Zeitungsartikel im Bund / Tagesanzeiger vom Samstag 6. Januar 2018 16:30 

Im Kampf gegen den Homo oeconomicus

Ob Abgasskandal oder Paradise Papers: Für den Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner ist die Geschichte vom «Wohlstand für alle» ein trügerisches Heilsversprechen der Ökonomen.

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    Er kommt in dunkler, dicker Daunenjacke, trägt eine Wollmütze mit grossem Zottel. Zwei Zigarettenzüge noch in der nächtlichen Winterkälte, dann geht es ins Metzgertor in der St. Galler Altstadt. Es ist 19.30 Uhr. Es war der einzig mögliche Termin. Am nächsten Tag sei er bereits weg, über die Feiertage gehe es erst nach Deutschland, dann nach Kanada, entschuldigt er sich. Thomas Beschorner ist ein unkomplizierter Mensch. So sitzen wir bei zwei Weizenbier im dunklen Lokal, das nur einen Katzensprung von seiner Wohnung entfernt liegt. Die Musik wird für das Gespräch speziell für uns leiser gedreht.

    Der Professor lehrt und forscht Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen (HSG), die in Europa zu den führenden Wirtschaftshochschulen gehört. Die Hochschule leistet sich drei Professuren am Institut für Wirtschaftsethik. «Ein fantastischer Job», sagt der 47-Jährige, der dort seit 2011 Direktor ist. Aber es gibt auch Wermutstropfen. «Es kann nicht sein, dass ein HSG-Absolvent die Hochschule verlassen kann, ohne sich mit Wirtschaftsethik beschäftigt zu haben.» Ethik und verantwortungsbewusstes Management sind an der HSG wie an den meisten Wirtschaftshochschulen kein Pflichtfach. «Wir haben eine enorme wissenschaftliche Kompetenz in diesem Bereich», sagt er. Es sei also keine Frage des Könnens, sondern des Wollens, formuliert Beschorner und kritisiert damit ein zu zögerliches Verhalten seiner Hochschule.

    Damit ist man mitten im Thema, das Beschorner umtreibt. Seine wissenschaftlichen Arbeiten und seine Essays bei «Spiegel online» und in der Wochenzeitung «Die Zeit» sind provokativ. Seine Kritik zielt auf die Wirtschaftswissenschaften generell, auf die Ökonomie, die reformiert werden müsse. Es ist eine Anklage an die «Kunstfigur» der Ökonomen, den Homo oeconomicus, und ein zu einfaches Denken von wirtschaftlichen Zusammenhängen insgesamt. «Das hat die Wirtschaft von der Gesellschaft entrückt», kommt Beschorner in Fahrt. Für Ethik gäbe es im ökonomischen Mainstream ohnehin keinen Platz.

    Trügerisches Versprechen

    So kann sich der Wirtschaftsethiker noch heute über eine Provokation des Direktors des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vor einem Jahr aufregen. Es gehe nicht um Gerechtigkeit, sondern vorrangig um «Wohlstand für alle» in der Gesellschaft, liess der Ökonom verlauten. «Mit Verlaub, das ist doch ideologischer Mumpitz aus den 50er-Jahren», nervt sich Beschorner. Die Geschichte sei immer dieselbe: «Die Kuchen müssen grösser und grösser gebacken werden, damit alle etwas davon haben; das heisst, den Produktionsfaktor Arbeit verbessern, die Human Ressources.»

    Schon dieser Begriff ist für Beschorner verdächtig. «Hinter der Arbeit stecken Menschen, die dürfen aber nicht nur als Mittel, sondern müssen auch als Personen anerkannt werden.» Wenn Letzteres ausgeblendet werde, dann werde eine Volkswirtschaft oder ein Unternehmen früher oder später jenseits der von der Gesellschaft definierten Moralvorstellungen landen. «Und da stehen wir inzwischen mitunter», bilanziert Thomas Beschorner.

