Über implantierende gemeinsame Situationen, erläutert an den Themen Integration und Patriotismus

    • Integration?

    Den Einwand, dass es den von manchen herbeigewünschten Vereinigten Staaten von Europa an einem europäischen Volk, an einem demos im staatsrechtlichen Sinn fehle (Böckenförde, 1976; Schmale, 2010: S. 31; Winkler, 2017: S. 31), hatte Jürgen Habermas mit folgenden Worten weggewischt:

    „In Wahrheit geht es um die Frage, ob eine transnationale Erweiterung der staatsbürgerlichen Solidarität quer durch Europa möglich ist. Eine gemeinsame europäische Identität wird sich aber umso eher herausbilden, je mehr sich im Inneren der einzelnen Staaten das dichte Gewebe der jeweiligen nationalen Kultur für die Einbeziehung der Bürger anderer ethnischer oder religiöser Herkunft öffnet. Integration ist keine Einbahnstraße; sie versetzt, wenn sie gelingt, die starken nationalen Kulturen so in Schwingung, dass diese gleichzeitig nach innen und nach außen poröser, aufnahmefähiger und sensibler werden. Je mehr beispielsweise in der Bundesrepublik das Zusammenleben mit Bürgern türkischer Herkunft zu einer Selbstverständlichkeit wird, umso besser können wir uns auch in die Lage anderer europäischer Bürger – in die fremde Welt des Weinbauern aus Portugal oder des Klempners aus Polen einfühlen. Die innere Öffnung in sich verkapselter Kulturen öffnet diese auch füreinander. […] Keine Integration ohne die Erweiterung des eigenen Horizonts, ohne die Bereitschaft, ein breiteres Spektrum von Gerüchen und Gedanken, auch von schmerzlichen kognitiven Dissonanzen zu ertragen. In den säkularisierten Gesellschaften West- und Nordeuropas kommt die Begegnung mit der Vitalität fremder Religionen hinzu. Sie verschafft auch den einheimischen Konfessionen eine neue Resonanz. Die eingewanderten Andersgläubigen sind ein Stimulus für die Gläubigen nicht weniger als für die Nichtgläubigen.“ (Habermas, 2008: S. 93 f.)

    Dieser halb soziologische, halb politisch-menschelnde Stil hat im politischen Berlin eine beträchtliche Nachwirkung gehabt. Auch die Bundeskanzlerin liebt es, die „Öffnung“ gegen die „Abschottung“ auszuspielen und versteht es, die Doppeldeutigkeit dieses Redetypus in einem schwebenden Gleichgewicht zu halten: Die „Öffnung“ meint zugleich den auf vorgeblichem Freihandel basierenden Weltmarkt und die dem durchschnittlichen Wähler großzügig attestierte Weltoffenheit. Die „Abschottung“ hingegen steht für protektionistische nationale Märkte und zugleich rückwärtsgewandte Engstirnigkeit bis hin zum Nationalismus. Doch selbst in ernsthaften wissenschaftlichen Abhandlungen hat sich diese simple Entgegensetzung etabliert. So unterscheidet z.B. Jürgen Bolten einen „offenen“ von einem „geschlossenen“ Kulturbegriff, wobei „offen“ die Hybridisierung der Lebensstile, Patchwork-Identitäten sowie métissage meint und „geschlossen“ auf Homogenisierung, Essentialismus sowie Kulturalismus bzw. Rassismus bezogen sind (Bolten, 2009). In allen Fällen werden soziologische Kategorien genutzt und dem Hörer oder Leser damit implizit eine distanzierte Perspektive wie selbstverständlich nahegelegt, die die unwillkürliche Lebenserfahrung (nach Hermann Schmitz, 2010: SS. 9; 16; 21 f., 74; 86; 146; 206; 218; 235; 275) schient und weite Bereiche ausschließt.

    Daran anschließend hat der Terminus „Integration“ im Zusammenhang mit der aktuellen Migration seinen bald soziologisch, bald politisch schillernden Platz in der öffentlichen Debatte gefunden. Ursprünglich ein Begriff aus der Mengenlehre arbeitet heute die Soziologie damit, um gesellschaftliche Prozesse abzubilden und ihre Gesetzmäßigkeiten zu erfassen. Dabei werden die Individuen als isolierbare und zu Mengen kombinierbare Elemente aufgefasst. Je nach der Zuschreibung von Eigenschaften können diese Individuen unterschiedlichen Gattungen (oder Mengen) angehören, z.B. als Bewohnerin einer Stadt, als Ehefrau und Mutter, als Managerin und katholische Christin usw. Diese Zuschreibungen erhalten aber erst über das affektive Betroffensein ihre subjektive Bedeutsamkeit, d.h. durch die Einbettung der persönlichen Situation in „gemeinsame Situationen“ (Schmitz, 2005: SS. 18-32). Sonst wüsste die betreffende Person gar nicht, dass es sich um sie und nicht eine andere handelt, die dieselben Attribute hat. GemeinsameSituationen können implantierend sein, d.h. der Einzelne ist mit ihr gleichsam so verwachsen, dass er sich nur unter Schmerzen und bleibenden Narben daraus lösen kann; oder aber sie können includierend sein, d.h. der Einzelne ist in eine gemeinsame Situation eingebunden, aber in der Lage, sich daraus zu lösen, ohne nachhaltige Verletzungen davon zu tragen. Schließlich kann der Bezug auf soziale Rollen auch rein von Interessen geleitet sein wie in einem Verein, so dass es keine gemeinsame Situation, sondern eine beliebig veränderbare Konstellation ohne affektive Bedeutsamkeit vorliegt. Die Abschleifung der persönlichen Situation auf ein Element in einer Menge vernachlässigt insbesondere die Einbettung in implantierende gemeinsame Situationen, insofern alle Beziehungen der Individuen untereinander in einzelne Regeln verflüssigt werden und die nie vollständig explizierbare „ganzheitlich-binnendiffuse Bedeutsamkeit“ (Schmitz, 2005: S. 27) unbeachtet bleibt.

