Ein Kleidenszyklus beginnt mit dem Anziehen. Nicht sich, sondern anziehen. Denn welche Outfits gewählt werden können liegt nicht nur bei uns, sondern wird auch bestimmt von den zur Verfügung stehenden Kleidern. Ist das weiße Top in der Wäsche, so kann die durchscheinende Bluse nicht zum Einsatz kommen. Ist die Hose tief geschnitten, so lässt sie sich nicht mit dem kurzen Pullover kombinieren, sondern benötigt einen längeren. Es ist also ebenso sehr der Mensch, der Outfits konzipiert, wie das einzelne Kleid bzw. die einzelne Kleid-Kleid Interaktion.
Ist ein Outfit einmal festgelegt, so wird es angezogen. Hosen werden hochgezogen, Pullover herunter, Jacken um uns herum. Vertauschen wir diese Aktionen, so funktioniert das Anziehen nicht. Das Kleid diktiert uns wie, auf welche Weise und in welche Richtungen, das Anziehen verläuft. Somit ist es nicht der Mensch, der sich anzieht, sondern das Anziehen ist ein gegenseitiges In-, Um- und Über-Sich-Ziehen von Mensch und Kleid.
Auch das Tragen wird nicht allein vom Menschen kontrolliert. Im Gegenteil, das Kleid erlaubt bestimmte Bewegungen und verhindert andere, wie etwa der unsere Schrittweite bestimmende Bleistiftrock. Das eine Kleid lässt die Bewegungen unseres Körpers gänzlich anders erscheinen als ein anderes Kleid. Winken wir jemandem in einem engen T-Shirt, so wirkt diese Bewegung viel weniger theatralisch als wenn sie in einem weiten T-Shirt stattfindet, dessen Ärmel dabei zeitverzögert mitschwingt. Und auch das Kleid bewegt sich selbst, ohne dass wir es kontrollieren können (z.B. lange Mäntel im schnellen Schritt) bzw. ganz ohne unser Dazutun, etwa wenn es vom Wind erfasst wird.
In Suma ist das Tragen ein Austausch von Erlebnissen. Das Kleid führt uns zu bestimmten Erfahrungen, und wir führen das Kleid aus, auf die Straße, unter Leute, und im besten Fall zu den Orten, für die es bestimmt ist (ein Abendkleid in die Oper, eine Lycra-Leggings in die Yoga-Session).
Ähnlich verhält es sich bei der Bestimmung des Zeitpunktes, an dem das Umkleiden stattfindet. Das Kleid bestimmt diesen in gleichem Maße wie der Mensch. Besser: Das Umziehen wird initiiert durch die vorangegangene Kleid-Mensch Interaktion des Tragens. Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, sind unser Empfinden im Kleid vom Kleid (ist es noch sauber?), aber auch unsere Gewohnheiten (wie häufig wird ein Kleid ausgetauscht, wird von Kleid zu Kleid gesprungen?), Konventionen und Vorhaben (mit und in bestimmten Kleidern). Wir ziehen uns um indem wir das Kleid wechseln, und nicht minder kleidet das Kleid uns um. Mit anderen Worten ist weder rein das Kleid noch der Mensch der das Umziehen bestimmende Faktor, sondern das Kleiden selbst wandelt sich um, von einer Manifestation in die nächste.
Zusammenfassend kleidet der Mensch das Kleid ebenso sehr wie das Kleid den Menschen kleidet, weshalb wir von nun an auf das Reflexivpronomen “sich“ beim Kleiden verzichten und das hier besprochene Phänomen als Mensch-Kleid Interaktion erachten wollen.
Das Kleiden ist von so großer Bedeutung, da wir uns nahezu immer in Mensch-Kleid Interaktionen befinden. Zwischen dem Umziehen und dem Anziehen liegen Pausen, die jedoch zumeist konkreten Zwecken dienen, wie etwa der Reinigung oder wenn wir einem anderen Menschen besonders nah sein wollen. Doch gerade um dem Anderen besonders nah zu kommen, greifen wir da nicht besonders gerne zum Kleid? Ist es nicht gar so, dass wir im Kleid besonders nackt sind? Und das wir erst durch das Kleid bzw. das Fehlen eines Kleides wirklich nackt sind? Sind wir also Wesen, die, phänomenologisch gesehen, nicht nur In-der-Welt, sondern Im-Kleid-In-der-Welt sind?
*„Kleid“ ist hier nicht gemeint wie etwa das Sommerkleid oder das Brautkleid, sondern wird im Sinne von dem Kleidungsstück oder gar der Klamotte verstanden.