    Beispiele dafür gab es im vergangenen Jahr genügend. So zeigte sich die deutsche Autoindustrie durch den Abgasskandal von ihrer schlechtesten Seite. Und die von der internationalen Presse veröffentlichten Paradise Papers offenbarten, wie westliche Unternehmen, auch Schweizer Firmen, Profit auf Kosten Armer machen.

    Für den Wirtschaftsethiker ist die Geschichte vom «Wohlstand für alle» ein trügerisches Heilsversprechen der Ökonomen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt hänge nicht nur mit dem gesellschaftlichen Wohlstand, sondern auch mit der sozialen Gerechtigkeit zusammen. «Immer mehr Menschen haben das Gefühl, keine Chancen mehr in der Gesellschaft zu haben, obwohl es faktisch dem Land ökonomisch sehr gut geht.»

    Nackte ökonomische Zahlen sagen nichts über Gerechtigkeit aus

    Ökonomen gäben vor, mit analytischem Verstand und wertneutral zu arbeiten, sagt Beschorner. Aber man könne allein mit sozioökonomischen Zahlen die gesellschaftliche Gerechtigkeit nicht beschreiben und erkennen. Bruttoinlandprodukt, Arbeitslosigkeit, Arbeitsbeschaffung. «Die nackten ökonomischen Zahlen in den USA zeigten einen prosperierenden Staat, warum wählte das Volk trotzdem Donald Trump?», fragt er.

    Solche Fragen sind es, die seine Studenten sich stellen sollen. Auch er selbst hätte gerne in seinem Wirtschaftsstudium weniger Zeit damit verbracht, wie man Gewinne maximieren kann. Vielmehr hätte ihn «das Warum» interessiert. Beschorner ist ein theoretisch denkender Mensch, aber mit einem gesunden Schuss Pragmatismus. Nach der 10. Klasse hatte er keine Lust mehr, die Schulbank zu drücken, erzählt er schmunzelnd. Das war mit 16 Jahren. So macht er eine dreijährige Ausbildung zum Grosshandelskaufmann. «Dabei habe ich viel gelernt, auch sich unterzuordnen, sich hochzuarbeiten», erinnert er sich.

    Doch das Praktische allein reicht ihm nicht. Er machte das Abitur, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Kassel und an der National University of Ireland. Den fehlenden Diskurs um wirtschaftsethische Fragen im Grundstudium versuchte er wettzumachen, indem er nebenbei auch Kurse in evangelischer Theologie und Philosophie belegte. Nach dem Studium fokussierte er sich auf das Thema Gesellschaft und Nachhaltigkeit, lehrte und forschte an verschiedenen deutschen Hochschulen und in Montreal.

    Geldmaschine Fussball

    Seine Erfahrungen und Meinungen will er stets über den Zirkel der Wissenschaftler hinaustragen. Das «CSR Magazin» für gesellschaftliche Verantwortung, das Beschorner mit herausgibt, erhielt 2012 von der Deutschen Fachpresse das Prädikat «Fachmedium des Jahres» in der Kategorie «Beste Neugründung». Beschorner schreibt auch regelmässig in populären Medien und wählt dabei entsprechend populäre Themen, die stets das rein ökonomische Kalkül der Wirtschaft infrage stellen. Wenn er zum Beispiel über die Geldmaschine Fussball schreibt. «Es waren einmal elf Freunde», sagt er. «Was ist daraus geworden?» Fussball spiele in der Gesellschaft eine integrierende Rolle, aber von der Grundidee des Sports entferne man sich immer mehr.

    Und mit wie viel ethischem Bewusstsein verlassen seine Studenten die Hochschule? «Ich hoffe, dass sie verstehen, wo und wie man das ökonomische System verändern kann, und dass sie später die Courage haben, moralisch falsche Unternehmensentscheide nicht mitzutragen», sagt Thomas Beschorner. Die Weizenbiere sind inzwischen getrunken. Statt einer haben wir zwei Stunden miteinander gesprochen. Mit einem Augenzwinkern verabschiedet er sich: «Vielleicht sitzt gerade in diesem Semester der nächste CEO der UBS in einer meiner Vorlesungen und versteht, worum es geht.»