    Einerseits ist also der Begriff „Integration“ zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen der persönlichen Situation und gemeinsamen Situationen unterkomplex, andererseits ist der Begriff aber durch die Verwendung in der politischen Öffentlichkeit moralisch aufgeladen und geradezu zum Inbegriff der Bürger- oder Christenpflicht stilisiert worden. Der Erklärungswert des Terminus für soziale Organisationen, etwa die Unterscheidung des Personals einer Familie von anderen, nicht zur Familie gehörigen Personen, wird damit verschüttet. Integration ist im gesellschaftlichen Diskurs grundsätzlich positiv konnotiert, so als sei die Integration von außen stehenden Personen in eine Familie grundsätzlich anzustreben.

    Dieser unscharfen, den Sachverhalt verdrehenden Redeweise bedient sich Habermas. Deshalb stellen die „starken nationalen Kulturen“ den mehrschichtig negativen Pol dar, der aufgelockert, poröser, sensibler, in Schwingung gebracht und aufnahmefähiger gemacht werden muss. Die plakative Gegenüberstellung eines erstrebenswerten und eines verabscheuungswürdigen Zustandes lässt gar nicht die Frage aufkommen, ob die empfohlenen Eingriffe in die nationalen Kulturen einen Preis haben. Dieser Oberflächlichkeit der Betrachtungsweise entsprechend werden Erkenntnisse zur Migrationsforschung ausgeblendet. Von einem Soziologen wäre aber zu erwarten gewesen, dass er bei einer Erörterung der Integration die Frage der Passung der „Sozialmodelle“ (Collier, 2017: SS. 259-289) berücksichtigt hätte. Denn es ist keineswegs evident, dass „eine transnationale Erweiterung der staatsbürgerlichen Solidarität quer durch Europa“ gerade durch eine ethnisch, religiös und hinsichtlich des Sozialmodells zum großen Teil radikal verschiedene Zuwanderung erreicht werden kann. Das soziologische Integrationsverständnis kann bestenfalls schwache Rollenzuschreibungen versprechen, nicht aber die für die anvisierte gesamteuropäische Solidarität notwendige erhebliche - bislang utopische - Bindekraft. Habermas erläutert nicht, inwiefern Europa als politisch-kultureller Raum und ggf. als Basis für den von ihm vertretenen Verfassungspatriotismus überhaupt allen Betroffenen bekannt ist, bekannt gemacht und intendiert werden könnte. Während von der ansässigen Bevölkerung Einfühlung verlangt wird, bleibt offen, welche Einstellungen und Haltungen seitens der aufnehmenden Kultur von den Zuwandernderungswilligen als wünschenswert bzw. unerlässlich erachtet werden.

    Entsprechend dem soziologischen Integrationsverständnis erwartet der Kosmopolitismus nicht, die Zuwanderer an den implantierenden gemeinsamen Situationen des Gastlandes teilhaben zu lassen. Nach der oben erläuterten Entgegensetzung politisch nutzbarer Begriffe gehört auch der Begriff „Assimilation“ zu den negativ besetzten Termini, weil damit angeblich das Menschrecht der Zuwanderer auf Selbstbestimmung verletzt werde. Diese Perspektive verdreht den Sachverhalt. Zunächst bezeichnet lat. similitudo die Ähnlichkeit, Assimilation müsste also als „Ähnlichwerden“, nicht als Angleichung verstanden werden. Außerdem kann bei der Bestimmung einer geordneten Zuwanderung nicht von einer unkontrollierten Migration wie seit 2010 ausgegangen werden. Deshalb hat eine verantwortliche Zuwanderungspolitik in erster Linie Zuwanderer zu berücksichtigen, bei denen der Wunsch nach „Ähnlichwerden“ vorhanden und plausibel ist. Ohne diese Annäherung bliebe es bei gegenseitiger Fremdheit.

