Was verstehen wir unter Authentizität?
Authentisch nennen wir jemanden, der sich nicht verstellt, sondern sich so zeigt, wie er auch wirklich ist. Folglich würden wir Authentizität in Kunst so definieren: Kunst ist dann authentisch, wenn sie etwas zeigt, wie es wirklich ist. Mit Fiktion und Subjektivität versucht sie die Essenz von Dingen einzufangen und bietet uns einen Blick auf Teile der Realität, die uns durch reine Objektivität und Fakten verschlossen bliebe. Dieser Blick der Kunst kann sich auf unser Ich und damit auf unsere Gefühle, Sehnsüchte und Ängste richten. Er kann aber auch auf unsere Aussenwelt zielen, auf Dinge, die wir kennen oder nicht kennen.
Wenn wir Kunst als nicht-authentisch empfinden, sagen wir Dinge wie: „Nein, so fühlt es sich nicht an verliebt zu sein“ oder „Ich kaufe es dem Künstler nicht ab, dass Paris so eine wilde Stadt sein kann“. Voraussetzung, dass wir etwas als authentisch bezeichnen, ist sicherlich, dass es uns berührt. Aber wann sind wir überhaupt dazu verführt so etwas subjektives und fiktives wie Kunst als authentisch oder nicht-authentisch zu bewerten? Wie relevant ist die Frage nach Authentizität in der Kunst? An der Fotografie von Roger Ballen und der Musik von Die Antwoord wollen wir uns näher anschauen, wann die Frage nach Authentizität überhaupt aufkommt und wie diese Unsicherheit als ein Stilmittel eingesetzt werden kann.
Roger Ballen
Viele empfinden Roger Ballens Fotografie als düster und verstörend. Der 68-jährige Amerikaner, der seit seinem 20. Lebensjahr in Südafrika lebt, sagt, dass man in seinen Bildern sich selbst sieht. Man sieht, was man ist. Das, was man beim betrachten seiner Fotos als unangenehm empfindet, sind die düsteren und verstörenden Seiten des Ichs, die sich in Ballens Bildern in einem Tierkadaver oder einem zahnlosen Grinsen offenbaren. Didi Bozzini, Kunstkurator und Freund, sagt im Vorwort zu The Asylum of the Birds: „It is a gallery of magic mirrors, which reveal to the photographer - and with him, the viewer - the images of the self that the trapping of reality conceal“.
Im Asylum, einem improvisierten Zuhause für Menschen mit Behinderung, inszeniert und schiesst Roger Ballen seine Bilder, die sich aus Zeichnungen, Installationen, Menschen und lebendigen sowie toten Tiere zusammensetzen. Die Personen die Ballen fotografiert sind soziale Aussenseiter, die am Rande der Gesellschaft mit Isolation, Einsamkeit und der Willkür des Lebens kämpfen. Es sind Ballens Freunde, er begrüsst jeden beim Namen und mit einer Umarmung. Im Asylum wird er liebevoll Onkel Ballen genannt. In seinen Fotografien sind diese Menschen Akteure und keine Models. Sie bemalen Wände, die den Hintergrund der Bilder darstellen und helfen Ballen Tiere einzufangen und zu platzieren. Dadurch, dass jedes Bild bis ins letzte Detail durchgeplant und inszeniert ist, wirkt ein Fleck an der Wand wie ein abstraktes Gemälde und ein alter Kupferdraht auf dem Boden wie eine Skulptur. Bozzini sagt aber zu dieser Inszenierung: „Nevertheless, each of these photos conveys to the viewer a sense of absolute authenticity. One sees a room, not a studio; things, not props; people, not models; in action, not posed“.
Wenn die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen, erzeugt dies eine Spannung in uns. Das Reale verführt uns dazu das Fiktive vielleicht doch zu glauben, das Fiktive bringt uns dazu das Reale anzuzweifeln. Diese Spannung stösst uns zu einem ab, weil wir uns auf das Betrachtete nicht völlig einlassen können, da wir nicht wissen, ob wir vielleicht doch hinters Licht geführt werden, zum anderen nimmt sie uns unsere Berührungsängste, da über diesen Szenen, die in uns Angst und Unruhe hervorrufen, ein Schleier des Fiktiven liegt. Es kommt die Frage auf, ob z.B. ein Foto „authentisch“ ist oder nur ein Hirngespinst des Fotografen. Ballen selbst sagt, dass er diese Mischung aus echt und nicht-echt und diese Spannung, die dabei entsteht, benutzt, um uns in unser Unterbewusstsein zu entführen und uns aufnahmebereit zu machen für Teile unseres Ichs, für die wir ansonsten nicht aufnahmefähig wären.
