungen und Beiträge an info@philosophie.ch.

     

    Literatur

    (1) Piketty, Thomas. (2014) [2013]. Capital in the Twenty-First Century. Cambrige M.A.

    (2) Oreskes, Naomi/Conway, Erik M. (2010). Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming, New York/Berlin/London.

    (3) Dahl, Robert (1998). On Democracy. New Haven.

    (4) Hampe, Michael. (2018). Die Dritte Aufklärung. Berlin