    Ausgehend von einem Einwachsen in die Sprache des Gastlandes eröffnet sich ein breiter Spielraum für persönliche Entwürfe, insofern sich die Kultur des Gastlandes von Fall zu Fall durch das Einwachsen in includierende bzw. implantierende gemeinsame Situationen in subjektiver Resonanz und je nach sozialer Schicht, Persönlichkeit und intellektuellem Anspruch erschließt. Statt von einer Leitkultur sollte von einer Referenzkultur gesprochen werden, weil es sich nicht – wie von manchen Politikern unterstellt – um eine Konstellation handelt, die in eine endliche Reihe zählbarer Elemente zerlegt werden könnte, sondern um eine verschachtelte, charakteristische, vielsagende und binnendiffuse Situation (Schmitz). Deshalb können weder Kompetenzstufen noch eine bestimmte Progression vorgegeben werden. Bei gelingender Begegnung verändert sich das Gastland unvorhersehbar. Somit ist es legitim, von Zuwanderern auszugehen, die das Gastland von vornherein als für die persönliche und soziale Entwicklung attraktiv, vielversprechend und affektiv bereichernd betrachten.

    Kontraproduktiv für das gegenseitige Verständnis ist hingegen eine bloße Tolerierung, die es den Zuwanderern erlauben würde, die eigenen Kulturen der Kultur des Aufnahme gewährenden Landes vorzuziehen. Genau dies scheint Habermas vorzuschweben, dem es in erster Linie um die Lockerung der intensiven Bindungen (implantierende gemeinsame Situationen) der europäischen Völker geht. Das „Ähnlichwerden“ wird von Vertretern des Kosmopolitismus letztlich also deshalb abgelehnt, weil sie keine Stärkung, sondern eine Schwächung der „starken nationalen Kulturen“ (Habermas) beabsichtigen. Wie schwer wiegend willkürliche staatliche Umsiedlungen sogar von Menschen, die dieselbe Sprache sprechen, sein können, zeigt das Beispiel der stalinistischen Umsiedlungen in Rumänien unter Ceauşescu. Die Eigenständigkeit und der Wunsch nach Selbstbestimmung bestimmter Regionen wie z.B. des Banats sollten geschwächt werden (Neumann, 2014).

    Dieser Argumentation wird von kosmopolitischer Seite mit dem Hinweis widersprochen: Statt um das „Ähnlichwerden“ mit einem historisch gewachsenen Kollektiv gehe es in Zeiten der Globalisierung um die Schaffung einer politischen europäischen Identität (Meier, 2004). Die nationalen demoi müssten so umgestaltet werden, dass für die ansässigen Bürger wie für die Zugewanderten vielfältige Möglichkeiten demokratischer Partizipation vorliegen, die die Bildung eines ideellen, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa vorauszusetzenden Zusammenhalts erlauben. Das von liberalen Vertretern des Parlamentarismus verfochtene Modell der repräsentativen Demokratie sieht sich hier der besonderen Herausforderung gegenüber, Menschen aus anderen, häufig kollektivistisch und/oder von der unbegrenzten Allmacht Gottes geprägten Kulturen für das Ideal des Individualismus der frei sich entfaltenden Persönlichkeit zu gewinnen. Für Deutschland bietet sich hier ein wenig ermutigendes Bild.

     

    1. Demokratische Mitwirkung?

    Obwohl Deutschland seit Jahrzehnten ein Zuwanderungsland ist, verfügt die BRD nicht über ein öffentlich beratenes, den Bedürfnissen des Landes angepasstes, einheitliches Zuwanderungsgesetz, wie es z.B. Kanada oder Australien haben. Stattdessen herrscht eine von Rechtsbrüchen und Ad hoc-Entscheidungen geprägte Regierungspraxis, die alle großen Interessengruppen für ihre Zwecke einspannt und die Bevölkerung mit einem Gemisch aus utilitaristischen und karitativen Argumenten für sich zu gewinnen sucht.

    Deutschland dürfte außerdem der einzige europäische Staat sein, dessen Verfassung nie von den Bürgern in einer gleichen, geheimen und direkten Abstimmung gebilligt worden ist. Das Grundgesetz (GG) ist 1949 unter der Aufsicht der Westalliierten formuliert und von den Landtagen der neu geschaffenen Bundesländer (außer von Bayern) in Kraft gesetzt worden, also unter Bedingungen des Besatzungsstatuts.

    Die zentrale Bedeutung, die im GG den politischen Parteien für die politische Willensbildung eingeräumt wurde, hatte die Funktion, den direkten Einfluss des als demokratisch noch ungefestigt geltenden Volkes zu kanalisieren und zu filtern. Diese Sorge spiegelt auch das Wahlrecht wider, eine für den Durchschnittsbürger kaum durchschaubare Mischung von Persönlichkeits- und Mehrheitswahlrecht, die die obskure Konstruktion von Überhangmandaten notwendig macht. Im Ergebnis führt dies dazu, dass der Bürger auf unvorhersehbare Koalitionsregierungen verwiesen wird, also der Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin kein eindeutiges Mandat erhält und dafür gerade stehen muss.