Die Antwoord
Als die südafrkianische Rap-Gruppe Die Antwoord ihr erstes Album veröffentlichten, auf dem sie auf Englisch und Afrikaans über Geld und Sex rappen, waren viele verwirrt, kannte man doch Ninja als Watkin Tudor Jones und Yolandi Visser als Anri du Toit, die gesellschaftskritische Songs wie „Be Kind to Animals“ schrieben - und eben nicht als Gangster. Es kam die Frage auf, ob das ganze Projekt überhaupt ernst gemeint ist, oder lediglich eine Parodie auf den US-amerikanischen Rap. Eine Antwort auf diese Frage gab es dann im zweiten Album mit „Fok Julle Naaiers“ (deutsch: „Fickt euch alle“) und einem Musikvideo, in welchem südafrikanische Gang-Mitglieder bedrohlich in die Kamera schauen. Ihre Vorderzähne fehlen ihnen: Diese haben sie sich als Aufnahmeritual ausgeschlagen, um zu zeigen wie hart und brutal sie sind. Das Musikvideo ist düster und bizarr, inspiriert von Roger Ballen, mit dem Die Antwoord immer wieder zusammenarbeiten. Ninja rappt im Song: „Next time you ask me ‚Is it real?‘ I’m gonna punch you in the face“. Die Antwoord ist eine Antwort auf den heutigen Rap, aber eine ernst gemeinte Antwort.
Doch wie wurden aus Anri und Watkin, Yolandi und Ninja? In einem Interview erzählen die beiden, dass sie mit diesen zwei Charakteren ursprünglich zeigen wollten, wie übertrieben und oberflächlich Rap ist. Bald aber merkten sie, dass Yolandi und Ninja mehr waren als nur Karikaturen oder Parodien. Sie fanden sich in diesen Figuren selbst wieder. Sie merkten, so erzählt Watkin, dass diese zwei Charaktere mehr sie selbst waren, als sie selbst es waren. Als Ninja und Yolandi konnten sie übertriebene Versionen ihrer Selbst spielen, Idealversionen oder Übermenschen, die sich echter und wahrer anfühlten, als sie selbst. Sie erzählen, dass sie bald selbst nicht mehr sagen konnten, wo Anri und Watkin aufhörten und Yolandi und Ninja anfingen. Durch diese verschwommenen Grenzen zwischen dem Realen und dem Fiktiven, dem Ist-Zustand des Ichs und dem, zu welchem das Ich erst noch wird, konnten die beiden über sich hinauswachsen und werden, wer sie (wirklich) sind. Erst durch diese Veränderung hatten sie als Musiker richtig Erfolg. So rappt Ninja: „Before it was like: yo, who is that stupid weirdo - Now it’s like: I’ts a new breed of rap superhero“.
Wenn sich Ninja also darüber aufregt, dass man ihn fragt, ob das Ganze echt ist, kann man das auf zwei Arten verstehen: Zum einen kann man echt als real verstehen, dann ist es aber ein falscher Anspruch, den man an Kunst hat (und zwar den Anspruch, das Kunst nicht-fiktiv ist). Zum anderen kann man echt als authentisch verstehen und in diesem Fall ist ihre Kunst auf jeden Fall echt. Denn trotz fiktiver und bizarrer Elemente ist die Musik ernst gemeint, vermittelt echte Gefühle und Anri und Watkin zeigen sich, als Teil ihrer Kunst, so wie sie auch wirklich sind, auch wenn diese Darstellung völlig übertrieben ist.
Konklusion
Roger Ballens Fotografie schafft es, uns einen Einblick in eine Welt zu geben, die uns sonst verschlossen bliebe und die uns auch kein Dokumentarfilm bieten könnte. Nämlich dadurch, dass die Menschen, die Ballen festhält und dokumentiert, eben auch Schaffende sind, die am Schaffungsprozess des Werkes beteiligt sind. Sie sind nicht Objekte in Ballens Bildern, sondern Akteure. Dieser vermittelt Authentizität. Auf einen ersten Blick vermittelt es aber vor allem eine Unsicherheit, mit der Ballen bewusst spielt. Auch Die Antwoord spielt mit unklaren Grenzen zwischen echt und nicht-echt und provoziert so eine Unsicherheit.
Sowohl bei Roger Ballen als auch bei Die Antwoord findet eine Auseinandersetzung mit dem Ich statt. Roger Ballen möchte unentdeckte Teile des Ichs erforschen und auch Die Antwoord möchte herausfinden wer man ist und wie man wird, was man ist. Auf diese Reise nehmen sie uns als Betrachter und Zuhörer mit. Obwohl wir bei näherer Auseinandersetzung mit Ballen und Die Antwoord sagen können, dass ihre Kunst authentisch ist (mithilfe eines groben Begriffs von Authentizität), bleibt beim Kontakt mit ihrer Kunst immer noch Unsicherheit. Diese Unsicherheit hilft uns dabei, uns nicht nur einfach in der Kunst zu sehen, sondern uns darin zu entdecken. Denn man sieht, was man ist. Oder um es mit den Worten von Didi Bozzini zu sagen: „These photographs render visible the yearned goal that is simply the definition of a man’s identity. A journey between self and self, passing through the world. With a camera around his neck to see what eyes cannot make out, to understand what ideas cannot explain“.
Weiterführende Literatur & Links
Ballen, Roger (2014): „Asylum of the Birds“, Thames & Hudson: London
Buch: www.rogerballen.com/asylum-of-the-birds
Kurzfilm: www.youtube.com/watch?v=Mv-E6S51VCo
Die Antwoord (2012): „Fok Julle Naaiers“ www.youtube.com/watch?v=L-wpS49KN00
„I Fink U Freeky“ www.youtube.com/watch?v=8Uee_mcxvrw
Jones, Watkin Tudor (2001): „Be kind to Animals“ www.youtube.com/watch?v=o2WuOqgl7j4