    Weiterhin ist der österreichische Weg verbaut, dass zumindest der Bundespräsident direkt vom Volk gewählt wird. Auf die Frage, warum dies nicht auch in Deutschland eingeführt werden könne, erhält man von den politischen Parteien unisono die Antwort, dass die Mütter und Väter des GG im Hinblick auf die Herrschaft des Nationalsozialismus dies so festgelegt hätten. Auf die Rückfrage, wie lange den Bürgern diese Geschichte noch erzählt werden solle, erhält man keine Antwort. Dogmatisch wird der status quo aufrechterhalten: Anstatt den Bundespräsidenten vom Volk wählen zu lassen, wird das pseudo-demokratische Schauspiel der Bundesversammlung aufgeführt, in die Bundes- und Landesparlamente proportional zur Gewichtung der Parteien Wahlmänner und –frauen entsandt werden, flankiert von ebenfalls nach diesem Proporz eingeladene „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“(Wahl des Bundespräsidenten, 2017). Das Amt des Bundespräsidenten wird damit der Lächerlichkeit preisgegeben.

    Bis 1990 war die damalige Bundesrepublik kein Nationalstaat mit einem demos, da die Teilung dies verhinderte. Gleichwohl war im GG die Vereinigung stets vorgesehen. Doch nicht allein die Dauer der Teilung, sondern auch der von der politischen Klasse verbreitete Schuldkomplex wegen der Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus führte zur Leugnung einer nationalen Identität und blockierte jeden Versuch, diese zurückzuerlangen. Die Wiedervereinigung von 1990 wäre ein geeigneter Zeitpunkt gewesen, um diese abnorme Lage zu beheben, doch die im Ausland geäußerte Sorge über die zukünftige deutsche Wirtschaftsmacht führte zu einer zweiten nationalen Selbstverleugnung qua Europäisierung der Währung. Die demokratische Selbstbestimmung des demos, während des Kalten Krieges eines der stärksten Argumente gegenüber der kommunistischen Unterdrückung, passte nicht zu den politischen Interessen: Statt die Vereinigung mit Ostdeutschland gem. Art. 146 GG in einer Abstimmung der Bürger zu bestätigen, wurde ein Beitritt gem. Art. 23 GG arrangiert, als ob es sich um einen Fall wie beim Saarland handele. Die „friedliche Revolution“ war von den ostdeutschen Bürgern getragen worden, doch die Wiedervereinigung fand ohne die Mitwirkung der Bürger statt.

    Inzwischen ist nachgewiesen worden, dass die Verknüpfung der nationalen Frage mit der vorgeblichen Alternative von Krieg oder Frieden in Europa der Verschleierung diente, dass die Westalliierten weiterhin ihre Sonderrechte nach dem Besatzungsstatut behalten sollten (Foschepoth, 22013). Deshalb ist der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland kein Friedensvertrag und Deutschland auch heute kein im traditionellen Sinn souveräner Staat. Das Hauptinteresse der deutschen Politik lag darin, mit dem „Zwei-plus-vier-Vertrag“ weitere Reparationszahlungen auszuschließen. Erst mit dem Aufbrechen der Frage nach der ungeklärten Finalität der EU wurde auch die „neue deutsche Frage“ virulent.

    Angesichts der unterschiedlichen Blockaden demokratischer Partizipation könnte man Deutschland mit einem Druckkochtopf vergleichen, der über ein einziges Sicherheitsventil, die politischen Parteien, verfügt. Aber seit die sog. Volksparteien nicht mehr in der Lage sind, dem Bürger eine politische Alternative anzubieten und die politischen Geschäfte von mächtigen Interessengruppen bestimmt werden, steigt der Binnendruck, der u.a. zum Entstehen der Alternative für Deutschland (AfD) geführt hat. Bereits seit mehr als 20 Jahren hatte der anerkannte Verwaltungsjurist Hans-Hermann von Arnim mit zahlreichen Veröffentlichungen darauf hingewiesen, dass die politischen Parteien durch ihre Selbstbezogenheit das Volk vergessen hätten. Bezeichnenderweise trägt eines seiner Bücher den Titel „Volksparteien ohne Volk“ (von Arnim, 2009).

    Doch einflussreiche deutsche Intellektuelle hatten die nationale Demokratie zugunsten eines transnationalen Europa abgeschrieben. Metaphorisch gesprochen beabsichtigen sie, den wachsenden Druck im Druckkochtopf nicht über eine größere Durchlässigkeit des Ventils zu reduzieren, d.h. über mehr Transparenz der Arbeit der politischen Parteien bzw. über eine verfassungsmäßige Anpassung an die veränderten Realitäten, sondern durch die Überführung in den größeren „europäischen Druckbehälter“ zu neutralisieren. Denn auf diesem Weg glauben die EU-Eliten, die nationalen Traditionen und Kulturen als affektiv aufgeladene, eigenwillige Entitäten überwinden zu können. Auf diese Weise würde der Druck der blockierten politischen Willensbildung über unzählige, sich verzweigende Wege gleichsam verdampfen und einer in ständiger Veränderung befindlichen Gemengelage Platz machen. Die vielfältigen transnationalen, transkulturellen und internationalen Bindungen, die ohne Zweifel eine große Bereicherung des gesellschaftlichen Lebens darstellen, können aber keinen Ersatz für eine verlässliche europaweite politische Willensbildung sein, weil die freie Wahl der von den Individuen geknüpften oder auch nicht geknüpften Bindungen völlig gleich-gültig, also auch gleichgültig ist. In der politischen Praxis werden diese schwachen Bindungen keinen angemessenen Ersatz für eine nationale Willensbildung sein.

    Dass damit aber auch in normativer Hinsicht das traditionelle demokratische Recht eines demos auf Selbstbestimmung verdampfen würde, hat der Verfassungsrechtler Dieter Grimm warnend herausgestellt (Grimm, 2016). Im Widerspruch zu einer sich vom Volkswillen endgültig abkoppelnden EU-Elite hat er vorgeschlagen, die als Verfassungsrecht behandelten EU-Verträge zu „repolitisieren“, d.h. diejenigen Bestandteile herauszulösen und nach erfolgter politischer Debatte ggf. abzuändern, die nicht in eine Verfassung gehören (Grimm, 2016: SS. 27; 45). Doch die andauernde Krise der politischen Parteien nicht nur in Deutschland ist nicht dazu angetan, dass diese Repolitisierung durch einen einstimmigen Beschluss der EU-Mitglieder in absehbarer Zeit in die Tat umgesetzt wird. Die Entwicklung in Italien, Frankreich und Deutschland nach den letzten nationalen Wahlen bietet kaum Aussicht darauf, dass das Sicherheitsventil der politischen Parteien in kurzer Zeit wieder funktionstüchtig sein wird. Die von Wolfgang Streeck so genannte „vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ (Streeck, 22016) und das daraus resultierende politische Lavieren begünstigt stattdessen die Erzeugung kollektiver Atmosphären, die die Krise verhüllen, z.B. die Atmosphäre kollektiver mauvaise foi (Müller-Pelzer, 2018 a; 2018 b). Der Plan, nun doch ein Zuwanderungsgesetz zu verabschieden, wird ein weiterer Prüfstein dafür werden, ob es eine breite Debatte mit den Bürgerinnen und Bürgern geben oder ob die Verabschiedung über ihre Köpfe hinweg erfolgen wird.

    Für das Ziel, durch eine verbesserte demokratische Partizipation der ansässigen Bevölkerung günstige Voraussetzungen für eine Einbeziehung der Zuwanderer am demokratischen Leben in Deutschland zu schaffen, sind die Aussichten also schlecht. Da aber selbst entfaltete politische Partizipationsmöglichkeiten ohne affektive Betroffenheit in Beliebigkeit münden, erledigt sich dieser Vorschlag.

     

    1. Kann der Patriotismus einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen sozialem Autismus und sozialer Zwangsjacke weisen?

    Dem rationalistischen Vertragsdenken (Demokrit, Plato) war schon schon in der Antike seitens der organizistischen Auffassung der sozialen Welt (Aristoteles) widersprochen worden (Schmitz, 1999: S. 28), weil der allein an der Willkür anderer sich begrenzende Individualismus zum sozialen Autismus führen würde. Diesem Modell wurde die Leitidee entgegengesetzt, wonach das politische Gemeinwesen in Analogie zum menschlichen Körper aufgefasst wird. Die unabänderliche Abhängigkeit der einzelnen Glieder voneinander steht für die gespürte unverbrüchliche Solidarität der Bürger untereinander, wird aber bis an die Schwelle zur Neuzeit auch zur Stütze einer ständisch organisierten Gesellschaft, in der jedem Menschen sein Platz zugewiesen wird. Ein eigener Weg zwischen dem sozialen Autismus des Liberalismus und der Zwangsjacke des organizistischen Modells wird in der zivilrepublikanischen Tradition gesucht, die heute vom Kommunitarismus fortgeführt wird. Es stellt sich deshalb die Frage, ob im Rahmen der Forderung nach einer Erziehung zu republikanischen Tugenden auch der Patriotismus geeignet ist, die Freiheit der Bürger im öffentlichen Raum erfahrbar zu machen.

    Die historischen Beispiele einer Instrumentalisierung des Patriotismus für politische Zwecke (Rom, italienische Stadtstaaten, Nationalismus, Nationalsozialismus) sind für manche ein hinreichender Grund, um dem Patriotismus eine größere Neigung zu Intoleranz und politischer Blindheit zu unterstellen als anderen politischen Überzeugungen. Der Vorschlag, den Patriotismus durch die Bindung an das universelle Ideal der Freien und Gleichen zu schienen, z.B. durch den sog. Verfassungspatriotismus (Habermas, 1992; Nussbaum, 2006; Kallhoff, 2013: SS. 153-157), versucht, den Republikanismus und den Rationalismus zusammen zu zwingen. Auf diesen Intellektualismus hatte Charles Taylor mit der These vom „pluralistischen Patriotismus“ geantwortet, der in demokratischen Gesellschaften die Loyalität der Bürger gegenüber dem Staat stärken und der gegen die Auflösung innergesellschaftlicher Bindungen (Partizipation, Solidarität) unter dem Einfluss der Globalisierung in Stellung gebracht werden soll (Taylor, 2002). Auch die bereits von Rousseau erfolglos geforderte Idee der Zivilreligion wird reaktiviert, obgleich keine Instanz in Sicht ist, die eine orientierende Richtlinie ausgeben könnte.

    Diese nicht zu schlichtende Spannung zwischen dem universellen Prinzip der Menschenwürde (nebst daraus folgenden Pflichten) und den Ansprüchen der eigenen politischen Gemeinschaft führt in der Literatur u.a. zu folgender Verlegenheitslösung: „Ein Patriotismus ist dann respektabel, wenn er zugunsten moralischer Aufgaben im Angesicht einer vielstaatlichen Welt der Verwirklichung des Weltbürgertums dient.“ (Kallhoff, 2013: S. 167) Es bleibt dabei offen, wie die Schwierigkeit überwunden werden soll, von Fall zu Fall ein kosmopolitisches Gemeinwohl bestimmen zu müssen, das in das Handeln des Einzelnen einfließen und das rechte Maß für die Berücksichtigung des Eigenen darstellen soll.

    Der Begriff der implantierenden gemeinsamen Situationen ist eingeführt worden, weil sich die Unstimmigkeiten, die sich bei den erwähnten Modellen ergeben, nicht durch ein Laborieren an den Schwachstellen beheben lassen. Schmitz hat plausibel gemacht, dass eine grundlegende Revision des tradierten philosophischen Paradigmas notwendig war, weil es u.a. stillschweigend das Axiom des personal emanzipierten Individuums voraussetzt. Große Bereiche der leiblich bestimmten präreflexiven Lebenserfahrung fallen so durch das Raster der an prognostischem Wissen interessierten Sozialwissenschaften. Leibliches Spüren als leibliche Resonanz und Repulsion, leibliche Kommunikation, leiblicher Raum und Gefühle als Atmosphären konstituieren das subjektive In-der Welt-sein und bilden die permanente Referenz für die personale Emanzipation.

    Hinter der sozialwissenschaftlichen Modellierung des Individuums als kombinierbares Element sozialer Verbände steht die philosophische Tradition des Nominalismus, die sich die Welt als Menge von Einzelheiten zurechtlegt, die zu Konstellationen verbunden und diese wiederum zu einem umfassenden Netz der Weltbeherrschung ausgebaut werden können. Darüber – so lautet die Kritik von Hermann Schmitz – ist „die Situation als grundlegende[r] Gegenstandstypus“ (Schmitz, 1999, S. 29) übersehen bzw. verdrängt worden. Damit bezeichnet er die „natürlichen Einheiten der Wahrnehmung“ (Schmitz, 1999: S. 21), die gekennzeichnet sind durch Ganzheit, Bedeutsamkeit und Binnendiffusion. Letztere besagt, dass die abgehobenen und vieldeutigen Eindrücke, die dem Menschen entgegenkommen, immer auch Anteile umfassen, die im vorreflexiven und nicht-thematischen Bereich verbleiben, d.h. überhaupt nicht oder eventuell noch nicht vereinzelt abhebbar und zählbar sind. Als Beispiel denke man an den prägnanten Ausdruck eines menschlichen Gesichts oder den ersten Eindruck, den das Betreten einer unbekannten Stadt hinterlässt. Hier kann man sich lediglich an die atmosphärische Bedeutsamkeit herantasten, diese aber nicht endgültig objektivieren.

    Analoges lässt sich von den gemeinsamen Situationen in der unwillkürlichen Lebenserfahrung mit anderen Menschen sagen. Das „Modell des Gesellschaftsvertrages [arrangiert] die Individuen zu einer durch Übereinkunft gestifteten Konstellation“ (Schmitz, 1999, S. 30) und vernachlässigt die ganzheitliche Eingebundenheit des Individuums in normative Lebenszusammenhänge, d.h. gewachsene gemeinsame Situationen mit einem programmatischen Gehalt (nomos) und einem Spielraum für mögliche Veränderungen. Der Erwerb der Muttersprache ist für Schmitz das Muster, um diesen Zusammenhang zu erläutern. Das Einwachsen in die Muttersprache schafft implantierende und auch nur includierende gemeinsame Situationen, die die Befolgung von Regeln ebenso einschließen wie die Möglichkeit zur Auseinandersetzung durch einen bestimmten Stil oder die Schaffung von Neologismen. Analog ist die Lage im politischen Leben. „Im Verhältnis zum Nomos kommt es darauf an, totale Emanzipation ebenso wie die Unselbständigkeit automatischer Gefolgschaft zu vermeiden; damit greift das griechische Wort als politisches Motiv die Chancen auf, die implantierende zuständliche Situationen der sozialen Bindung und Dynamik zugleich geben.“ (Schmitz, 1999: S. 31) Dies vernachlässigt zu haben, hat dazu geführt, dass die aktuelle philosophische Erörterung des Patriotismus unbefriedigend bleibt (Kallhoff, 2013: SS. 143-167), weil nach einer ausformulierbaren Doktrin gesucht worden ist.

    Mit der Einführung der Theorie der Situation besteht nun die Möglichkeit, ein besseres Verständnis der Einbettung des Individuums in die es umgebende Welt zu erreichen. Eine ausführliche Anwendung habe ich vor kurzem vorgelegt (Müller-Pelzer, 2016). Ich fasse zusammen, was im vorliegenden Zusammenhang von Belang ist. Am Beispiel des Chansons Douce France[1], Charles Trénets Liebeserklärung an sein Vaterland, habe ich das Chanson als Ausdruck einer Gefühlsatmosphäre charakterisiert, die angesichts einer als unbillig erfahrenen Lage in den 1940er Jahren zahlreiche Franzosen bei den Konzerten des Sängers bewegte. Die Verklärung der Heimat als heile Welt bildete einen deutlichen Kontrast zur deprimierenden Lage des ohnmächtigen französischen Staates. Die musikalische Rückbesinnung auf die Kindheit mit ihrer kollektiven Atmosphäre der tendre insouciance, die Gemeinschaftserlebnisse im dörflichen Idyll und die volkstümlichen Melodien beschworen einen gemeinschaftlichen Rückhalt herauf, der durch die militärische Niederlage, die Gleichschaltung der gesellschaftlichen Institutionen (Kirche, Justiz, Polizei, Vereine) und die Sorge um die ungewisse Zukunft erschüttert war. Allein das Wort douleur spricht explizit das aktuelle Leiden des Landes an, auf die der Sänger mit dem Bekenntnis seiner Treue zu Frankreich antwortet. Diese Heimatliebe, d.h. die in gemeinsamen Situationen verankerte Treue zur eigenen Sprache, zu Sitten, Konventionen und Lebensstil, kommt in dem Lied leichtfüßig daher und hat nichts Engstirniges. Sie vertrug sich seinerzeit mit unterschiedlichen Haltungen – vom widerstrebenden Sich-arrangieren mit den herrschenden Verhältnissen, dem moralischen Protest bis hin zur aktiven Unterstützung der Résistance.

    Die Anthropologie, die Schmitz vorgelegt hat, geht vom ambivalenten Pendeln der Person zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart aus, ausgerichtet an der Achse der leiblichen Engung und der leiblichen Weitung. Das personale Leben spielt sich ab zwischen einem spannungsvollen – bei heftigem Affiziertwerden durch Schreck oder Angst ggf. auch ruckartigem – Wechsel zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression. Auch die Bedrohung des gewohnten Lebens durch einen Aggressor führt zu einer personalen Regression mit der Gefahr, die individuelle Fassung und die Einbettung in eine implantierende gemeinsame Situation einzubüßen.

    Dies verhilft zu einem besseren Verständnis des bald beschworenen, bald gefürchteten patriotischen Aufschwungs. Die affektiv ergreifende Gefühlsatmosphäre, die Charles Trénet besungen hat, ist Teil einer implantierenden gemeinsamen Situation, deren subjektiv bedeutsame Räumlichkeit (village, clocher, maisons sages) und solidarische Einleibung (Où les enfants de mon âge / Ont partagé mon bonheur) nur so schonend expliziert wird, dass die Zuhörer die gemeinsame Situation aus eigenem Erleben beliebig ergänzen können und übereinstimmend als gemeinsame Erfahrung spüren: So ist unser Frankreich, und so soll es bleiben! Darin spiegelt sich ein Zug wider, den Schmitz bei der Definition des terminus technicus der Situation unterstrichen hat, nämlich die Binnendiffusion der integrierten Bedeutsamkeit von Sachverhalten, Programmen und Problemen (Schmitz, 2005: S. 22): Diese können nicht sämtlich expliziert werden, und sie brauchen auch nicht sämtlich expliziert zu werden, weil der ungekünstelte Umgang mit Situationen die ganzheitliche Erfassung in präreflexiver, vorthematischer leiblicher Kommunikation ist.

    Die Integrationsfähigkeit der Atmosphäre der Heimatliebe zeigt sich z.B. daran, dass es neben der Dorfidylle auch die ebenfalls affektiv geprägte städtische Räumlichkeit gibt, die z.B. mit boulevard, Métro, Seine, palais (im Fall von Paris) charakterisiert werden kann, so dass dasselbe Publikum mit demselben Recht sagen könnte: So ist unser Frankreich, und so soll es bleiben! Die Frage, was Frankreich denn nun wirklich sei, ist sinnlos, weil hier Frankreich aus zahlreichen Situationen abstrahiert zum Gattungsbegriff wird, der den beiden (und beliebig vielen) Fällen übergestülpt wird, um die unübersichtliche Fülle der unterschiedlichen Lebenswelten verfügbar zu machen.[2] Die Ausformulierung eines patriotischen Programms gerät auf diese Weise in die missliche Lage, nie vollständig sein zu können und zugleich das Wesentliche zu verfehlen, nämlich die diffuse und doch charakteristische gemeinsame Situation, in der Gefühlsatmosphären gleichsam aufgehängt sind.

    Dies erklärt, warum der Patriotismus, solange er sich als Empörung und Protest gegen ein manifestes Unrecht artikuliert (eine aktuelle impressive Situation nach Schmitz), die Befreiung von einer unerträglichen Zumutung anstrebt, sobald er aber selbst Staatsdoktrin, also auf ein Programm ohne Binnendiffusion reduziert wird, selbst als Einengung und Zumutung erfahren werden kann. Statt den subjektiven Ergänzungen der überwölbenden Atmosphäre Raum geben zu können, werden sie von jeweiligen politischen Interessen durch Inszenierungen und Rituale geschient. Der Nomos einer implantierenden gemeinsamen Situation kann nicht in ein vom subjektiven Spüren abstrahierendes Programm überführt werden. Ein Beispiel, dass eine solche Schienung auf vehemente Ablehnung stoßen kann, bietet ein Blick auf Trénets Zeit- und Berufsgenossen, den Chansonnier Georges Brassens, der ein Feind des Obrigkeitsstaates, kirchlicher, insbesondere katholischer Hierarchien, des Militarismus sowie der gesellschaftlichen Engstirnigkeit und Intoleranz gewesen ist. Brassens sieht die Welt aus der obliken Perspektive des Ausgegrenzten, der sich bald affektiv betroffen, bald sarkastisch distanziert verschmitzt und provokant bemerkbar macht. Ein bekanntes Chanson, das dies illustriert, ist La mauvaise réputation von 1952[3]. Darin wird das gesellschaftliche Klimas der aggressiven Intoleranz angeklagt, die alle Abweichler vom gesellschaftlichen Konformismus am liebsten aufgehängt sähe. Statt des idyllischen, interne Streitigkeiten überdeckenden Frankreich-Bildes, wie es Trénet angesichts der äußeren Bedrohung gezeichnet hatte, plädiert Brassens gegen kriegerische Rituale, kirchliche und gesellschaftliche Bevormundung und für einen anarchischen Individualismus. In seiner Zeit galt Brassens deshalb in der Perspektive des offiziellen Frankreich als unpatriotisch.

    Brassens selbst sah sich hingegen als Sprachrohr des einfachen Volkes, das vom offiziellen Frankreich zu häufig gering geschätzt und vergessen worden war. Gegenüber einer Kaste von Ideologen und ihrer unbarmherzigen Gefolgsleute versuchte er, im beständigen Austausch mit der französischen Literatur und durch liebevolles, gewitztes „Kneten“ der französischen Sprache, den unterschiedlichen Seiten des einfachen Lebens, den Lasten und den Freuden Ausdruck zu verleihen. In seinem Chanson Les copains d’abord [4] gelingt es ihm, den unheroischen, solidarischen Zusammenhalt unter Genossen eines Segelschiffes einzufangen. Mit Schmitz könnte man von einer implantierenden gemeinsamen Situation sprechen, in der eine Atmosphäre der Freundschaft dank wechselseitiger solidarischer Einleibung herrscht (Schmitz, 2005: SS. 126-137). Insgesamt verbinden sich bei Brassens politischer Skeptizismus und Epikureismus. Ohne jegliches Ressentiment gegenüber anderen Völkern steht Brassens für die Liebe zu einem Frankreich des einfachen Lebens ohne Allüren, - unbrauchbar für die Instrumentalisierung durch einen politischen Patriotismus.

    Als Ergebnis ist festzuhalten, dass der Patriotismus verstanden als politische Doktrin auf dem Fehler des konstruierenden Konstellationismus beruht (Schmitz, 1999: S. 224). Gleichwohl weist er mittelbar darauf hin, dass die affektive Implikation in implantierende und includierende gemeinsame Situationen des historisch-kulturellen Gewordenseins nicht aus der Selbstbesinnung und Selbstbestimmung in Europa verbannt werden kann. „Worin Menschen ganzheitlich zusammengehören“ (Schmitz, 1999: 391), wird – so kann im Vorgriff auf eine spätere Veröffentlichung gesagt werden – im Europa des 21. Jahrhunderts sich nicht über die Konkurrenz mit anderen affektiven national-kulturellen Prägungen erschließen, noch über die Einebnung dieser Prägungen durch einen ebenfalls konstellationistischen Kosmopolitismus. Aussichtsreich ist hingegen die Adoption einer europäischen Schwesterkultur. Den Weg dazu bahnt die qualifizierte Mehrsprachigkeit, d.h. im Einwachsen in eine „persönliche Adoptivsprache“ (Trabant, 2014, S. 34) als Angebot, in neue implantierende gemeinsame Situationen einzuwachsen. In dem Maße, wie die von Finanzinteressen gesteuerte wirtschaftliche Globalisierung die Abschleifung der kulturellen Eigenständigkeit der Völker betreibt, schließt die Förderung widerständiger implantierender gemeinsamer Situationen auch das mögliche Entstehen patriotischer Gefühlsatmosphären ein.

     

    Bibliographie

    Arnim, Hans Herbert von (2009): Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik. München: C. Bertelsmann.

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    Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1976): Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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    [1] http://www.charles-trenet.net/chansons/doucefrance.html ; https://www.youtube.com/watch?v=6EbBbezVtUQ (10.04.2018)

    [2] Ich adaptiere hier ein Beispiel aus Hermann Schmitz (2010), S. 46.

    [3] https://www.paroles.net/georges-brassens/paroles-la-mauvaise-reputation (10.04.2018) https://www.songtexte.com/songtext/georges-brassens/les-copains-dabord-3d49d6b.html